Jeden Tag geht Rosa ganz normal zur Schule. Mitschüler:innen und Lehrer:innen bekommen nicht mit, dass das Mädchen anders denkt und anders lebt als ihre Altersgenoss:innen. „Kinder aus Sekten sind oft sehr unauffällig, sehr angepasst und sehr brav“, sagt die heute 25-Jährige. Jeden Abend und jeden Morgen macht sie die vorgegebenen Meditations- und Atemübungen. Ständig ist sie sich bewusst, dass sie von „dunklen Kräften“, den sogenannten Todsünden oder Egos, angegriffen wird. Sie muss aufpassen, darf keine Fehler machen. Die innere Arbeit und die spirituelle Entwicklung haben das Ziel, ein derartiges Niveau zu erreichen, dass sie den Weltuntergang – der für 2012 durch ein großes kosmisches Ereignis vom Guru prognostiziert wird – überlebt.
Die Welt steht bekannterweise noch. „Der Termin wurde dann einfach ein bisschen nach hinten verschoben. Und Stand der Dinge heute ist, dass es halt jederzeit passieren kann“, sagt Rosa zur WZ. Das hat der gnostisch-esoterischen Sekte, die sich um den Guru Ernesto Baron herum gebildet hat, aber keinen Abbruch getan. Die C.E.A. (Centro de Estudios des Autoconocimiento) ist vor allem in spanischsprachigen Ländern bekannt. In Europa und speziell Österreich kennt sie kaum jemand. Und das soll auch so sein. „Es war extrem wichtig, dass wir niemandem davon erzählen, dass wir in einer Sekte sind. Wenn wir zu einem Seminar gefahren sind, mussten wir immer Ausreden erfinden. Wir haben dann immer gesagt, wir fahren unsere Familie in Spanien besuchen“, sagt Rosa. Niemand wusste, dass der Teenager zweimal die Woche Kurse belegt oder dass sie die spanischen Bücher des Gurus ins Deutsche mitübersetzt. Die enge Gemeinschaft soll geheim bleiben. „Die meisten kommen über Familie und Freunde rein. Aber das ist sehr abhängig davon, was für einen Kurs die Sekte gerade fährt“, sagt Rosa. Teilweise wird plakatiert und mit Gratiskursen geworben, wie „Einführung in die Geheimnisse von Atlantis“, „Emotionale Intelligenz“ oder Meditation. „Sie haben sich immer als eine gemeinnützige Organisation vermarktet, die nicht auf Profit aus ist. Und dass man dann natürlich weiterführende Kurse bekommen kann“, erzählt Rosa über die Rekrutierungsstrategie.
Esoterik ist nach wie vor etwas, das boomt.
Martin Felinger, Psychologe
Sekten oder sektenähnliche Organisationen finden sich heute oftmals im esoterischen Bereich. „Esoterik ist nach wie vor etwas, das boomt“, sagt Martin Felinger zur WZ. Der Psychologe berät seit 25 Jahren Aussteiger:innen und Angehörige von Sektenmitgliedern. Das sehe man an den Wirtschaftszahlen, an den Links im Internet und den Angeboten. „Da gibt es einen sehr großen Markt, der nach wie vor sehr stark nachgefragt wird.“ Die Angebote finden sich heute selbstverständlich auch im Internet und in den Sozialen Medien. Da gelte es laut dem Experten, genau hinzuschauen. „Es ist eine andere Art der Kommunikation. Eine sehr schnelle, wo man sich sehr schnell öffnet, weil der unmittelbare Kontakt face-to-face nicht gegeben ist. Es ist scheinbar anonymisiert und man spricht rasch über persönliche und intime Dinge. Dementsprechend wird man auch verletzbar.“ Das nutzen sektenhafte Gruppierungen und verbinden das mit Versprechungen und Erwartungen. „Wenn ich dann höre, eigentlich liegt die Lösung meiner Probleme so nah, dann bin ich sehr rasch geneigt, weitere Schritte zu unternehmen, weil ich dieses schöne Ziel ja möglichst bald erreichen will.“
Die großen, bekannten Gruppen und Namen, die wir aus den diversen Medien kennen und unter dem Begriff „Sekten“ verstehen, stehen heute nicht mehr im Fokus. „Aber der Mechanismus, den wir damals schon beobachten konnten, ist nicht an ein Glaubens- oder Denksystem gebunden“, sagt Felinger. „Dass eine Person in ihrem Verhalten, in ihrem Denken, in ihrem Fühlen kontrolliert wird und scheinbar eine andere wird für die Außenwelt, können wir abkoppeln und in ganz anderen Bereichen sehen.“ Heute finden sich Klein- und Kleinstgruppen zu unterschiedlichen Themen zusammen. Ideologisch oder religiös, Lebenshilfe im Allgemeinen oder alternative Lebensformen. Den Mechanismus kann man auch in toxischen Zweierbeziehungen beobachten. „Abstrahiert kann man sagen, da ist einer in der Liebesbeziehung der Guru und der andere ist das einzige Sektenmitglied”, erklärt Felinger.
Ich lebte in der Vorstellung, dass jederzeit die Welt untergeht.
Rosa Götz, ehemaliges Sektenmitglied
Das Geld spielt bei Rosa dann aber doch eine große Rolle. Fast jedes Jahr publiziert der Guru ein Buch auf Spanisch. „Wir haben das übersetzt, unbezahlt natürlich.” Etwa alle zwei Jahre finden Seminare in allen möglichen Ländern der Welt statt. Dubai, Japan, Ägypten, China. „Das hat sehr viel gekostet. Wir haben eigentlich immer nur auf die Seminare hingespart”, sagt Rosa. Es gibt auch Mitgliederbeiträge für die Kurse zuhause. Zweimal die Woche, in einer fixen Gruppe. Jeder lässt die Hose runter über das eigene Leben, redet über persönliche Probleme. „Das formt eine sehr enge Gemeinschaft, weil man auch sehr intime Sachen von sich erzählt.“ Neben theoretischen Kursen und Vorträgen kommen immer mehr Videos zu Verschwörungstheorien hinzu, die angeschaut werden müssen.
„Ich habe in zwei Welten gelebt und gedacht“
„Ich habe in zwei Welten gelebt und gedacht“, sagt Rosa heute. Wenn die Schülerin ihre Kurse von der Sekte hatte, hat sie daran geglaubt, dass die Menschen von Außerirdischen auf die Erde gesetzt worden sind; wenn sie in der Schule war, hat sie die Evolutionstheorie gelernt und auch daran geglaubt. „Ich habe mich nicht wirklich damit auseinandergesetzt, wie man diese zwei Welten vereinbaren kann, aber es hat irgendwie funktioniert.“
Vor allem während der Corona-Pandemie nehmen die Verschwörungstheorien in der Sekte überhand. Zunächst bezeichnet der Guru die Pandemie als das Ereignis, das alle auslöschen wird, dann schwenkt er um auf „es gibt keine Viren, du musst nur an dir selbst arbeiten und dich gesund ernähren, denn mit einem höheren Niveau machen dir Krankheiten nichts aus“ und verbreitet die absurdesten Theorien. Dass Bill Gates den Menschen Chips einpflanzen will oder die Impfung tödlich sei, bis hin zu alles hänge mit 5G zusammen und alle werden an 5G sterben.
„Das war eine Regel, an die ich mich nicht halten wollte“
Die Corona-Pandemie ist auch einer der Faktoren, die zu Rosas Ausstieg führen. Es finden keine Gruppentreffen mehr statt, der Druck, täglich zu meditieren, nimmt ab. „Zu dem Zeitpunkt habe ich mich schon ein Jahr lang nicht mehr an viele Regeln der Sekte gehalten. Ich war aber noch komplett überzeugt von der Mission.“ Rosa ist nun 21 Jahre alt und erwachsen geworden. Sie zieht von zuhause aus und beginnt zu studieren. Letztlich ist es aber das Lehrerpaar, welches sie jahrelang anleitete, das sie zum Bruch mit der Sekte bewegt. Sie steigen aus und kommunizieren, dass sie nicht mehr der Meinung sind, dass das, was die Sekte vermittelt, die tatsächliche Wahrheit ist. „Das war ein großer Schock für mich“, erinnert sich Rosa. Die Sekte verbietet Kontakt zu Aussteiger:innen, außer Familienangehörigen. „Das war eine Regel, an die ich mich nicht halten wollte“, sagt Rosa. Sie nimmt Kontakt zu ihren ehemaligen Lehrern auf und ihr ist klar, dass sie gehen muss.
Aber so einfach gehen kann Rosa nicht. Sie wird vor den Koordinator der Sekte in Österreich zitiert. Ein mehrstündiges emotionales Tribunal findet statt, in dem ein Brief vom Guru persönlich verlesen wird, der ihr vorhält, wie schlimm ihr Verhalten war. „Das habe ich im Endeffekt nie ganz verstanden, weil die Ideologie der Sekte in erster Linie ist, dass man alle Menschen lieben soll. Und dann ist das auf einmal so schlimm, wenn man einfach nur mit jemandem telefoniert.“ In Folge muss Rosa alle Materialien und Bücher, die sie je gekauft hat, zurückgeben. Damit nichts davon an die Öffentlichkeit gelangt. Das Geld gibt es nicht retour.
Ich bin so frei wie noch nie in meinem Leben.
Rosa Götz, ehemaliges Sektenmitglied
Jahrelang wird Rosa vermittelt, dass der Guru und seine Frau unfehlbar sind. Göttliche Wesen, die immer Recht haben. In diesem letzten Gespräch wird Rosa klar, das sind keine Götter, sie muss nicht alles glauben, was die sagen. „Im Folgeschluss war dann auch klar: Wenn das keine Götter sind, dann kann ich alles, was von dieser Sekte kommt, hinterfragen.“
Für Rosa bricht eine Welt zusammen. Die andere außerhalb der Sekte steht aber noch. Die Uni und ihr Vater, der nicht in der Sekte ist, geben ihr Halt. „Für mich persönlich war es eine große Erleichterung. Graduell bin ich draufgekommen, dass ich so frei bin wie noch nie in meinem Leben. Dass ich alles machen kann und dass ich auch so etwas wie eine Zukunft habe. Ich lebte ja die ganze Zeit in der Vorstellung, dass jederzeit die Welt untergeht.“
Es ist so wie in einer Liebesbeziehung, die endet.
Martin Felinger, Psychologe
Den Ausstieg aus einer Sekte kann man sich etwa so vorstellen, wie wenn eine Liebesbeziehung endet, erklärt Felinger. „Von einem Tag auf den anderen bemerkt man, dass einen die/der Partner:in seit Jahren betrügt.“ Für die Person bricht eine Welt zusammen. „Ich erlebe, dass etwas, das ich nie für möglich gehalten habe, passiert.“ Je nachdem, wie tief man in solch einem System drinsteckt, verliert man seinen Glauben, seine sozialen Kontakte, eventuell Partner:in, Familie, Kinder, den Job oder gar die Wohnung. „Trotzdem glaube ich, dass es am Ende etwas Befreiendes ist, wo die psychische Gesundheit trotzdem extrem profitiert. Es ist ein selbstbestimmtes Leben möglich und vielfach gehen dann noch die einen oder anderen, die man liebgewonnen hat, mit hinaus“, weiß Felinger.
Bis heute begleitet Rosa ihre Jugend in der Sekte. Sich ständig selbst hinterfragen zu müssen, glauben, dass man nicht genug ist, dass man aufgrund der Todsünden oder Egos ein schlechter Mensch ist, sind Glaubenssätze, die sie bis heute aufarbeitet. Sie gründet eine Selbsthilfegruppe für Aussteiger:innen aus Sekten, Psychogruppen und religiösen Gemeinschaften in Wien. Viele Aussteiger:innen fallen in ein Loch. Ohne Kontakte fällt es schwer, wieder Anschluss an die normale Welt zu finden. „Auf der anderen Seite glaube ich, dass, wenn man einmal so eingeschränkt war in seiner Art zu denken, hat man das Gefühl, dass man seine Freiheit einfach viel mehr schätzen kann.“
Wer Rosa selbst zuhören möchte -> hier geht es zum Podcast mit ihr:
Auf einer anderen Plattform anhören:
Sekten und Verschwörungstheorien: Was können Freund:innen und Angehörige tun?
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Erstens: Keine Kritik äußern. Wenn ich die Vermutung habe, dass eine Person in so einem System steckt oder hineinrutscht, muss ich darauf achten, die Beziehungsebene aufrecht zu erhalten. Logik und Argumente sind gut, aber vielfach kann das die Beziehungsebene beeinträchtigen, wenn es im Streit endet. Die Person würde in Folge von der Gruppe noch stärker hineingezogen. Früher oder später kommt es dann zum Kontaktabbruch.
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Zweitens: Möglichst viel Information über die Gruppe, über das Denksystem und über die Praktiken in Erfahrung bringen und möglichst wertfrei stehen lassen. Die Information braucht es, um die Gruppe einschätzen zu können und um eine Strategie zu entwickeln, wie man weiter damit umgeht.
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Drittens: Zum eigenen Denken anregen. Also immer wieder Differenzen aufzeigen, aber nicht beantworten. Durchaus die betroffene Person mit Dingen konfrontieren, aber auf eine Art und Weise, in der ich das, was ich gehört habe, in Beziehung setze. Etwa „du hast mir erzählt, die Person lebt so zurückgezogen und so ärmlich und dann gibt sie da und da wahnsinnig viel Geld aus. Ich verstehe das nicht.“ Also nicht als Vorwurf formulieren, sondern fragen: „Verstehst du das?“ Das hilft dabei, dass die Person selbst beginnt, eine Antwort zu finden, indem sie darüber nachdenkt und reflektiert.
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Viertens: Wir müssen uns immer bewusst sein, wenn jemand an eine Verschwörungstheorie glaubt oder sich von einer Sekte angesprochen fühlt, hat das einen persönlichen Nutzen. Das muss nicht offensichtlich sein. Es kann sein, dass mit dieser Verschwörungstheorie eine eigene innere Angst gestillt wird, weshalb daran festgehalten wird. „Erst wenn die Person diesen Wirkungsprozess verstanden hat, kann sie beginnen, einen anderen Weg zu finden, etwa eine solche Angst zu stillen. Und dann ist es für diese Person auch leichter, sich von dieser Theorie zu distanzieren“, sagt der Psychologe Martin Felinger. Ganz wichtig: Es bringt nichts, selbst Beweise gegen eine Verschwörungstheorie zu suchen und zu präsentieren.
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Infos und Quellen
Gesprächspartner:innen
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Rosa Götz ist 25 Jahre alt und studiert Politikwissenschaften. Im Alter von zehn bis 21 Jahren war sie Mitglied der esoterischen Geheimsekte D.E.A. Sie gründete in Wien eine Selbsthilfegruppe für Aussteiger:innen aus Sekten, Psychogruppen und religiösen Gemeinschaften.
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Martin Felinger ist klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe. Seit 1999 arbeitet er als Geschäftsführer der Gesellschaft gegen Sekten- und Kultgefahren vor allem in der psychologischen Beratung und Behandlung von Aussteiger:innen aus destruktiven Kulten sowie in der Beratung von Angehörigen eines Mitgliedes einer Sekte.
Daten und Fakten
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Die Bundesstelle für Sektenfragen bietet sachliche Informationen und individuelle Beratung zum Themenbereich „sogenannte Sekten“ und Weltanschauungsfragen. Dazu gehören unter anderem alternative religiöse Bewegungen, Esoterik, spezifische Angebote zur Lebenshilfe, fundamentalistische Strömungen, Verschwörungstheorien, sozial-utopische Aussteigergruppen und Pyramiden- bzw. Schneeballsysteme. Bundesstelle für Sektenfragen Telefon: + 43-(0)1-513 04 60, [email protected],