Startseite TOP Bratislava ist 1945 nur knapp einer Katastrophe entgangen.

Bratislava ist 1945 nur knapp einer Katastrophe entgangen.

von Max

Bratislava sollte den Vormarsch der Roten Armee aufhalten – oder untergehen: Vor 80 Jahren, am 14. Dezember 1944, wurde die unter der Bezeichnung Preßburg bekannte Stadt von den Nazis zur uneinnehmbaren „Festung“ erklärt. Bereits zuvor waren von den Deutschen umfangreiche Verteidigungsmaßnahmen getroffen worden, deren Spuren bis heute sichtbar sind.

Drei Kampflinien sollten es der Roten Armee unmöglich machen, weiter vorzudringen. Es wurden an der Donau Minenfelder gelegt, Betonsperren errichtet, Schützen- und Panzergräben gebaut. An strategischen Punkten in der Stadt errichtete die deutsche Wehrmacht, die seit dem Sommer 1944 in der Slowakei war, Geschützstellungen mit Betonfundamenten, stellte Fliegerabwehrkanonen auf, ließ Gefechts- und Unterstände bauen. Panzerabwehrgeschütze wurden verankert, ebenso große Scheinwerfer, die die angreifenden Flieger bei Nacht erfassen sollten. „Drachenzähne“, aufragende Hindernisse aus Beton, sollten den Panzern der Roten Armee das Durchkommen verunmöglichen. Häuser wurden zu Armee-Stützpunkten umfunktioniert.

Die Verteidigungsanlagen wurden mit fanatischer Rücksichtslosigkeit und ohne Schonung von Menschenleben aus dem Boden gestampft. Die Leben von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, darunter rund 2.000 ungarische Juden, waren dabei völlig egal. Es zählte nur, dass der russische Vormarsch auf Wien gestoppt und Hitlers Drittes Reich gerettet wird. Dabei war der Krieg für Deutschland längst verloren.

Topografie des totalen Wahnsinns

Der slowakische Architekt Palo Skorvanek hat in den letzten Jahren mit anderen kriegsgeschichtlich Interessierten eine Landkarte erstellt, die den totalen Wahnsinn verdeutlicht: Auf einem detaillierten Plan von Bratislava, der der WZ vorliegt, sind alle Schützen- und Panzergräben, Geschützstellungen und Bunker verzeichnet, die ab 1944 errichtet wurden. Viele dieser Spuren sind verschwunden, wurden in den letzten Jahrzehnten abgerissen oder wichen dem Asphalt. Viele konnten von Skorvanek und seinen Kolleg:innen entdeckt werden, einige sind bis heute offen zugänglich.

Es bietet sich ein umfassendes Bild: Mehr als 200 im Boden verankerte Kriegsrelikte sind identifiziert. Zum Teil stammen sie bereits aus den 1930er-Jahren und wurden von der Tschechoslowakei gegen die Bedrohung durch Deutschland errichtet. Manche datieren noch aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Alle wurden 1944/45 in die von Hitler befohlene Festung integriert. Die Stadt hätte unter diesen Umständen wochenlang bis Kriegsende verteidigt werden können, zahllose Zivilist:innen wären ums Leben gekommen.

„Eggs Benedict“ am zugeschütteten Panzergraben

In Mlynske nivy, einem Stadtteil östlich des Zentrums, ragen heute die Glaswände moderner Bürokomplexe auf. Hier verlief 1945 ein tiefer Panzergraben. Dahinter lag der Winterhafen von Preßburg und die für die deutschen Militärs wichtige Raffinerie „Apollo“ der deutschen IG Farben, die im September 1944 von US-Bombern komplett zerstört worden war.

Da, wo der nach unten spitz zulaufende Graben einst war, ist heute ein unscheinbarer Parkplatz. Nichts erinnert mehr an das Panzerhindernis. Immerhin gemahnt die Namensgebung an die Vergangenheit: Denn unweit davon befindet sich der Sitz vieler Firmen, das topmoderne „Apollo Business Center“, benannt nach der ehemaligen Raffinerie. Wo einst vor allem zwangsverpflichtete Slowaken unter deutscher Bewachung Gräben für Hitlers Festungsprojekt schaufelten, werden heute in einer schicken „Coffee Roastery“ im Erdgeschoss „Eggs Benedict“ und „Philly Cheese Steak-Sandwiches“ serviert. Kaum eine:r der vielen Angestellten, die sich hier angeregt plaudernd zu einer Arbeitspause zusammenfinden, ahnt auch nur im Geringsten, dass der Nazi-Wahnwitz sich hier in kaum 50 Metern Entfernung einst tief in die Erde gefressen hat.

Spuren überall

Kriegsrelikte aus Beton finden sich vor allem in unverbautem Gebiet, in Vorgärten, in Grünstreifen an Straßen, in Parks und an Stellen, die der Wiener als „Gstettn“ bezeichnen würde. An einer Stelle im Stadtteil Petrzalka ist der ehemalige Verlauf eines Panzergrabens bis heute zu erkennen.

Am rechten Ufer der Donau, wo das damals zur Ostmark gehörende Dorf Engerau mit rund 3.000 Einwohnern lag, bauten die Deutschen ihre Stellungen aus, um den von Osten kommenden Sowjets ein Übersetzen der Donau unmöglich zu machen. Die Linien wurden im Unterholz mit Einmann-Betonbunkern für Maschinengewehr-Schützen, im deutschen Soldatenjargon „Heldenherzen“ genannt, verstärkt.

Ein „Heldenherz“ im Gestrüpp

Eines davon befindet sich jenseits des Endes der Mamateyova-Straße, tief im Auwald versteckt. Um das Relikt zu sehen, muss man heute am Lager eines Obdachlosen vorbei, der sich im Unterholz eine mit Planen überdachte Unterkunft geschaffen hat und sich im eiskalten Winter an einem Lagerfeuer wärmt. Ein kleiner Donau-Altarm ist zu umgehen, dann steht man vor einem in den Boden eingelassenen verwitterten Bunker. Die Nazis wollten nichts dem Zufall überlassen und machten sich offenbar auch in bereits damals urwaldähnlicher Umgebung zur Verteidigung bereit.

50.000 derartige Betonkugeln sollten auf Befehl von Rüstungsminister Albert Speer insgesamt hergestellt werden, 2.000 wurden tatsächlich hastig produziert.

Das Konzept, den Feind mit Gräben, Wällen und Festungen aufhalten zu wollen, stammt aus dem Ersten Weltkrieg und war 1945 komplett veraltet, wie die Historikerin Claudia Kuretsidis-Haider vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) gegenüber der WZ betont: „Es war eine NS-Verzweiflungstat.“ Das wusste niemand besser als die deutsche Heeresleitung. Es war eine Wahnvorstellung Hitlers, der mit Fortdauer des Kriegs zunehmend den Bezug zur Realität verlor und glaubte, ihn entlang propagandistisch-bombastisch inszenierter Verteidigungsstellungen „einfrieren“ zu können.

Die absurden, militärisch wertlosen Ideen wurden mit fanatischer Rücksichtslosigkeit in die Realität umgesetzt, die Errichtung der Verteidigungsanlagen forderte tausende Menschenleben. Beim Bau des Südostwalls, der von Hainburg über Bratislava quer durch Niederösterreich, das Burgenland und weiter Richtung Slowenien lief, kamen mehr als 30.000 Menschen um.

Einsatzgebiet der ungarischen jüdischen Zwangsarbeiter, die im deutschen Konzentrationslager Engerau auf verschiedene Unterkünfte aufgeteilt waren, war zwischen der damaligen ungarisch-slowakischen und deutschen Grenze und der Linie Hainburg-Berg-Kittsee. Im Dezember 1944 war es bitterkalt, viele der Häftlinge erlitten Erfrierungen. Fast alle waren krank und stark geschwächt. Es gab nur eine dünne Suppe aus oft verfaultem Gemüse als Verpflegung. Wer nicht mehr graben konnte, wurde erschossen.

Zu Tode geschunden

Heute erinnert eine Gedenktafel am Gasthaus Leberfinger an der Donau unweit der Hauptbrücke von Bratislava an die NS-Verbrechen. Dort waren in einer dem Gasthof angeschlossenen Scheune rund 200 Juden zusammengepfercht, am 29. März 1945 wurden mindestens 13 von ihnen von SA-Männern erschossen. Während die slowakischen Zwangsverpflichteten für ihre Arbeit einen Lohn von wöchentlich bis zu 200 Kronen erhielten, bessere Verpflegung und geregelte Arbeitszeiten hatten, wurden die jüdischen Häftlinge aus Ungarn gleich daneben zu Tode geschunden. „Es war ein perfides System der Ausbeutung“, so Kuretsidis-Haider. Die jüdischen Zwangsarbeiter mussten jeden Tag in Trupps von zwischen 80 und 100 Mann ausrücken und fünf bis sechs, manchmal auch elf Kilometer zu Fuß durch den Schnee zu ihrem Einsatzort gehen. Manche Engerauer:innen hatten Erbarmen und warfen den KZ-Häftlingen aus den Fenstern Brot zu; die Wiener SA-Wachen griffen daraufhin zur Waffe und schossen durch die geöffneten Fenster.

Wenige Wochen, bevor die Front Bratislava erreichte, war Hitlers Festung weitgehend fertig, 90 Prozent der Pläne wurden ausgeführt. Die Stellungen um die Stadt waren 98 Kilometer lang, es gab 30 Kilometer an Panzergräben, 23 Kilometer Drahthindernisse, 147 Kilometer Schützengräben waren ausgehoben, dazu hunderte Artilleriestellungen, Deckungen und Unterstände. Die tiefen Gräben der Festung Bratislava führten südlich an Engerau vorbei und mündeten in Berg in den Südostwall.

Zudem wurden überall in Bratislava im März 1945 an strategischen Gebäuden Sprengladungen angebracht. Die Russen sollten durch die Trümmer am Vorrücken gehindert werden und deutsche Verteidiger durch einen Wegfall der Bauten eine bessere Einsicht für das Ziel ihrer Geschütze bekommen.


© Illustration: WZ

Kein Endsieg-Fanatiker

Die Sowjets marschierten von Osten kommend aus drei Richtungen an, in den Vororten von Bratislava tobten heftige Kämpfe. Der Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner schreibt in seinem Buch „Der Krieg in Österreich 1945“, dass der „211. Deutschen Volks-Grenadierdivision“ ein „kurzer Abwehrerfolg“ gelungen sei. Dann die Überraschung: Am 3. April zogen die deutschen Soldaten unter dem Befehl des Stadtkommandanten, Oberst Conrad Freiherr von Ohlen, mehr oder weniger kampflos in Richtung Marchfeld ab. Die Einheiten feuerten nur, um die Rotarmisten auf Distanz zu halten und den Rückzug zu decken.

Als die Bewohner von Bratislava am 4. April aufwachten, staunten sie nicht schlecht, dass statt der verhassten Deutschen plötzlich Soldaten der Roten Armee in den Straßen patrouillierten. Die Sprengungen der zahlreichen strategischen Gebäude hatten nicht stattgefunden, genauso wenig wie die mörderischen Straßenkämpfe, wie sie zuvor in Budapest stattgefunden hatten. Die Geschäfte waren voller Waren, Strom, Wasser und Gas konnten wieder eingeschaltet werden.

Wieso das? Preßburg war doch zur Kampfmaschine hochgerüstet? Hier sollte doch der Anfang vom „Endsieg“ stattfinden?

Oberst von Ohlen und seine Leute machten Hitler einen Strich durch die Rechnung. Er und seine Leute wussten, dass die Rote Armee am 1. April wenige Kilometer nördlich die Orte Pezinok und Modra erobert hatten und den rund 400 Meter hohen Rücken der Kleinen Karpaten überwand. Sie wussten auch, dass die Front im Süden, in Ungarn, nicht hielt und sich die 46. Armee Engerau näherte. Somit war von Ohlen klar, dass Bratislava mit Mann und Maus eingekesselt werden würde. Möglicherweise hatte der Oberst das polnische Breslau (Wroclaw) vor Augen, das ebenfalls zur Festung erklärt worden war. Seit Ende Jänner 1945 wurde in der eingeschlossenen Stadt gekämpft. Ein Gebäude nach dem anderen sank in Schutt und Asche, zehntausende Zivilist:innen fanden den Tod.

Mahnmale warnen

Von Ohlen und seine Männer wollten nicht in einem längst verlorenen Krieg sterben. Also gingen sie nach Westen über die March zurück und setzten sich in Richtung Schloßhof ab. Der Oberst wurde wegen seiner mangelnden Kampfbereitschaft umgehend zum Tod verurteilt, konnte aber entkommen. Er lebte nach dem Krieg in Deutschland, wo er 1981 starb.

Es ist kaum vorstellbar, was mit Bratislava passiert wäre, hätte damals ein Endsieg-Fanatiker dort das Sagen gehabt.

Das Leid der ungarischen jüdischen Zwangsarbeiter von Engerau nahm zu diesem Zeitpunkt freilich kein Ende. Die Überlebenden wurden bei Herannahen der Roten Armee zusammengetrieben und auf einen Todesmarsch in Richtung Berg und weiter nach Hainburg geschickt. Ziel war das KZ Mauthausen. Die, die in Krankenrevieren lagen und nicht mehr gehen konnten, wurden von den SA-Wachen erschossen. Wer unterwegs nicht mehr weiterkonnte, wurde ebenfalls gnadenlos niedergemetzelt. Mahnmale gibt es auf dem Friedhof von Petrzalka, ein weiteres unweit von Berg auf slowakischer Seite und am Gasthaus Leberfinger. Eines erinnert in Wolfsthal, eines in Deutsch-Altenburg an die jüdischen Opfer des NS-Irrsinns.


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Infos und Quellen

Genese

Seit WZ-Redakteur Michael Schmölzer im Zug der Recherchen für sein Buch „Die Befreiung Wiens“ mit einem Zeitzeugen gesprochen hat, der 1944 als Jugendlicher in Neusiedl am See beim Bau des „Südostwalls“ mithelfen musste, lässt ihn das Thema nicht mehr los. Ihm ist aufgefallen, dass über die in der heutigen Slowakei liegenden Teile der Befestigungen und die dort begangenen NS-Verbrechen in Österreich relativ wenig bekannt ist. So hat er sich auf die Suche gemacht.

Gesprächspartner:innen

  • Claudia Kuretsidis-Haider hat die WZ mit wichtigen grundlegenden Informationen versorgt.

  • Architekt Palo Skorvanek hat dem Autor eine interaktive Karte, auf der die militärischen Bauten aus dem Zweiten Weltkrieg angeführt sind, bereitgestellt.

Daten und Fakten

  • Das deutsche KZ Engerau war lang in Vergessenheit geraten. Es ist in den letzten Jahren aber Gegenstand intensiver Forschung gewesen. Mittlerweile sind die genauen Standorte der ehemaligen Unterkünfte der jüdischen Zwangsarbeiter exakt bekannt. Es waren dort jeweils zwischen 200 und 300 Männer untergebracht. Das Gasthaus Leberfinger gibt es bis heute. Direkt daneben waren das Krankenrevier, das Fabriksgebäude Schinawek und der Holzhandel Fürst als Quartiere. Etwas weiter südlich waren das Lager Wiesengasse, Bahnhofstraße und Auliesl. Hunderte Häftlinge wurden brutal ermordet. Nach Kriegsende 1945 wurden die Täter, Wiener SA-Männer, teils zum Tod, teils zu Haftstrafen verurteilt. Der Kommandant des Teillagers in der Bahnhofstraße, Walter Haury, wurde freigesprochen. Er hatte sich menschlich verhalten.

  • Die Slowakei war im Zweiten Weltkrieg ein Vasallenstaat Hitlers. Er nahm als Verbündeter am Angriffskrieg gegen Polen und die Sowjetunion teil, verabschiedete Rassengesetze und beteiligte sich mit den Deportationen der jüdischen Bevölkerung am Holocaust.

  • Im August 1944 brach in der Slowakei als Reaktion auf den Einmarsch der Wehrmacht eine von Teilen der slowakischen Armee organisierte Rebellion gegen die deutsche Okkupation aus. Der Slowakische Nationalaufstand (SNP) wurde von den Nazis blutig niedergeschlagen.

  • Der Erste Weltkrieg war geprägt durch einen jahrelangen Stellungskrieg, wobei die Soldaten in Schützengräben ausharren mussten und verlustreiche Sturmangriffe unternahmen. Der Zweite Weltkrieg hingegen war ein Bewegungskrieg, die deutsche Wehrmacht überrollte in einem „Blitzkrieg“ Frankreich innerhalb weniger Wochen. Das Konzept, den sowjetischen Vormarsch mit Panzer- und Schützengräben aufhalten zu wollen, war 1945 komplett veraltet.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien

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