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Chappell Roan wehrt sich: Was dürfen Fans?

von Max

Ende August lädt Chappell Roan ein Video auf TikTok hoch: Statt ihrer glitzernden Bühnenoutfits sieht man die Pop-Sängerin im dunklen Pulli, die roten Locken zusammengebunden, kein Make-up außer schwarzen Resten vom vorherigen Look. „Ihr müsst mir Fragen beantworten“, beginnt die US-Amerikanerin ihr Video. „Würdet ihr eine beliebige Frau anschreien? Sie um Fotos bitten? Wütend werden, wenn sie nein sagt? Ihre Familie stalken? Ich bin nämlich eine beliebige Frau.“

Zumindest war sie das vor kurzem noch. Erst vor etwas über einem Jahr veröffentlichte die US-Amerikanerin ihr Debütalbum „The Rise and Fall of a Midwestern Princess“. Innerhalb weniger Monate schoss sie mit ihren kraftvollen Melodien über queere Liebe und ihren knallbunten Bühnenoutfits an die Spitze der Charts, die VMAs (Video Music Awards) kürten sie zur „Best New Artist“, erst kürzlich wurde sie für den Song „Good Luck, Babe!“ für sechs Grammys nominiert. Seit neuestem ist Chappell Roan nun außerdem zum Gesicht der Debatte rund um „Fan Entitlement“ geworden. Damit sind die Ansprüche gemeint, die Fans glauben, an ihre Idole zu haben; vom heimlichen Foto am Flughafen bis hin zum Bedürfnis, ihnen hautnah zu kommen – im wahrsten Sinn des Wortes.

Aber wer ist dieser neue Shooting Star – und wie hat sie es geschafft, mit einem TikTok-Video solche Wellen zu schlagen? Ihr Künstlername sagt bereits viel über die Sängerin aus. „Chappell“ war der Nachname ihres Großvaters, „Roan“ ein Tribut an sein Lieblingslied: In „The Strawberry Roan“ wird ein buckelnder Rotschimmelhengst besungen, den auch die besten Reiter nicht zähmen können. Mit ihrer feuerroten Mähne und ihrem ungebrochenen Willen macht Chappell Roan diesem Namen alle Ehre. Sie fesselt die Kamera mit ihrem Blick und stellt sich als „Die Lieblingskünstlerin eurer Lieblingskünstlerinnen“ vor. Sie zischt eine spitze Bemerkung in den VIP-Sektor ihres Konzerts, weil dort nicht mitgetanzt wird. Sie maßregelt einen Fotografen mitten am roten Teppich, weil sie sich unhöflich behandelt fühlt. Von ihren Fans wurde sie wegen ihrer unverblümten Art gefeiert – bis diese selbst damit konfrontiert wurden.

Pass auf, was du dir wünschst

Vor kurzem noch Kayleigh Rose Amstutz, ein Mädchen aus dem ländlichen US-amerikanischen Missouri. Jetzt formen sich Menschenmengen um Chappell Roan, wohin sie auch geht. Was macht das mit jemandem? „Es schafft Verunsicherung. Man geht durch die Straßen, ohne zu wissen, was auf einen zukommt“, erklärt Psychotherapeutin Béa Pall der WZ. In ihrer Wiener Praxis behandelt sie auch Patient:innen, die im Licht der Öffentlichkeit stehen. „Das kann zu Stresssymptomen führen, von Panikattacken bis zu Schlafstörungen“, erklärt sie. Wie bei Chappell Roan, die über anhaltende Schlaflosigkeit klagt. Wichtig sei laut Pall für solche Patient:innen, bewusst die öffentliche Rolle von der Privatperson zu trennen und Maßnahmen zu ergreifen, um anonym zu bleiben.

Das versucht auch Chappell Roan. Sie appelliert an ihre Fans, sie nicht mit ihrem bürgerlichen Namen anzusprechen und sich ihr außerhalb ihrer „Arbeitszeiten“ nicht zu nähern, sondern Distanz zu wahren. Das beinhalte auch, nicht nach Fotos zu fragen, wenn sie gerade nicht in ihrer Kunstrolle ist. Bisher habe das kaum funktioniert; in einem Interview mit dem Rolling-Stone-Magazin erzählte die 26-Jährige von Überlegungen, sich ihre charakteristischen roten Locken abzuschneiden und braun zu färben, um wieder unerkannt in Bars oder Supermärkte gehen zu können. Anlass für ihr Statement sei jedoch nicht der Traum vom flüchtigen Moment der Normalität gewesen, sondern vor allem das übergriffige Verhalten von Fans gegenüber ihr und ihrer Familie: „Vor ein paar Jahren habe ich gesagt, wenn da Stalker wären oder meine Familie bedroht würde, würde ich aufhören. Und wir sind da. Wir sind da“, sagte sie im Juli in einem Podcast. Innerhalb eines Tages sei sie ungefragt in einer Bar von einem Fan gepackt und geküsst worden, andere hätten die Telefonnummer ihres Vaters gefunden und angerufen. Zuvor sei bereits ein ihr bekannter Stalker bei ihrer Familie in Missouri aufgetaucht. „Ein Teil von mir wünscht sich, nie mehr einen Hit zu haben, damit niemand mehr etwas von mir erwartet“, so der Popstar.

Allen ist unwohl mit Fans. Manche sind geduldiger – ich verdammt noch mal nicht.

Chappell Roan

Dabei ist ihr Erfolg keinesfalls überraschend oder zufällig, sondern das Ergebnis eines Jahrzehnts harter Arbeit. In der Zeit habe sie ununterbrochen an ihrem Projekt gearbeitet, erklärte sie in ihrem Online-Appell. Sie habe diese Karriere aus Liebe zu Musik, Kunst und ihrem inneren Kind gewählt. Dennoch akzeptiere und verdiene sie es nicht, belästigt zu werden.

Die Reaktionen auf ihre Forderungen reichen von verständnisvoll bis hämisch. „Du sagst, du willst den Fame nicht und manifestierst jetzt deinen Untergang. Pass auf, was du dir wünschst“, schreibt ein User auf Instagram. Las man vor kurzem noch fast ausschließlich positive Kommentare, so wird sie nun immer öfter als dramatisch, unhöflich und anmaßend bezeichnet. Reaktion darauf kam von Chappell Roan keine mehr.

Das Imageproblem von Fans

„Ich glaube, dass sie gut damit umgeht, indem sie sich gar nicht auf eine Diskussion einlässt. Sonst wäre es ja keine Grenze, sondern eine Verhandlung“, sagt Christina Schuster zur WZ. Die Kulturwissenschaftlerin forscht zum Fachthema Fan Studies an der Universität Wien. Die Reaktionen bezeichnet sie als genauso gemischt wie ein Fandom selbst. „Das Singular hier deutet auf etwas hin, was es gar nicht ist: denn Fandoms sind total heterogen“, erklärt sie. Wichtig sei, die breite Masse an respektvollen Unterstützer:innen nicht mit einzelnen rücksichtslosen Personen in einen Topf zu werfen. „Das verstärkt die Wahrnehmung von Fans als verrückt und übergriffig“, erklärt sie.

Dieses Stereotyp schwinge beim Begriff „Fan“ ohnehin mit: „Viele haben dazu ein Bild im Kopf: meistens einen weiblichen Pop-Fan, vielleicht auch aus einer Zeit, die mit uns heute gar nichts mehr zu tun hat, wie bei den Beatles oder Elvis. In Ohnmacht fallend, sehr übertrieben dargestellt.“ Ein Bild, das nur auf einen kleinen Bruchteil von Fans zutrifft und dennoch nach wie vor oft von den Medien aufgegriffen wird. Und ein Bild, das mit vorwiegend männlichen Fangruppen wie zum Beispiel beim Fußball nicht übereinstimmt, obwohl auch dort immer wieder Emotionen bis hin zu Ausschreitungen hochschaukeln.

Dabei können Fandoms laut Schuster auch produktive Eigendynamiken entwickeln. Tatsächlich findet man für jeden negativen Kommentar enttäuschter Fans von Chappell Roan einen ganzen Schwall an User:innen, die diese zurechtweisen. Die Gemeinschaft reguliert sich selbst, Missstände werden aufgezeigt und das hebt auch die Künstlerin hervor. „Es ist eigentlich eine symbiotische Beziehung zwischen Fans und Star und oft gar nicht so einseitig, wie man denkt. Wir führen vielleicht auch parasoziale Beziehungen mit unseren Chefs, mit denen wir gar nicht so viel zu tun haben, über unsere Interpretationen und über unsere Wahrnehmungen“, erklärt die Kulturwissenschaftlerin. Für sie ist das Thema im Kern feministisch: Warum meinen wir, irgendwelche Ansprüche auf Frauen zu haben, und warum haben die es wiederum schwer, auf ihre Privatsphäre zu bestehen?

Musik und Stalking: Ein Package Deal

Und die Antwort? „Chappell ist jetzt neu in der Szene und setzt Grenzen. Aber Frauen setzen keine Grenzen, das darf man nicht. Man muss jederzeit bereit sein, alles zu geben für alle,“ sagt die österreichische Sängerin Resi Reiner. Mit sanften Melodien wie in „Ich will nach Italien“ oder „Naja, geht so“ hat sich die 28-Jährige in den letzten Jahren einen Namen in der heimischen Musikszene gemacht. Dabei spielt sie zu ihrem eigenen Amüsement immer wieder mit ihrem Image von Fame: In einem TikTok-Video wickelt sie sich ein Tuch um die Haare und setzt die Sonnenbrille auf, die Augen huschen hin und her wie auf der Hut vor der nächsten Paparazzi-Meute. In „God bless Amerika“ singt sie über sich als Superstar, der die Hallen füllt. „Dein Blick sagt: Resi Reiner kenn ich nicht. Und ich sag: echt?“ heißt es darin. Resi muss selbst lachen, als sie darüber spricht. Von einem Ansturm wie bei Chappell Roan ist bei ihr zwar nicht zu sprechen, trotzdem hat sich die Wahlwienerin als Musikschaffende auf einen Karriereweg begeben, auf dem vorausgesetzt wird, mit bedrohlichen sozialen Situationen umgehen zu können.

Und in solchen hat auch sie sich bereits nach den ersten Erfolgen wiedergefunden: „Wir hatten einen Stalker“, erzählt sie nüchtern. Dieser sei zuerst auf Konzerten, dann im Umfeld der Band immer wieder aufgetaucht und versuchte, Resi seine intimen Beobachtungen über sie mitzuteilen. „Wir haben ihn dann überall blockiert, seitdem haben wir ihn auch nicht mehr gesehen“, erzählt sie. Nicht immer funktioniert es so gut, sich abzugrenzen: Ein Fan drückte ihr bei zwei Anlässen Notizbücher mit traumatischen Berichten, Malereien und Selbstmordgedanken in die Hand, auch andere teilen quasi im Vorbeigehen traumatische Erlebnisse mit ihr. „Es gibt viele schöne Sachen und es gibt wirklich Sachen, wo ich mir denke: Oh Gott, was soll ich jetzt machen? Warum glaubst du, dass das bei mir gut platziert ist? Dabei ist es bei mir eh noch nicht so arg. Aber wenn eine Person mega berühmt ist und jeden Tag jemand Trauma-Dumping macht bei ihr – das hältst du psychisch nicht aus.“ Laut Psychotherapeutin Pall sollten Personen, die ins Licht der Öffentlichkeit geraten, deshalb möglichst früh, eventuell sogar schon präventiv, darauf vorbereitet werden, welche Grenzen man braucht und wie man diese kommunizieren kann.

Angst vor dem Durchbruch

Bei vielen Personen der Öffentlichkeit ist dieser Schritt nach wie vor mit einer Angst, undankbar zu wirken, verbunden. Tatsächlich haben sich jedoch nach Chappell Roans Statement einige große Namen davon inspirieren lassen, ihr Schweigen zu brechen. Stars wie Billie Eilish, Lady Gaga und sogar Elton John haben sich bei der Chartstürmerin gemeldet und ihre Unterstützung angeboten. „Jeder Artist stimmt zu”, sagte Chappell Roan gegenüber Rolling Stone. „Alle fühlen sich unwohl mit Fans. Manche sind einfach nur geduldiger – ich verdammt noch mal nicht.“

Ironischerweise geben Stars, die für ihren großzügigen Umgang mit Fans bekannt sind, oft Tausende, wenn nicht sogar Millionen für Sicherheitsmaßnahmen aus, um nach draußen gehen zu können.

Frauen setzen keine Grenzen, das darf man nicht.

Resi Reiner

Das wirkt auf viele junge Künstler:innen abschreckend – so auch auf Resi. „Das wünscht man sich ja eigentlich als Künstlerin, dass man mega durch die Decke geht. Aber ich glaube, ich muss gar nicht berühmter werden“, sagt sie. Wenn, dann nur mit vielen Sicherheitsmechanismen in ihrem Charakter und in ihrem Umfeld. „Ich möchte gar nicht undankbar klingen, weil man lebt ja davon. Aber ich habe Respekt davor.“ Bei ihren Fans versucht Resi, durch gegenseitigen Respekt ein Gespür für diese Grenzen zu erregen, fragt zum Beispiel bei jedem Foto um Erlaubnis, ob sie die Person berühren darf. Ob sie selbst das auch schon einmal gefragt wurde? „Nie“, sagt sie mit einem schiefen Schmunzeln.

Eine Tasse Kunst ohne Hintergedanken

Wann und wie auch immer sich dieser Umgang in Zukunft ändern wird, mit ihren Forderungen hat Chappell Roan auf jeden Fall ein Tabuthema rund um Fankultur aufgebrochen. Stars, Fans und Medien, sie alle sprechen über Fan Entitlement. Ob dieses Momentum etwas bewirken kann? Hier sind sich Psychotherapeutin Pall, Wissenschaftlerin Schuster und Sängerin Reiner in ihrem Optimismus einig. So hält erstere es für realistisch, dass mit dem Bewusstsein für mentale Gesundheit auch das Verständnis für die Menschlichkeit und Verletzlichkeit von Stars in der Gesellschaft steigt.

„Aus einem Gefühl heraus würde ich sagen, dass sich schon was tut. Wenn irgendwer Großes was sagt, dann wird drüber nachgedacht und gesprochen“, sagt auch Resi Reiner. „Die Leute müssen von dem Gedanken weg, etwas zurückbekommen zu wollen. Wenn ich dich jetzt auf den Kaffee einlade, dann nicht mit dem Hintergedanken, dass du mich irgendwann zurückeinladest, sondern weil ich das gern möchte. Ich glaube, so muss man das auch mit Personen des öffentlichen Lebens machen. Ich konsumiere Musik und bekomme damit ja eh ein Stück von der Künstlerin.“ „Frauen sind euch einen Scheiß schuldig“, formulierte es Chappell Roan etwas brüsker. Ob sie es auf die von Resi beschriebene Kaffeehausbasis mit ihren Fans schafft, bleibt abzuwarten. Vergönnt wäre es ihr. Bleibt ihr nur ihr eigenes Mantra zu wünschen: Good luck, babe!


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Infos und Quellen

Genese

„Women don’t owe you shit“, erklärte Chappell Roan im August der Autorin – ihres Zeichens ebenfalls Fan der Sängerin – via TikTok. Stimmt eigentlich, dachte sich diese und begab sich auf die Suche nach einer Antwort auf die Frage: Woher nehmen wir diese Selbstverständlichkeit, mit der Stars nach Fotos, Zeit und Einblicke in ihr Innerstes gebeten werden?

Gesprächspartnerinnen

  • Béa Pall ist Psychotherapeutin in Wien und Präsidiumsmitglied im ÖBVP, dem Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie.

  • Resi Reiner kommt ursprünglich aus Graz, lebt aber in Wien, wo sie seit etwa vier Jahren Musik macht. In ihrem „Indieschlager“ singt die 28-Jährige vom Tagträumen, vom Kaffeemachen oder der Sehnsucht nach einem Italien-Urlaub – und holt die Leute damit mitten in ihrem eigenen Alltag ab. Zu hören ist sie oft auf FM4, aber auch auf diversen Musikevents – unter anderem auf dem letzten Donauinselfest.

  • Christina Schuster ist Kultur- und Literaturwissenschaftlerin und forscht unter anderem im eher unbekannten Feld der Fan Studies. Unter dem Titel „Beyond nerdy fanboys and squealing fangirls“ hat sie auch bereits eine Lehrveranstaltung zu kritischer Medienanalyse an der Universität Wien abgehalten.

Daten und Fakten

„Fan Studies“ ist tatsächlich eine souveräne wissenschaftliche Disziplin, die sich mit Dynamiken, Geschichte und Praktiken von Fangemeinschaften beschäftigt. In Österreich gibt es auf diesem Gebiet zwar noch relativ wenig Forschung, vor allem in den USA gilt es hingegen als rapide wachsendes Feld. Grund dafür sind vor allem digitale Technologien, die zu einem Anstieg an Möglichkeiten, Fankultur zu leben, geführt haben – sowie das Interesse der Industrie, aus Fan-Interessen Marketingprofit zu schlagen.

Quellen

Das Thema in der WZ

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