In Hirtenberg mussten Russinnen, Polinnen, Italienerinnen Patronen für die Nazis produzieren. In sieben bisher unveröffentlichten Interviews erzählen sie vom Alltag zwischen Stockschlägen, Hunger und Kälte.
Der Aufseher schlägt Neonila Roschkowa hart ins Gesicht, sie stürzt, prallt gegen eine Steinwand. Ihr Kopf schwillt an. Roschkowa hatte Kartoffeln in den falschen Kochtopf geleert. Ein Missgeschick mit schwerwiegenden Folgen. Zitternd steht das 16-jährige Mädchen am Appellpatz. Hinter den Fenstern der Baracken ahnt sie die Blicke der anderen Frauen. Es ist Winter 1945. Die Kälte kriecht der Russin unter das Hemd. Ihr Atem stockt, als sie der Aufseher mit kaltem Wasser übergießt. Weinen kann sie nicht.
Wir kennen die Details der Misshandlung der Neonila Roschkowa, weil sie ihr Schweigen nach fast 60 Jahren brach. Anfang der 2000er-Jahre interviewten Historiker:innen rund 840 Überlebende des KZ-Systems Mauthausen. Sieben von ihnen waren im Frauen-KZ Hirtenberg – einem Außenlager von Mauthausen – interniert. Ihre Augenzeuginnenberichte wurden bisher nicht veröffentlicht. Die Sozialwissenschaftlerinnen Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr haben sie analysiert und ihre Arbeit der WZ zur Verfügung gestellt.
Der Gewerbepark auf dem KZ-Grund
In Geschichtsbüchern gibt es nur spärliche Informationen über das KZ Hirtenberg. Eine umfassende historische Aufarbeitung liegt bisher nicht vor. Nun soll auf dem Areal des ehemaligen Lagers – einer unscheinbaren Brache am Ortsrand der niederösterreichischen Gemeinde Leobersdorf – ein Gewerbepark gebaut werden. Unter Lagerhallen, Geschäftsflächen, Betriebsanlagen werden die Mauerreste der KZ-Baracken, Fundamente, Porzellansplitter und Patronenhülsen der Waffen-SS, die hier im Boden ruhen, verschwinden. Und mit ihnen die letzten Relikte eines speziellen Tatorts des Nazi-Regimes.
Das KZ Hirtenberg war das zweitgrößte Frauenlager auf österreichischem Boden. Wie viele Häftlinge in Hirtenberg interniert waren, kann die Forschung nicht sagen. „Gesichert kennen wir 402 Namen“, sagt Halbmayr. „Höchstwahrscheinlich waren es mehr.“ Die Jüngsten waren 16 Jahre alt, die Älteste, eine Polin, 58. Die meisten wurden in Dörfern in der Sowjetunion aus ihren Familien gerissen und ins KZ nach Hirtenberg verschleppt. Andere deportierten die Nazis aus Italien und Polen.
Die Geschichte des KZs – das die Nazis euphemistisch Weinberglager nannten – begann im Sommer 1944. Der Zweite Weltkrieg tobte in Europa. Die Alliierten bombardierten Wien, die Rote Armee stand kurz vor der entscheidenden Offensive. Die Nazis brauchten Munition. Sie wurde in der Patronenfabrik Hirtenberg gefertigt. Tag und Nacht liefen die Maschinen. Um die steigende Produktion aufrecht erhalten zu können, forderte der stellvertretende Betriebsleiter, Hermann von Pflug, weibliche KZ-Häftlinge von der SS an.
Der Transport im Viehwaggon
Der eingefleischte Antisemit wollte nicht, dass Jüdinnen in seinem Werk arbeiten. „Falls es sich irgendwie einrichten lässt, möchten wir Sie bitten, jüdische weibliche KZ-Häftlinge möglichst zum Einsatz hier nicht vorzusehen“, schrieb er im Juni 1944 der SS. Die kam seiner Bitte nach. Im Vernichtungslager Auschwitz, später auch im KZ Ravensbrück, selektierte sie Frauen zum Abtransport nach Hirtenberg. Unter ihnen die damals 16-jährige Russin Ekaterina Wasilewna Kutsenko. Sie rieb sich die Wangen mit einem Pilz ein, um gesünder zu wirken, und wurde ausgewählt.
Soldaten pferchten die Frauen in Viehwaggons. Durch die schmalen Luken konnten sie die Landschaft nur erahnen. „Wir hatten keine Ahnung, wo wir hinkamen, welcher Teil von Deutschland das war, wir wussten nicht einmal, dass Auschwitz in Polen war“, schilderte die Italienerin Hedwika Pace ihre Orientierungslosigkeit. „Wenigstens sind wir hier raus“, dachte die damals 19-Jährige, erleichtert, dem Vernichtungslager entkommen zu sein.
Von der Sowjetunion nach Hirtenberg verschleppt
Die ersten 391 Häftlinge kamen am 28. September 1944 in Hirtenberg an. Sie wurden in fünf Holzbaracken untergebracht. Die SS hatte sie mit einem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun umspannt. Das KZ lag am Rand eines bestehenden Zwangsarbeiter:innen- und Kriegsgefangenenlagers in der Gemeinde Leobersdorf an der Grenze zu Hirtenberg. Erste Entwürfe der KZ-Baracken stammen aus dem Jahr 1943. Als die Russin Kutsenko das Hirtenberger Lager zum ersten Mal sah, atmete sie auf: Es gab weder Krematorium noch Galgen.
Die Frauen bekamen gestreifte Stoffkleider und Holzschuhe. Sie schliefen auf Pritschen. Die Polster stopften sie mit Sägespänen. Die damals 18-jährige Nadjeschda Fillipowna Bulawa erinnerte sich an Kleidung und Unterbringung. „Ein gestreiftes Kleid – und Schuhe, das war alles. Auch kein Bad, gar nichts! Ein Waschbecken ist da, zu einer festgesetzten Zeit gibt es Wasser, aber sonst nichts. Auch heizen kann man nicht, nichts.“ Im Winter froren die stark unterernährten Frauen.
Der Kapo hat mich so heftig geohrfeigt, dass ich einen Zahn verloren habe.
Ekatarina Kutsenko
Ihre Verpflegung bestand aus Kohl, Rüben und kleinen Brotrationen. Die 26-jährige Slava Primozic stahl eine Rübe und wurde misshandelt. „Der Kapo hat mich so heftig geohrfeigt, dass ich einen Zahn verloren habe“, erzählte sie. Danach musste sie bei Minusgraden auf dem Appellplatz stehen. Für Fluchtversuche einzelner Frauen wurden alle Häftlinge kollektiv bestraft. Sie knieten stundenlang im Schnee und hielten Steine in die Höhe, wie sich Kutsenko erinnerte.
Drangsaliert wurden die Häftlinge auch in der Munitionsfabrik. Jeden Tag eskortierten sie die SS-Soldaten den Lindenberg hinauf. Auf dem Hügelzug lag das Werk der Nazis im Wald versteckt. Eine Dreiviertelstunde marschierten die Frauen in Holzschuhen zur Zwölf-Stunden-Schicht. „Wir haben zwölf Stunden in der Nacht und dann zwölf Stunden am Tag gearbeitet. Die nächsten Wochen waren dann zwölf Stunden am Tag. Das war also von sechs am Morgen bis sechs am Abend“, sagte die Italienerin Pace. In den teilweise unterirdischen Produktionsstätten herrschte Sprechverbot. Die Frauen fertigten Zündhütchen und rieben Patronenhülsen mit Spiritus ein, bevor diese mit den Treibladungen befüllt wurden. Die Aufseher schlugen sie mit Peitschen und Stöcken.
Explodierende Maschinen
Die Arbeit war gefährlich. Immer wieder explodierten die Maschinen, was die SS als Sabotage wertete. Nadjeschda Fillipowna Bulawa berichtete von einem dieser Unfälle: „Wir sind also zur Schicht angetreten, aber mein Apparat war explodiert. Die, die hinter ihm gesessen war, sah fürchterlich aus, sie war blutüberströmt. Da waren SS-Leute und wir wurden sofort verhaftet. Wir waren ohnehin schon Häftlinge und wurden noch einmal verhaftet. Und sie haben gleich gesagt: Ihr seid zum Tod verurteilt worden.“ Die Aussage sollte sich als leerer Sadismus erweisen. Die 18-jährige Russin wurde nicht exekutiert. Sie überlebte Hirtenberg und den Krieg. Die Namen ihrer Peiniger nannte Bulawa nicht.
So wenig wir über die Opfer wissen, so wenig wissen wir über die Täter:innen. Das Konzentrationslager wurde von 25 SS-Männern bewacht. Lagerkommandant war SS-Hauptsturmführer Karl Schröder. Von Schröder kennen wir nur den Namen. Im Inneren des Lagers waren SS-Aufseherinnen zuständig. Oberaufseherin war Edda Scheer aus Graz. Ihr Sohn Hatto Scheer erzählte 2001 in einem Video-Interview von seiner Mutter. 1976 starb sie als glühende Nationalsozialistin. Zur Verantwortung gezogen wurde sie nie. Den Holocaust leugnete sie bis zuletzt.
Wer nicht mehr weiterkonnte, wurde erschossen.
Slava Primozic
In den ersten Apriltagen 1945 war der Krieg für die Nazis längst verloren. Am 3. April rückten die ersten Panzerstoßtrupps der Roten Armee in Hirtenberg ein, am 6. April nahmen sie die Gemeinde ein. Kurz davor – wahrscheinlich am 2. April, am Ostermontag – räumte die SS das KZ. „Eines Tages haben sie uns alle geholt und hinausgetrieben, zu Fuß mussten wir gehen. Wie lange wir da gegangen sind, weiß ich nicht. Keine Verpflegung, nichts, nicht einmal einen Grashalm konnte man ausreißen“, erzählte die Russin Bulawa. Die Häftlinge wurden nach Mauthausen getrieben. Die ausgehungerten Frauen mussten Fuhrwerke ziehen und Decken schleppen. Nahrung bekamen sie keine. Blieben sie erschöpft liegen, wurden sie von den Soldaten erschossen, wie die damals 26-jährige Slava Primozic berichtete.
Im Grollen der Kanonen schöpften vor allem die russischen Frauen Hoffnung. Ihre Leute – die Soldaten der Roten Armee – waren nur noch wenige Kilometer entfernt. Auf der 170 Kilometer langen Route versuchten viele Frauen zu fliehen. Am 10. April erschossen SS-Soldaten sieben flüchtende Russinnen. Laut Listen der SS gelang 48 Frauen die Flucht.
Über die Todesstiege nach Mauthausen
Um den 19. April 1945 trafen 342 Frauen aus Hirtenberg im KZ Mauthausen ein. Sie schleppten sich die Todesstiege des Steinbruchs hinauf. „Das waren wahrscheinlich an die zweihundert Stufen, wenn nicht mehr. Ach, bis wir diese Stufen überwunden hatten!“, sagte Pace. Im Lager herrschte Chaos. Die Frauen kamen in Quarantäne und wurden verschiedenen Arbeitskommandos zugewiesen. Am 5. Mai 1945 wurden sie von amerikanischen Truppen befreit.
Sieben Monate existierte das Frauen-KZ Hirtenberg. Trotz Kälte, Hunger, harter Lager- und Arbeitsbedingungen ist nur ein Todesfall dokumentiert. Am 21. März 1945 soll Walentina Gulja an „Kreislaufschwäche und Rippenfellentzündung“ verstorben sein. Ihr Name steht auf dem Stein eines Gruppengrabes am Friedhof von Hirtenberg – neben den Namen von SS-Soldaten.
Verdrängt und vergessen
Nach dem Krieg wurden die Baracken des Konzentrationslagers rückgebaut. Auf einer Luftaufnahme aus dem Jahr 1958 sind nur noch die Fundamente erkennbar. Die Natur holte sich das Areal zurück. Gras wuchs über die Geschichte.
Das KZ wurde zum Tabu – und blieb lang unerforscht. Andreas Baumgartner beschäftigte sich Mitte der 1990er-Jahre als einer der ersten Historiker mit der Geschichte weiblicher Häftlinge im KZ-System Mauthausen. „Die Recherchen in Hirtenberg waren schwierig“, sagt er. „Das Gemeindeamt ist in den letzten Kriegstagen abgebrannt. Es gibt kaum Unterlagen zum Lager.“
Baumgartner arbeitete auch bei Amesbergers und Halbmayrs neuem Forschungsbericht mit. Als sie im Jahr 2010 in Leobersdorf und Hirtenberg nach Zeitzeugen suchten, wollten ihnen die Einheimischen keine ausführlichen Interviews geben. Die Auskünfte am Telefon waren dünn. „Wir haben schon gewusst, dass da auch KZler sind, gesehen haben wir nie welche (…). Und überhaupt waren da so viele Ausländer beschäftigt, da hat man sich gar nicht mehr ausgekannt.“
Das Schweigen hat zum Vergessen geführt. Das Vergessen ist zum Politikum geworden. Der Bürgermeister von Leobersdorf hat die KZ-Gründe verkauft. Sie sollen zum Gewerbepark werden. Unter Geschäftsflächen und Parkplätzen werden die Relikte des Lagers verschwinden.
Was bleibt, sind die Geschichten der Opfer – als letzte Verbindung in die Vergangenheit.
Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns – sag uns deine Meinung unter [email protected]. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.
Infos und Quellen
Genese
Im Zug unserer Recherchen zum Bürgermeister von Leobersdorf haben wir immer mehr über das Konzentrationslager in Hirtenberg erfahren. Erich Strobl von der lokalen Gedenk-Initiative schickte uns Luftaufnahmen britischer Aufklärer, die Skizzen der Baracken und Fotos vom Lager. Wir haben uns die Mauerreste auf den KZ-Gründen angesehen und sind auf den Lindenberg gegangen, um die Betonruinen der Munitionsfabrik zu finden. Und schließlich stellten uns die Sozialwissenschaftlerinnen Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr sieben unveröffentlichte Biografien von Frauen aus dem KZ Hirtenberg zur Verfügung. Ihren Erinnerungen wollten wir Raum für eine eigene Geschichte geben.
Gesprächspartner:innen
-
Bertrand Perz, Historiker, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
-
Andreas Baumgartner, ehemaliger Vorstand Mauthausen Komitee
-
Brigitte Halbmayr, Politologin und Soziologin, Institut für Konfliktforschung Wien
-
Gregor Holzinger, Historiker, Leitung Forschungsstelle KZ-Gedenkstätte Mauthausen
-
Erich Strobl, lokale Gedenk-Initiative Hirtenberg
-
Didi Drobna, Schriftstellerin
Daten und Fakten
-
Im Konzentrationslager Mauthausen waren zwischen 1938 und 1945 rund 190.000 Menschen inhaftiert. Schätzungen zufolge waren davon rund 8.500 Frauen, also lediglich 4,25 Prozent.
-
In Österreich gab es rund 40 Außenlager von Mauthausen. In fünf Lagern waren ausschließlich Frauen zur Zwangsarbeit eingesperrt. Lenzing und Hirtenberg waren die größten Lager, in Schloss Mittersill, Schloss Lannach und St. Lambrecht waren Zeuginnen Jehovas interniert.
-
Das KZ-Außenlager Hirtenberg, offiziell „Waffen-SS Arbeitslager Hirtenberg, Gustloff-Werke, Niederdonau“, bestand von September 1944 bis April 1945. 402 Frauen waren inhaftiert, die Jüngsten waren gerade 16 Jahre alt geworden, die älteste Frau war 58. Der Altersdurchschnitt lag bei etwas über 23 Jahren.
-
Lagerkommandant war SS-Hauptsturmführer Karl Schröder, dem 24 SS-Männer zur Bewachung unterstanden. Im Lager waren SS-Aufseherinnen zuständig, Oberaufseherin war Edda Scheer.
-
Von den 402 Frauen waren 194 aus Russland, 101 aus Italien, 95 aus Polen, fünf aus Jugoslawien, drei aus Ungarn, zwei aus Kroatien und je eine aus Deutschland und der Slowakei.
-
Die 402 Frauen arbeiteten in der Munitionsfabrik Hirtenberg. Sie war die wichtigste Munitionsfabrik im Dritten Reich. Pro Tag wurde eine Million Patronen produziert. Die Munitionsfabrik gehörte dem Austrofaschisten Fritz Mandl. Als Jude musste Mandl im März 1938 nach Argentinien fliehen. Die Munitionsfabrik wurde in die NSDAP-Parteistiftung „Wilhelm-Gustloff-Werke“ einverleibt.
-
Mauthausen Survivors Documentation Project (MSDP): In den Jahren 2002 und 2003 interviewten Historiker:innen für die KZ-Gedenkstätte Mauthausen im Auftrag des Innenministeriums rund 840 Überlebende des KZ-Systems Mauthausen. Darunter waren auch rund hundert Frauen. Sieben von ihnen waren in Hirtenberg. Die Interviews sind Teil der „Oral History“-Sammlung im Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen.
-
Auf Basis der Interviews erstellten die Sozialwissenschaftlerinnen Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr unter Mitarbeit von Andreas Baumgartner und Isabella Girstmayr 2010 einen Forschungsbericht zu den weiblichen Mauthausen-Häftlingen („Weibliche Häftlinge im KZ Mauthausen und seinen Außenlagern“). Der Forschungsbericht wurde vom Innenministerium finanziert, wird derzeit überarbeitet und soll voraussichtlich 2026 veröffentlicht werden.