Das Stück, ja Epos, des gefeierten US-Dramatikers Matthew López hat alle Ingredienzen einer erfolgreichen Netflix-Serie. Die Themen von „Das Vermächtnis“ sind Liebe, Hoffnung, Angst, Verlangen, Eifersucht und so weiter. Wie man das eben kennt aus den großen Romanen, etwa aus „Wiedersehen in Howards End“ (1910) von Edward Morgan Forster. Nur dass sich die Beziehungsdramen ausschließlich unter homosexuellen Männern abspielen – im New York der 2010er-Jahre.
Das Theater in der Josefstadt brachte dieses gekonnt mit den Emotionen des Publikums spielende Well-made-Play – zu Beginn gibt es viel zu lachen, am Schluss viel zu heulen – nun tatsächlich wie eine Netflix-Serie (Synchronisation von Wenzel Lüdecke) auf die Bühne: in sechs Folgen mit einer Gesamtdauer von siebeneinhalb Stunden inklusive dreier Pausen.
Vergleichbare Unternehmungen sind recht selten, „Schlachten!“ bei den Salzburger Festspielen gehört jedenfalls dazu – und „The Seven Streams of the River Ota“ von Robert Lepage, das Mitte der 1990er-Jahre bei den Festwochen zu sehen war. An jene herzzerreißende Geschichte einer Holocaust-Überlebenden, die den innig geliebten Mann nur deshalb heiraten soll, damit dieser seinem Leben ein Ende setzen kann, kommt „Das Vermächtnis“ nicht ganz heran.
Der erste Satz
Regisseur Elmar Goerden ist trotzdem Herausragendes geglückt – zusammen mit einem grandiosen Ensemble. Er lässt zunächst erstaunlich viel Zeit verstreichen, bis sich die eher karge Bühne – Silvia Merlo und Ulf Stengl zimmerten eine abstrakte Landschaft mit Podesten, Stufen und Ebenen – erleuchtet. Dann schält sich die Handlung sehr geschickt aus dem Prolog heraus: Ein junger Mann ringt um den ersten Satz für die Geschichte, die er zu erzählen hat. Er ruft den von ihm verehrten Forster an – und der Schriftsteller, verkörpert von Ulrich Reinthaller im historischen Kostüm, nimmt ihn nicht nur bei der Hand, er übernimmt zumeist die Rolle des Erzählers, der selber staunt, wie sich die Figuren entwickeln. Das eine oder andere Mal muss er einschreiten und korrigieren. Oder er ergänzt das, was sie sagen, mit dem, was sie eigentlich denken. Das birgt natürlich viel Komik und erinnert an Woody Allens Manhattan-Komödien.
Welche Funktion der junge Mann in der Geschichte eines schwulen Freundeskreises im Intellektuellenmilieu hat, wird erst viel später klar. Im Mittelpunkt stehen von Anfang an Toby Darling und Eric Glass. Der eine, ein Autor und ruppiger Egomane, genießt das Leben in vollen Zügen. Der Darling aber ist der andere: ein ungemein smarter Kerl mit jüdischen Wurzeln, hilfsbereit, gebildet, attraktiv, reflektiert – wie aus dem Bilderbuch. Martin Niedermair fliegen denn auch die Herzen aller Männer zu. Zudem erweist sich sein Eric als aufopfernde Florence Nightingale.
Raphael von Bargen jedoch beeindruckt noch mehr – als ungleich vielschichtigere Figur, die sich nicht der Vergangenheit stellen, sondern im Alkohol ertränken will. Aber die Schachtel mit den unangenehmen Altlasten als Cliffhanger verschwindet einfach nicht von der Bühne.
Aus bestem Stall
Die Ehe der beiden geht nach sieben Jahren in die Brüche. Der Autor verzehrt sich zunächst nach einem unschuldigen Nachwuchsschauspieler aus bestem Stall – und reagiert sich am verloren herumgeisternden Stricher Leo ab, der Adam verdammt ähnlich sieht. Was nicht weiter verwundert, weil Nils Arztmann beide Charaktere (in unterschiedlichen Slips) verkörpert.
Darling Eric trifft unterdessen zufällig Walter wieder, der damals, in den 80ern, als es noch keine Medikamente gegen Aids gab, vielen Freunden beim Sterben beistand. Und über ihn kommt er mit Henry Wilcox in Kontakt, einem schwerreichen Immobilienentwickler, der als Double für Richard Gere in „Pretty Woman“ durchgegangen wäre. Der eiskalte Unternehmer, der erst lernen muss, seine Gefühle zu zeigen (Joseph Lorenz macht das unglaublich überzeugend), ist klarerweise ein Republikaner. Erics kunterbunter Freundeskreis, darunter ein herziges Elternpaar (Roman Schmelzer und Thomas Frank) und ein exaltierter Club-Veteran mit Clutch (Marcello De Nardo), kann das gar nicht goutieren.
Denn Donald Trump gewinnt – zum ersten Mal – die Wahl. Aber mit knallharten Argumenten – die Pharmaindustrie entwickelte Medikamente gegen Aids nicht aus Gründen der Humanität, sondern in der Erwartung auf Profit – und einer gehörigen Prise Zynismus serviert der elegante US-Hofreiter den heißlaufenden Demokraten Jasper (Jan Thümer) ab.
Explizites Vokabular
Irgendwann stellt Forster fest, dass es ihn für den Fortgang der Geschichte nicht mehr braucht. Im Kollektiv oder einzeln erzählen die Figuren weiter. Die banalen Projektionen wie die Farbflächen aus Licht im Hintergrund werden weniger, und Andrea Jonasson zieht mit ihrem Monolog einer alten Mutter, die ihren Sohn einst vor der Homosexualität bewahren wollte und dann dessen HIV-Tod wie eine griechische Troja-Heldin beklagen musste, in ihren Bann.
Das Vokabular der dezent, auch amüsant gespielten Sexszenen ist, keine Frage, explizit und vulgär. Das traditionelle Josefstadt-Publikum wird vielleicht pikiert sein, aber mit der langen Pause ist das Heftigste überstanden.
Warum das Stück „Das Vermächtnis“ heißt und Henry Wilcox wie eine Figur aus „Howards End“ heißt, wird auch noch erklärt. Nach viel Schluchzen stürmischer Jubel im leider nicht vollen Saal – und Standing Ovations.