Startseite Kultur Empathie ist leider nicht der Schlüssel

Empathie ist leider nicht der Schlüssel

von Max

Sie war die Vorgängerin seiner späteren Ehefrau gewesen, die er am Höhepunkt ihrer Krebserkrankung irgendwann Anfang der 1980er-Jahre verlassen hatte. Später hatte der berühmte Dichter erklärt, die Ehe sei „schwierig“ gewesen. Seiner Tochter Carmel, seinem „Vogelkind“, hatte er noch ein paar Ansichtskarten von hier und dort geschrieben, aufgetaucht war er nur noch einmal, im Fernsehen.

Wie hatte die Familie dieses bedeutenden irischen Dichters so abbauen können, fragt sich später Carmels Tochter Nell. Phils Werk war doch so zartfühlend! Carmel, die Nell allein aufgezogen hat, kocht zwar anständiges Chili und würde gewiss alles für ihre Tochter tun, aber Verse über Amseln, Pfaue und nach Thymian duftende Honigmünder waren eher nicht von ihr zu erwarten.

Nell will sie sich einen Vogel tätowieren lassen, nebst einer Gedichtzeile des berühmten Ahnen. Außerdem fotografiert sie Opas Gedichte, postet sie auf Instagram und gibt ihren Senf dazu. Instagram ist Nells Hauptbeschäftigung, beruflich wie privat. Um Geld zu verdienen, erfindet sie Reiseberichte von Orten, an denen sie nie war. Um ihre freie Zeit zu vernichten und sich seelisch kaputtzumachen, stalkt sie die Ex-(?)Freundin ihres Liebhabers, der sich mehr und mehr als liebloser, gewaltaffiner Psycho herausstellt. Aber hat er sie, die sich mit 22 so einsam und unattraktiv fühlt, nicht aus ihrer „Kummerblase“ herausgeholt?

Booker-Prize-Trägerin Anne Enright breitet im Roman „Vogelkind“ ein mal berührendes, mal verstörendes, oft auch humorvollvolles Szenario einer Mutter-Tochter-Beziehung aus, die von Liebe, nicht aber von großem Verständnis geprägt ist. Der springende Punkt ist das Missverständnis, Empathie wäre die Lösung für alles im Leben. Tatsächlich aber ist es so: „Wir gehen nicht durch die gleiche Straße wie der Mensch an unserer Seite.“

Gebrochen wird diese großartige Erzählung immer wieder durch lyrische Einsprengsel – Opas Gedichte sind tatsächlich wunderschön –, denen im nächsten Moment köstlich lapidare Feststellungen folgen: „Ich erzähle meiner Mutter nie etwas, ich bin doch nicht dumm.“ 

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