Ursula von der Leyen hat ihr Team für die neue EU-Kommission präsentiert. Doch bevor es fixiert wird und die Arbeit aufnimmt, hat erstmal das Europäische Parlament das Sagen.
Die Sommerpause in Brüssel ist vorbei. Drei Monate nach der EU-Wahl startete das neugewählte Europäische Parlament in seine erste Plenarperiode. Doch auch die Europäische Kommission setzt sich in diesen Tagen neu zusammen. Waren bis jetzt nur die Spitzenämter fixiert – unter anderem durch die überraschend deutliche Wiederwahl von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen –, geht es nun um die Bildung einer neuen Kommission.
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Jedes Land stellt ja bekanntlich eine:n Kommissar:in bzw. Spitzenposten in der Europäischen Kommission. Eigentlich hatte von der Leyen den Wunsch, dass jedes Mitgliedsland je eine Kandidatin und einen Kandidaten nominieren soll. So sollte eine Geschlechterparität zustande kommen. Dem haben die allermeisten Regierungen (Ausnahme: Bulgarien) aber nicht entsprochen.
Zu wenige Frauen
„Das ist nicht unbedingt ein Protest oder Negieren dieses Wunschs, sondern vielfach der jeweils nationalen Innenpolitik geschuldet. Da gibt es viele verschiedene Gründe“, sagt Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE), zur WZ. Dazu zählen etwa das „Wegloben“ eines unliebsamen Rivalen nach Brüssel genauso wie der Wunsch, dass der/die bisherige Kommissar:in im Amt bleibt.
Eine gewisse Ignoranz ortet hingegen Andreas Maurer, Politikwissenschaftler an der Universität Innsbruck: „Ich fand es doch überraschend, dass dieser Anforderung fast niemand nachgekommen ist.“ Das geplante Ziel der Geschlechtergleichheit wurde jedenfalls verfehlt: Auf 16 Männer in der neuen EU-Kommission kommen nur elf Frauen – ein Anteil von nur 40 Prozent. Und auch die Verteilung der einzelnen Ressorts auf fachlich geeignete Personen wurde dadurch nicht einfacher.
Auch die österreichische Regierung nominierte bloß einen Kandidaten: Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP). Er soll nun Kommissar für Migration werden, nicht unbedingt sein angestammtes Fachgebiet. Die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler, zuletzt mit ihrem Ja zum EU-Renaturierungsgesetz in Ungnade gefallen, stand hingegen nicht auf dem österreichischen Ticket. Grund dafür dürfte auch die ÖVP-Machträson sein: Immerhin waren mit Franz Fischler, Benita Ferrero-Waldner und Johannes Hahn alle bisherigen österreichischen Kommissare von der Volkspartei nominiert.
Bevor die neue Kommission feststeht, müssen sich die angehenden Kommissar:innen nun einem Hearing durch Kleingruppen des Europäischen Parlaments stellen. Darin geht es neben fachlicher Eignung auch um die Motivation.
Aufwändiger Hearing-Prozess
Diese Hearings, die 1995 eingeführt wurden, sind durchaus entscheidend: Am Ende muss schließlich das EU-Parlament in seiner Gesamtheit für die neue Kommission stimmen. Sollte ein:e Kandidat:in das vorangegangene Hearing nicht bestehen, muss der betreffende Staat jemand anderen nominieren.
Auffällig: Unter den 27 nominierten Kandidat:innen sind viele aktive Minister:innen. „Damit geht eine gewisse Erwartungshaltung einher, dass diese Personen ein ihrem Ministeramt entsprechendes Ressort in der Kommission erhalten“, sagt Maurer. Der Haken dabei: In der Gesamtheit sind die Kompetenzen der Nominierten nicht unbedingt deckungsgleich mit allen Anforderungen.
„Es ist ein riesiges Puzzle. Ursula von der Leyen musste neben Geschlechterparität auch nationale Interessen, Sachwissen und Personalia unter einen Hut bringen“, sagt Christine Neuhold, Politikwissenschaftlerin und Expertin für demokratische Regierungsführung an der Universität Maastricht.
Neuhold ortet etwa eine recht große Zahl an Finanzexpert:innen, die diesmal nominiert wurden. Am Ende gebe es aber nur begrenzt viele inhaltlich entsprechende Ressorts. „Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, hätte ich mit mehr Nominierungen für die Themen Umweltschutz, Klima, soziale Fragen oder digitale Kompetenzen gerechnet“, sagt die Expertin.
So kam es fast zwangsläufig dazu, dass sich Kommissar:innen in Ressorts wiederfinden, in denen sie noch keine Vorerfahrung oder Kompetenzen haben. Doch auch mit dieser Frage, ob die richtige Person das entsprechende Ressort behandeln soll, werden sich die Hearings befassen.
Die Themen: Ukraine, Klima, Wirtschaft
Womit wird die neue Kommission inhaltlich zu tun haben? Viele Aufgaben liegen auf der Hand: Der Ukrainekrieg tobt weiterhin, die europäische Wirtschaft ist angeknackst, der European Green Deal eine immense Herausforderung. Dazu kommen der Krieg in Nahost, wo Europa allerdings nur wenig Gewicht hat, sowie die mögliche drohende US-Präsidentschaft von Donald Trump. Und Ungarns Premier Viktor Orbán wird weiterhin wichtige gemeinsame Projekte blockieren und versuchen, das meiste für sich herauszuholen.
„Bei vielen Themen sind die Pflöcke bereits eingeschlagen. Jetzt geht es um die Umsetzung“, sagt ÖGfE-Experte Schmidt. Mit Blick auf von der Leyens Antrittsrede sieht er auch neue Schwerpunkte: erschwinglichen Wohnraum, Gleichstellung, Generationengerechtigkeit und den Mittelmeerraum. Ein wichtiges Thema, werde auch Sicherheit und Verteidigung sein – Bereiche, in denen die EU bisher kaum Kompetenzen hatte. Dies könnte sich ändern, auch vor dem Hintergrund einer möglichen Wiederwahl von Donald Trump, der bekanntlich das amerikanische NATO-Engagement in Europa zurückfahren will.
Machtfaktoren spielten bei der Zusammensetzung der neuen Kommission ebenfalls eine Rolle: Traditionell wollen große Länder wie Frankreich, Italien und Spanien prestigeträchtige Ressorts. Aber auch die Osteuropäer fordern seit Jahren und durchaus berechtigt mehr Einfluss ein. Ein erstes Zugeständnis in diese Richtung war die Ernennung von Kaja Kallas als Hohe Außenrepräsentantin. Die estnische Premierministerin folgt auf diesem Posten dem Spanier Josep Borell nach.
Fraglich ist, wie von der Leyen ihre zweite Amtszeit anlegen wird. Sie kann kein drittes Mal wiedergewählt werden, ist also von den Mitgliedstaaten – und deren Votum für sie – unabhängig. „Inwieweit sich von der Leyen tatsächlich freispielt, liegt vor allem an ihr selbst“, sagt Maurer. Er rechnet eher nicht mit großen Änderungen, sondern weiterhin mit einer teilweise zu engen Anknüpfung an die Mitgliedstaaten.
Nicht ohne Kompromisse
Ganz ohne Kompromisse geht es freilich auch nicht: Schmidt verweist in dem Zusammenhang darauf, dass sie den Staaten bereits viel zugemutet hat, etwa was die Ukrainehilfe betrifft. Insofern sei ein Nahverhältnis zu den einzelnen Ländern sogar von Vorteil.
Die neue Kommission dürfte spätestens bis Jahresende fixiert sein. Dass das Europäische Parlament so viel Mitsprache bei der Zusammensetzung der neuen EU-Exekutive hat, ist laut den befragten Expert:innen ein demokratiepolitisches Musterbeispiel. „Wir sehen, dass dieses Anhörungsverfahren immer ernster genommen wird. Das Parlament ist sehr gut vorbereitet. Es kann zeigen, dass es politische Muskeln hat und seine Kontrollfunktion ernst nimmt“, sagt Neuhold. Der bevorstehende Kommissionspoker, mit all seinen Hürden und nationalen Begehrlichkeiten, ist zumindest demokratiepolitisch gut abgesichert.
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