Startseite Kultur Erstmals kein Mann bei einem Abo-Konzert der Wiener Philharmoniker

Erstmals kein Mann bei einem Abo-Konzert der Wiener Philharmoniker

von Max

Die Abonnementkonzerte der Wiener Philharmoniker sind, egal, welchen Maßstab man anlegt, keine normalen Konzerte. Jedenfalls, weil man hier eines der allerbesten Orchester der Welt im Austausch mit den Top-Dirigenten hören kann. Und darüber hinaus, weil man hier alle paar Wochen im Kleinen das Land im Großen erleben kann: Die Konzerte sind jener Ort der Alpenrepublik, an dem man zu den vielleicht schönsten Hörerlebnissen, die man im Leben haben kann, das Land bei der Selbstbeobachtung beobachten kann. 

Denn wer ein Abo ererbt oder ersessen hat (man wartet immer noch viele Jahre, bis man eines erwerben darf), hat etwas hochzuhalten, das man gewichtig auf die gesellschaftliche Goldwaage legen kann.

Und hier werden, wo gibt es das sonst noch, die alten Rituale der Kulturnation mit allen Mitteln verteidigt: Man knurrt „deppate Touristen“, wenn jemand – huch – die Applausordnung nicht einhält. Die Abokonzerte sind, kurz gesagt, nicht der Ort, von dem aus die Republik rasant in die Zukunft eilt.

Und sie bewegen sich doch.

165 Jahre

So kommt es nun, dass 165 Jahre nach dem ersten Abokonzert an diesem Wochenende im Musikverein erstmals eine Frau am Pult steht.

Die Frage, wie man an so einen Moment herangeht, beantwortet Mirga Gražinytė-Tyla auf unterspielende Art: Statt irgendeines Hit-Werkes, mit dem man eventuell sich sträubende Herzen im Orchester oder im Publikum für sich gewinnen könnte, gibt es zum Auftakt ein mal bedrohlich, mal sehnsüchtig herumstehendes zeitgenössisches Stück ihrer Landsfrau Raminta Šerkšnytė. 

Da hat man, auch gut, genügend Zeit, darüber nachzudenken, was für einem Moment man hier eigentlich beiwohnt: Ist es ein historischer – und wenn ja, nach welchen Maßstäben?

Dass Frauen in der Kunst gleichwertig befähigt, wenn auch strukturell immer noch benachteiligt sind, muss man selbst am Abo-Pult nicht mehr etablieren. Andererseits erobert Gražinytė-Tyla hier wirklich eine Bastion, die einst unerklimmbar schien. Am Schluss des „Midsummer Song“ denkt man, okay, es ist halt historisch auf österreichische Art: Hier wird alles geschichtsschwer, wenn man es nur an der Vergangenheit misst.

Aber dann ist eh Schluss mit dem Nachdenken: Yuja Wang hämmert bei Tschaikowskijs Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 mit Furor jeden müßigen Gedanken aus dem Kopf. Was für eine existenzielle Wucht! Gražinytė-Tyla verschwindet hinter dem Steinway-Flügel; auch manche Nuance im Andantino sollte abhandenkommen, das Ganze stand aber ohnehin im Zeichen der Hochspannung: Wang lehnte sich derart in die Töne, dass es sie vom Hocker riss. Das Publikum feierte Pianistin, Dirigentin und Orchester lautstark. 

46-214951336

Wenn Gražinytė-Tyla hier noch nicht alle Herzen eroberte, dann schaffte sie das wohl bei der Zugabe: Sie sollte für Wang am Tablet die Noten weiterblättern – und scheiterte gleich beim ersten Mal auf sympathische Art; die kurze Verwirrung sorgte für viel Lächeln.

46-214953040

Dann demonstrierte sie noch, dass sie bei Sibelius‘ Lemminkäinen-Suite abstrakt-energetische Dinge ortet, die man beim ersten Hören nicht mitbekommt. Am Schluss: Langer Applaus und das Bewusstsein, dass ein kleiner Schritt auch manchmal ein großer sein kann.

über uns

Wp logo2

Damit wir Ihnen möglichst schnell weiterhelfen können, bitten wir Sie, je nach Anliegen über die hier genannten Wege mit uns in Kontakt zu treten.

Aktuelle Nachrichten

Newsletter

2020-2022 – Wiener Presse. Alle Rechte vorbehalten