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Europa ist ja so nachhaltig – na und?

von Max

Nur weil wir die Umweltverschmutzung nicht sehen, heißt das nicht, dass sie nicht da ist.

Ich habe in der vergangenen Woche an einer Uni eine sehr internationale Klasse in Sachen Nachhaltigkeitskommunikation unterrichtet. Es war so unglaublich toll: Da saßen knapp 20 Leute vor mir, alle so etwa Mitte Zwanzig, aus 18 verschiedenen Ländern – und nur zwei kamen aus Europa. Die anderen: Nepal, Äthiopien, Guatemala, Uganda, Philippinen, Ghana, Indonesien, Aruba, Brasilien und viele Länder mehr. Diese Gelegenheit musste ich einfach nutzen: Ich fragte sie, was ihr Eindruck von Europa und Nachhaltigkeit ist. Wir selbst halten uns ja oft für die Besten, was das angeht. Aber sind wir es?

Die Antworten waren hart, direkt und ehrlich. In Summe lassen sie sich zusammenfassen mit einem „Ist ja eh lieb, dass ihr recycelt und dass es so sauber ist bei euch, aber das geht ja auch leicht, wenn man die Umweltverschmutzung einfach auslagert in andere Länder“. Und ich musste ihnen da sehr eindeutig recht geben.

Nur so als Beispiel: 2023 wurden 35 Millionen Tonnen Müll in Länder außerhalb der EU exportiert. Seit 2004 haben diese Ausfuhren um 72 Prozent zugenommen. Textilien, Plastik, alles geht raus. Aber hey, wir recyceln doch eh auch! Yay!

Wir importieren Billigstwaren und exportieren Müll

Gleichzeitig bestellen wir etwas, das ich gerne Pre-Consumer-Müll nenne, in Massen aus China und anderen Ländern. Große Hersteller von Billigstprodukten wie Temu oder Shein versenden gerne in kleineren Paketen, um einen geringeren Warenwert zu erreichen und so den Zoll zu umgehen. Im Jahr 2023 wurden täglich etwa 12 Millionen Pakete mit geringem Warenwert in die EU importiert, was einer Verdoppelung im Vergleich zum Vorjahr entspricht – ein erheblicher Teil davon stammte übrigens von den Schrotthändlern Temu, Shein und Alibaba. Die Produktion dieser Waren geht oft einher mit Umweltzerstörung und -verschmutzung, da die entsprechenden Umweltgesetze in den Produktionsländern schlicht noch nicht vorhanden sind.

Die EU hat sich dankenswerterweise beider Herausforderungen angenommen – es wurde sowohl eine erhebliche Einschränkung der Müllexporte beschlossen als auch strengere Kontrollen gegen die genannten Händler und eine Abschaffung der Zollbefreiung für Sendungen unter 150 Euro Warenwert.

Was würde passieren ohne Müllexporte?

Macht mal das Gedankenspiel, was passieren würde, würde die EU gar keinen Müll mehr exportieren dürfen. Um all diese Tonnen in europäischen Anlagen zu verarbeiten, dazu fehlen derzeit die Kapazitäten. Würde jedoch doch alles verbrannt werden, hätten wir signifikant höhere CO2-Emissionen und eine massive Feinstaubbelastung, und auch andere Schadstoffe würden die Luftqualität gewaltig beeinträchtigen. Würde deponiert werden, würde das sehr viel mehr Platz verbrauchen, der dann als Ackerfläche fehlt. Methan würde emittieren und Böden und Grundwasser verseuchen. Es gäbe immense Berge von Altkleidung, Plastikverpackungen und Elektroschrott.

All das sieht man aber nicht, weil die EU genau diese potentielle Belastung umgeht, indem der Müll exportiert wird. Und die Student:innen von letzter Woche kommen teilweise aus Ländern, wo sie die Müllberge von uns sehen, atmen und riechen müssen.

Doch es ist nicht nur diese Rein-Raus-Rechnung, die sich wohl bald nicht mehr ausgeht. Europa ist stark reguliert – und Nachhaltigkeit steht glücklicherweise immer noch auf der Agenda der Kommission. Ungebremster Turbokapitalismus wie andernorts ist hier so schnell nicht möglich – und das ist gut so. Wir haben hier über weite Strecken im internationalen Vergleich gute Arbeitsrechte und hohe Umweltstandards. Dennoch ist das kein Grund, sich überlegen zu fühlen. Wir sind in Europa nicht „besser“ oder „nachhaltiger“ – und vor allem, wir sollten es nicht sein.

Wir stecken da sowieso gemeinsam drin

Die grenzüberschreitende und immer drängender werdende Müllproblematik, der überbordende Ressourcenverbrauch, der durch den Überkonsum in der ersten Welt angetrieben wird, das sich global immer weiter beschleunigende Wachstum des Energieverbrauchs (während wir zwischen 2010 und 2019 pro Jahr global durchschnittlich 1,5 Prozent mehr Strom als im Vorjahr nutzten, liegt die Prognose für 2025 bis 2027 bei ganzen vier Prozent, weit über dem historischen Durchschnitt) – all diese Dinge wirken sich global aus und müssen auch global gedacht werden.

Natürlich ist es leiwand, wenn Österreich Schritte setzt. Noch wichtiger sind Schritte der EU, weil das der größere Hebel ist. Und ja, in einigen Bereichen ist die EU weiter als andere Gebiete der Erde. Gleichzeitig sind wir durch unseren massiven Überkonsum und hohen Energiebedarf hinter anderen Ländern. Und am Ende des Tages sollte es gar kein Wettrennen sein, in keine der beiden Richtungen.

Das haben mir die Student:innen mit ihren vielen unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen mal wieder sehr deutlich klar gemacht: Diese ganze Diskussion rund um die Frage, wer in Sachen Nachhaltigkeit und Klimaschutz „besser“ ist, wer „Vorreiterland“ ist, das ist doch am Ende des Tages komplett schnurz (und hat den bitteren Nebengeschmack von Populismus, übrigens).

Maßnahmen müssen alle setzen, und zwar mehr als je zuvor – Österreich, die EU, alle. Doch dieses Framing von wegen „Wer ist der bravste Recycler“ muss aufhören, solange es keine ehrlichen Lösungen ohne Bauernopfer gibt. Weil – und das sollte uns sowieso allen klar sein, aber anscheinend muss man es hin und wieder auch aussprechen – wir hängen da sowieso alle gemeinsam drin. Alle, alle, alle.

Nunu Kaller schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Nachhaltigkeit. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.


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