Eine Altlinke, die sich ihr Gasthaus mit Neonazis teilen muss. Ein CDU-Ministerpräsident, der gegen einen Rechtsextremen zu verlieren droht, den sogar der Verfassungsschutz beobachtet. Ein linker Landesvater, der vor zehn Jahren noch als extrem galt, heute aber längst in der Mitte der Gesellschaft regiert.
Es hat sich etwas verschoben im Osten Deutschlands. Wenn am kommenden Sonntag gewählt wird, könnte in Thüringen und Sachsen die rechtsextreme AfD gewinnen, und auch die Ex-Linke Sahra Wagenknecht steht vor einem Wahlerfolg – mit ihrem Programm, das links und rechts vereint. Die Berliner Regierungsparteien spielen da kaum mehr eine Rolle – das wird Folgen für das ganze Land haben.
Wie ist das passiert? Klare Antworten hat kaum wer. Manche deuten auf die DDR-Vergangenheit, auch auf die zu wenig aufgearbeitete Diktaturgeschichte der NS-Zeit. Für andere ist es die Inkompetenz mancher Politiker, vor allem jener der Mitte. Die Flüchtlingskrise wirkt nach.
Für die Menschen dort ist das doppelt schwierig. „Typisch Osten“, heißt es oft in den Medien, der Westen beobachtet das Ganze mit distanzierter Irritation. Zwischen den Polen sind aber viele Geschichten und Menschen, die sich nicht in Schubladen stecken lassen. Der KURIER hat ihnen zugehört.
Die Altlinke
Lydia Rommel ist das, was von der linken Punkszene der 90er übrig geblieben ist. „Damals prügelte ich mich mit Nazis auf der Straße“, sagt die Ende 40-Jährige (Bild), sie zieht an ihrer Zigarette.
Sahra Wagenknecht hat gerade in der 40.000-Einwohner-Stadt Eisenach gesprochen, hier in Thüringen, wo mit Bodo Ramelow der einzige linke Ministerpräsident Deutschlands regiert. Für viele Westdeutsche war seine Wahl 2014 ein Unfall der Geschichte, jetzt sind aber auch hier die Rechten groß, und mitunter sitzen die Gegensätze in derselben Kneipe.
„Hier kommen alle her, aber am selben Tisch sitzen wir nicht“, sagt Rommel. Sie raucht, in der „Altdeutschen“ darf man das noch. Am Nebentisch spielt ein Ex-Stadtrat der neonazistischen Kleinpartei NPD Karten.
Rommel ist Seniorenbetreuerin, eine alte Linke-Wählerin. Stundenlang kann man mit ihr am Stammtisch politisieren, über Lokal- und Weltthemen. Das Schlimmste sei der Rechtsextremismus; nie, sagt Rommel, würde sie AfD wählen. Sie sei gegen das Nach-unten-Treten auf Flüchtlinge, aber auch gegen die Ampel in Berlin, „die Mogelparteien“, und den Krieg in der Ukraine. „Putin ist ein Arschloch, aber wir können nicht weiter und weiter Waffen schicken.“ Sie trinkt ihr Bier aus, bestellt ein neues.
Auch darum wird sie Wagenknecht wählen. Dass die Partei nach der Wahl mit der AfD Gesetze beschließen will? Ja, das gehöre in einer Demokratie eben dazu, sagt sie; es ist spät geworden. „Wenn dich wer am Heimweg blöd anpöbelt, dann sag’, du kennst Lydia. Wir sind wenige geworden, aber ich hab immer noch ’nen Ruf.“
Der CDU-Landesvater
„Unser Ministerpräsident, bei uns auf dem Markt!“ Frau Küchler ist aus dem Häuschen, als sie Michael Kretschmer (CDU) über den Schillerplatz im wohlsituierten Vorort Blasewitz laufen sieht. Der sächsische Landeschef lächelt der älteren Frau zu, „ja, so ist es“, nimmt sich Zeit für ein Foto. „Wenn ich das meinem Sohn schicke!“ Ob sie zufrieden ist mit ihm? „Ja, schon, super sympathisch ist er mir auch.“
Die rüstige Pensionistin muss weiter, zum Gemüsehändler. Dort kauft zufällig auch der einstige CDU-Minister Thomas de Maizière ein, einen orangen Einkaufskorb in der Hand.
Als er hier Staatsminister war, vor 25 Jahren, da hatte die CDU die Absolute. Damals begann ihr langsamer Abstieg, die Terroristen vom NSU zogen mordend durchs Land, der Ausländerhass war zurück in den Köpfen und auf den Titelseiten.
Heute stehen die Rechten davor, die Union von Platz eins zu verdrängen – und Kretschmer kämpft um sein politisches Überleben. De Maizière klopft Kretschmer auf die Schulter, die Geste hat etwas Ermunterndes. Seine Wahlkämpfe liegen weit hinter ihm.
Ausgangslage
Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) regiert mit SPD und Grünen,
er dürfte sein Amt behalten – selbst wenn die AfD auf Platz eins landet, mit ihr will niemand koalieren. Wie eine Koalition aussehen könnte, ist aber noch offen
Umfragewerte
Die CDU (33 Prozent) führt derzeit knapp vor der AfD (30 Prozent). Die Linke fiele mit vier Prozent aus dem Landtag, die Grünen kämen auf sechs Prozent, die SPD auf sieben, das BSW auf elf Prozent. Andere Kleinparteien, darunter neonationalsozialistische wie die Freien Sachsen, erhielten zusammen neun Prozent
66,5 Prozent
betrug die Wahlbeteiligung 2019
Der AFD-Wähler
Jannik bläst auf die Rückseite seines Handys, reicht es seiner Freundin, „pass auf, dass nicht verschmiert“. Auf der Handyhülle hat der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke unterschrieben. Ein Vorbild für den 19-Jährigen (Bild, rechts)? „Wählen werd’ ich ihn“, sagt er. Warum? „Weil er gute Dinge sagt.“
Auf der Bühne des AfD Sommerfestes in Erfurt: Höcke, wie ein Popstar von seinen überwiegend männlichen Anhängern empfangen, spricht über ein „neues Volk“, das sich die „Kartellparteien“ und „Regierungsextremisten“ schaffen wollten. Sie wollten das Land in eine „bunte, woke, totalitäre Diktatur verwandeln“, lassen „linksextreme Spinner in unsere Schulen, die erzählen, Geschlecht sei eine soziale Konstruktion, keine biologische Tatsache“. Mit der AfD habe das alles ein Ende. Bier und Thüringer Bratwürste werden verteilt, es gibt Kinderschminken und flugzeugförmige Luftballons – als Zeichen für die Abschiebungen, die Höcke verspricht.
Dass die AfD Höcke mehrfach loswerden wollte, weil er selbst den Rechstauslegern der Partei zu radikal war, dass er verurteilt ist, wegen eines SA-Sagers, das wirkt wie Folklore. Platz eins ist ihm am Sonntag so gut wie sicher, und selbst wenn ihn niemand von den anderen Parteien als Ministerpräsident haben will, ist klar: An Höcke kommt in Thüringen keiner vorbei.
Die Menschen, immerhin fast ein Drittel des Landes würde ihn wählen, erreicht er mit der klassischen „die kriegen zu viel, wir zu wenig“-Rhetorik. Naja, sagt auch Jannik, rückt seine Kappe zurecht, „ich stimm’ ja nicht mit allem überein.“ Aber: „Viele Leute kommen her und kriegen Geld in die Tasche gestopft. Ein Klassenkamerad von mir, der war Flüchtling, gegen den hab ich nichts. Auch nichts gegen die Döner-Männer. Aber gegen die, die nachts am Platz sitzen und Leute anpöbeln.“ Bei ihm im Dorf gebe es keine Ausländer, „aber in der Stadt“.
Jannik ist Anlagenmechaniker für Heizung, Sanitär und Klimatechnik, dank der von der Berliner Ampel ausgerufenen Energiewende müsste er doch schön zu tun haben, oder? „Ja, aber es geht ja darum, dass wir mehr kriegen, als die, die nicht arbeiten – aber trotzdem in Designerklamotten rumlaufen.“
Der Unternehmer
„Zufrieden“ würde sich der Gastronom Sebastian Rölke nicht nennen. Nein, Rölke ist sichtlich aufgebracht: „Die SPD fordert, dass der Mindestlohn erhöht wird. Dabei haben sie doch gesagt, dass sich die Politik da raushält“, sagt der Unternehmer (Bild).
Sachsens CDU-Ministerpräsident Kretschmer steht in Dresden neben ihm und hört geduldig zu; erinnert, das sei alles Bundessache, und dort sitze die CDU in der Opposition. Man müsse die Ursachen bekämpfen, nicht die Symptome, sagt er, Sachsen attraktiver für Fachkräfte aus dem Ausland machen. Neben ihm steht ein Wahlkreisabgeordneter, sagt „Sachsen ist zu fremdenfeindlich“ – und das von einem CDUler.
Doch der Gastronom lässt nicht locker, „das hilft mir akut nicht weiter“, sagt er, stichelt. Irgendwann ist es Kretschmer zu viel. „Ich hab’ versucht, 50 Kirgisen anzuwerben, die sind jetzt in Bayern. Dort geht es, der Westen ist anders, die Luft anders, was weiß ich“, lässt er seinem Frust Lauf. Für die Hälfte der offenen Stellen in Sachsen gibt es keine geeigneten Bewerber, sagt die Statistik, und weil im Osten die Menschen durch den Wegzug vieler Junger immer älter werden, ist das nicht so einfach zu lösen. Kretschmer sagt, er „werde beharrlich weiterarbeiten, aber dafür müssen Sie auch schauen, dass die CDU, die einzige politische Kraft der Mitte, die es noch gibt in Sachsen, stark genug wird“.
Hat Kretschmer Rölke überzeugt? „Seit ich wählen kann, wähle ich CDU. Welche Alternative hab’ ich denn?“
Die Soziologin
Sarah Sommerfeld hat gezögert, dem Interview zuzustimmen. Sie wolle nicht, dass der Osten als „dummer, rechter Moloch“ dargestellt werde, sagt die junge Frau mit den kurzen braunen Haaren. Einige ihrer Erzählungen werden dennoch in diese Kerbe schlagen.
Sie sitzt in einem alternativen Café in der Dresdner Altstadt. Die Soziologin arbeitet für eine Bildungsinstitution, hält Workshops zu „geschlechtersensibler Berufsorientierung“ in Schulen in ganz Sachsen, ein Kulturkampfthema. Gendern, das ist für Björn Höcke und seine Partei ein Schimpfwort, und das überstrahlt in den Medien jede noch so gute Initiative. „Wir reflektieren Geschlechterklischees und versuchen, die Jugendlichen in ihrer Berufswahl zu unterstützen“, sagt sie nüchtern.
In Dresden, wo die rechtsextreme Pegida groß wurde, wo sich aus der Bombardierung der Alliierten und die Zerstörung der Altstadt 1945 noch immer politisches Kapital schlagen lässt, ist das alles noch ein Stück komplizierter. Sommerfeld sagt, dass schon die 13- bis 16-Jährigen politisiert seien. „Oft kommt eine Abwehrhaltung, selbst wenn wir über die Ungleichbezahlung von Frau und Mann sprechen. Oder wir werden gefragt, was das mit dem Gender-Gaga soll – sowohl von Jungen als auch Mädchen“, sagt sie. Die Kinder würden fragen, „ob wir die AfD scheiße finden“, Grüne und Linken wählen.
„Oder sie werfen uns vor, wir wollten sie indoktrinieren, und wir sollen nicht gendern, das ist verboten.“ Im CDU-regierten Sachsen stimmt das sogar, ab kommendem Jahr gibt es Punkteabzug fürs Binnen-I. Ob das ein Zugeständnis an den Druck von rechts ist, darüber wird gestritten. Sommerfeld sagt, dass sie und ihr Kollege auf politische Diskussionen nicht immer einsteigen. „Wenn das Thema dominiert, antworten wir mit Gegenfragen, und versuchen, einen Reflexionsprozess anzuregen.“
Der fehle nämlich gerade dort, wo die Jugendlichen ihre Ansichten erhalten – daheim am Küchentisch oder in der „Bubble“ in den sozialen Medien. Schulen können das nicht immer leisten, es gibt Tausende unbesetzte Stellen, vor allem im Unterrichtsfach Politische Bildung . „Wir haben Schulen, in denen die Jugendlichen seit Jahren nicht mehr über Demokratie gesprochen haben. Wo sollen sie Demokratie dann üben?“, sagt sie.
Wird die AfD im Landtag stark genug, könnte es auch für Initiativen wie ihre eng werden. Sommerfeld hofft, dennoch weitermachen zu können: „Die Jugendlichen bedanken sich bei uns für das Gespräch über Demokratie – was eigentlich nicht unsere Aufgabe ist. Aber wir zeigen, dass man Meinungen aushalten muss, auch wenn das selbst für uns nicht immer leicht ist.“
Ausgangslage
Bodo Ramelow ist der einzige Ministerpräsident der Linken in Deutschland. Er führt mit SPD und Grüne eine Minderheitsregierung an, unterstützt von der CDU. In aktuellen Umfragen kommt die Linke aber nicht einmal mehr auf die Hälfte der Stimmen, von 2019
Umfragewerte
Die AfD ist unangefochten am ersten Platz (30 Prozent), koalieren will mit ihr aber keiner. Wer regieren wird, ist völlig offen: Danach folgen CDU (23), das BSW (17) und Die Linke (14 Prozent). Die SPD würde sechs Prozent erreichen, die Grünen würden mit vier Prozent den Einzug in den Landtag verpassen
64,9Prozent
betrug die Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl 2019
Der linke Landesvater
Zwischen den Plattenbauten des Jenaer Stadtteils Lobeda, wo Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow sitzt, wollte wenige Tage zuvor eigentlich Björn Höcke auftreten. Eine Demo hat das verhindert. Ramelow, ganz Ministerpräsident, rügt das – „ob’s mir schmeckt oder nicht, angemeldete Veranstaltungen müssen stattfinden können“. Zwei Mitte-20-Jährige, die dabei waren, sagen stolz: „In Jena ist Höcke noch nie rein. Das macht mich richtig stolz, von hier zu sein.“
Jena, das war jene Stadt, wo der NSU mordete. Zehn Opfer zwischen 2000 und 2006, allesamt Migranten, Die Aufklärung? Mehr als schleppend, der Verfassungsschutz galt als von Rechtsextremisten unterwandert.
Sachsen und Thüringen plagen sich schon lange mit dem Vorwurf, am rechten Auge blind zu sein, auch darum wurde Ramelow das, was er jetzt ist. Wenn er heute spricht, hören ihm viele Ältere, viele Frauen zu. Seine Leute gehen von Haus zu Haus, wie früher, auch Sigrid Jähnig (Bild) besuchten sie. „Ich bin zu dem jungen Mann raus, plötzlich ist hinter mir die Tür zugefallen“, sagt sie, nippt an ihrer Weißweinschorle. 135 Euro wollte der Schlüsseldienst, richtig viel für die 86-Jährige. Bezahlt hat das die Linkspartei, ein Wahlkampfgeschenk, irgendwie. Gibt Jähnig der Linken jetzt ihre Stimme? „Das hätte ich sowieso, ich war immer links eingestellt.“ Schon in der DDR war sie Parteimitglied, sagt sie, damals bei der SED.
Der Aktivist
Reichsflaggen, manchmal auch Hitlergrüße. Seit 2014 zieht Pegida durch Dresden, anfangs regten sich viele auf, vor allem im Westen. Heute ärgern die Aufmärsche meist nur mehr die politischen Gegner.
An diesem Sonntag gehören die Straßen in der sächsischen Hauptstadt darum „der großen, sonst schweigenden Gruppe Menschen, die sich gegen Demokratiefeindlichkeit stellen“, sagt Joshua (Bild). Der 27-Jährige ist Teil von „Wir sind die Brandmauer Dresden“, das Bündnis steht keiner Partei nahe, gegründet hat es sich nach dem Potsdamer AfD-Treffen, auf dem bekanntlich Deportationspläne diskutiert wurden. Bei den ersten Demos im Februar waren allein in Dresden gut 40.000 Menschen.
Joshua stammt aus Zittau, dem sächsischen Zipfel an der Grenze zu Tschechien und Polen. Ein Ort, von dem die Jungen wegziehen, „die Schuppen, in denen ich früher war, gibt es nicht mehr“, übrig blieb fremdenfeindliche Stimmung. Die Umfragewerte der AfD besorgen den Kinderpädagogen, „aber noch schlimmer ist, dass noch viel mehr Wähler es in Ordnung finden, mit der AfD zusammenzuarbeiten. Diese Normalisierung ist das, was mich wirklich ankotzt.“ Und ihn heute auf die Straße treibt.