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Fake News: Wie Nichtwissen entsteht und erzeugt wird

von Max

Migrant:innen verspeisen Hunde und Katzen zum Frühstück. Die verantwortlichen Gewalttäter:innen für den Sturm auf das Kapitol mit fünf Toten und hunderten Verletzten sind keine Kriminellen, sondern patriotische US-Bürger:innen. Den Klimawandel gibt es nicht. Die Waldbrände in Kalifornien lassen sich nur darum nicht löschen, weil das Wasser von Umweltschützer:innen für bedrohte Fischarten verwendet wird. Das Pferde-Entwurmungsmittel Ivermectin ist eine wirksame Medizin gegen Corona. Ebenso wie Vitamin D. Forschung zu Impfungen ist kategorisch abzulehnen, weil sie nichts bringt und nur Zwänge auslöst. Selbst die Wirkung des Polio-Vakzins ist nicht nachgewiesen.

All diese Meldungen sind falsch. Angesichts dieser geballten Fake News, die uns von Bildschirm, Radio oder aus sozialen Medien entgegenblecken, fragen sich viele Menschen einigermaßen fassungslos, wie derartiger Schwachsinn entsteht und auch noch seinen Weg in die Öffentlichkeit findet. Prominente Persönlichkeiten stellen die unglaublichsten Behauptungen auf, obwohl eigentlich schon mit ein bisschen Nachdenken klar wäre, dass sie nicht stimmen können. Wie ist es möglich, dass derartig viel Unwissen und Falschinformation unwidersprochen über diverseste Kanäle ausgespielt werden kann?

Die Lehre vom Nichtwissen

Diese Frage versucht eine junge Wissenschaftsdisziplin zu beantworten. Die Agnotologie, die Lehre vom Nichtwissen, hat sich zum Ziel gesetzt, die Mechanismen zu erforschen, die solch haarsträubenden Unsinn entstehen und für manche glaubwürdig erscheinen lassen. Der Begriff kommt ursprünglich aus dem Altgriechischen und steht für „ohne Wissen“ oder „ohne Erkenntnis“. Die Forschungsrichtung untersucht die kulturelle Erschaffung und Aufrechterhaltung von Unwissen, also wie Unwissen durch Manipulation, irreführende, falsche oder unterdrückte Informationen, Zensur oder andere Formen der Selektivität geschaffen oder gesichert werden kann.

Im Wesentlichen unterscheiden die Forschenden drei Faktoren, die den gegenwärtigen Wildwuchs an Fake News ermöglichen. Da ist zunächst einmal der unterschiedliche Zugang. „Wissen ist nicht etwas, das alle Menschen zu gleichen Bedingungen und in gleichem Maße haben“, erklärt die Philosophin Sonja Riegler, die sich in ihrer Arbeit dem Nichtwissen und den damit verbundenen politischen Fragen zuwendet, im Gespräch mit der WZ. Wissen hänge grundsätzlich davon ab, welche Zugänge wir haben. Die Startbedingungen sind abhängig von Geburtsort, Familie und Schulbildung. Mit unserem Werdegang, unseren Erfahrungen und nicht zuletzt dem Grad der Neugier entwickeln und prägen wir unser Wissen und bauen einen Wissensschatz auf. Auch das Zeit- und Geldbudget spielt eine Rolle. „Sich mit Themen zu befassen und Informationen zu prüfen, erfordert Zeit und kann kostspielig sein“, sagt Riegler zur WZ: „Wissen hat nicht nur mit der Frage zu tun, ob uns Bildung vererbt wurde oder nicht, sondern auch mit unserer Lebensrealität.“

Eine Frage der Zugehörigkeit

Das bringt uns zu Faktor zwei: Denn aus dieser Lebensrealität und den damit verbundenen Verantwortungen, Zwängen, Interessen und Wünschen heraus wählen wir Gruppen, denen wir angehören wollen, und Menschen, mit denen wir uns umgeben. „Was wir wissen, hat immer mit Positioniertheit in der Gesellschaft, sozialer Identität und Gruppenzugehörigkeit zu tun“, betont Riegler.

Statt zu prüfen, ob etwas stimmt, geben wir dem Verlangen nach Bestätigung nach.

Tim Crane, Philosoph

Die Digitalisierung hat diese Gruppen zahlreicher und diverser gemacht, aber zugleich auch voneinander abgeschottet. Denn Social Media bieten nur Zugänge zu Informationen, die wir uns selbst aussuchen. Mit unserer Themenwahl schließen wir zwangsläufig viele Themen aus. Was wir nicht wählen, davon erfahren wir nichts. Zugleich sind Gruppen heute reaktiver, als sie es noch zu analogen Zeiten waren. Man ist aufgefordert, sich zu äußern, sich zu zeigen, und in dieser schnellen Reaktionsdynamik können sich ungeprüfte Behauptungs- und Beschimpfungsdynamiken zu Lawinen der Falschinformation formen, die den Geist mit polterndem Unwissen zuschütten.

Was gestern noch wissenschaftlicher Konsens war, wird heute fast schon destruktiv hinterfragt. Impfungen sind einer der größten Erfolge der Menschheitsgeschichte − und dennoch werden sie zerpflückt. Niemand hat jemals beobachtet, wie eine Migrant:innenfamilie eine Katze gegrillt hat − und dennoch konnte US-Präsident Donald Trump ein Bild davon ins Bewusstsein zahlreicher Amerikaner:innen setzen. Verblöden wir im Informationszeitalter?

Nicht dümmer, sondern rechthaberischer

„Die Menschen sind nicht dümmer als früher. Aber sie sind rechthaberischer“, sagt der britische Philosoph Tim Crane zur WZ. „Was wir nicht wissen, darüber wollen wir nicht mehr schweigen. Sondern wir suchen Gleichgesinnte, die unsere Ansichten teilen, und behaupten einfach, dass das stimmt, was wir ungeprüft verbreiten“, führt Crane aus.

Die Erkenntnis „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, mit der der griechische Philosoph Sokrates die Grenzen seines Wissens kenntlich macht und bedeutet, offen zu sein für neue Lerninhalte, tritt also immer seltener ein. Die Bereitschaft, sich an Expert:innen zu wenden, um einen korrekten Sachverhalt in Erfahrung zu bringen, sei gegenüber dem Drang nach Selbstbestätigung ins Hintertreffen geraten, sagt Crane. „Statt zu prüfen, ob eine Information richtig ist, geben wir unserem menschlichen Verlangen nach Bestätigung zunehmend bereitwilliger nach“, erklärt der Professor für Philosophie an der Central European University in Wien. „Eines der Probleme an der Menge an Informationen im Internet ist nicht so sehr, dass sie die Menschen dazu bringt, falsche Dinge zu glauben, sondern, dass es ihnen eine sofort zugängliche Rechtfertigung für genau die Dinge gibt, die sie ohnehin annehmen − anstatt sie dazu zu bringen, vernünftiger und vorsichtiger zu sein, kritisch zu denken und Experten zu vertrauen. Dies untergräbt den Wissensgewinn.“

Wissenschaft ist die organisierte Suche nach Wahrheit durch den Einsatz anerkannter Methoden. Sie beruht auf einem Prozess, der von einer Hypothese ausgeht, und diese mit einem passenden Experiment oder einer mathematischen Berechnung widerlegt oder bestätigt. Die Voraussetzung für diesen Wissensgewinn ist eine grundsätzliche Haltung der Offenheit gegenüber neuen Erkenntnissen.

Wir sehen die Welt, wie sie uns gefällt

Dies wünscht sich zwar eine sehr breite Mehrheit − immerhin finden 84 Prozent der österreichischen Bevölkerung, dass mehr gegen die Verbreitung von Fake News unternommen werden muss, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse namens ,,Fake News. 2024“ bestätigt. Doch viele halten sich selbst nicht daran und verbreiten in ihrer Blase erst recht alle möglichen ungeprüften News.

Noch nie war es so leicht, falsche ,Fakten‘ und Unwissenheit zu verbreiten.

James Gacek, Soziologe

Und damit sind wir bei Faktor drei: Vielen ist eine Welt, die sich auf unterschiedlichsten Ebenen permanent und teils rasend schnell ändert, zu komplex geworden. „Die Wahrheit ist anstrengend. Man muss Fakten verstehen und kritisch prüfen. Das kann arbeitsintensiv, belastend und unbequem sein − durch die globale Vernetzung und die Informationsverdichtung erst recht. Nicht selten bauen wir uns dann quasi Filter ein, mit Informationen, die für unser Weltbild oder unsere Interessen passend oder günstiger sind“, sagt die deutsche Transformationsforscherin Maja Göpel von der Leuphana Universität Lüneburg zur WZ. Inmitten der Komplexität unserer Welt sei es mühsamer geworden, Zusammenhänge zu verstehen. „Daher lässt sich durchaus nachvollziehen, dass viele Menschen auch aus einer Überforderung heraus sagen, lasst mich in Ruhe, ich mache so weiter wie bisher, oder ich tue, was meine Peers oder Vorgesetzten sagen“, sagte Göpel kürzlich am Rand eines vom Ball der Wissenschaften und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten Vortrags in Wien zur WZ.

Die Mechanismen von Unwissen und Fake News nutzen Gruppierungen und Politiker:innen, um ihre Ziele zu verfolgen. Verschwörungstheorien, Halbwahrheiten oder regelrechte Lügen: Alles ist erlaubt, der Zweck heiligt die Mittel. Und Nichtwissen ist politisch gesehen ein sehr mächtiges Mittel. Ob die Gesellschaft dabei polarisiert wird, scheint egal zu sein. „Natürlich sind liberale und demokratische Gesellschaften in Arbeitsteilung organisiert, bis hin zur Gewaltenteilung in der Politik. Genau deshalb werden diese Institutionen mit ihren methodischen Qualitätssiegeln auch als erstes von autokratischen Akteuren torpediert“, sagt Göpel.

Falschinformation als Machtinstrument

„Noch nie war es so leicht, falsche ,Fakten‘, Unwissenheit und Dummheit zu verbreiten wie heute“, resümiert auch James Gacek, Professor für Soziologie an der Regina University in Saskatchewan, Kanada, gegenüber der WZ. „Das konnte insbesondere anhand der konsequent inkonsistenten Berichterstattung während der Corona-Pandemie beobachtet werden. Man schnappte Informationsfetzen auf und anstatt sie nachzuprüfen, wurde einfach angenommen, dass sie der Realität entsprachen.“ Politiker:innen, die polarisieren und Information zu ihrem eigenen Vorteil nützten, würden auf eine Bevölkerung mit einer mangelnden Bereitschaft zu kritischem Denken treffen „und der zunehmenden Unfähigkeit, zu erkennen, welche Informationen wahr sind und welche falsch“.

Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind tatsächlich bedrohlich. Denn dieses Defizit kann und wird manipulativ als strategisches Machtinstrument ausgenützt. Und damit wird Nichtwissen nicht nur bei der Millionenshow zum Problem, sondern auch im sozialen Kontext zu einer Gefahr für unsere Gesellschaft. „So ist es“, erklärt Gacek am Beispiel seines Landes: „In Kanada sind heuer Wahlen und die Opposition legt ständig nahe, dass in Kanada nichts funktioniert, alles den Bach hinuntergeht, obwohl unser Bruttoinlandsprodukt im Lauf der Zeit gestiegen ist und das Gesundheitssystem durchaus viel leistet. Die Opposition steht der Linie von Donald Trump und den Tech-Milliardären nah. Sie baut ein Narrativ auf, dass sie die einzigen sind, die die Lösung haben und die Lage retten können“, sagt er. „Das ist komplett strategisch angelegt, und so wird Nichtwissen und Falschinformation zum Machtinstrument.“

Kritisches Denken steht auf dem Spiel

Für Gacek sind kritisches Denken und Empathie grundlegend für jeden Wissensgewinn. Wenn wir also zum Beispiel in einer Welt leben, in der freie Künste, die ja durchaus kritisch agieren, weniger oder gar nicht mehr gefördert werden, da mehr Wert auf Vermarktungsfähigkeit, Geschäfte, Handel oder Investments am Aktienmarkt gelegt wird, „dann könnten wir die Fähigkeit zum kritischen Denken verlieren“, warnt er. Kürzere, vereinfachte Studienpläne, die keine Reflexion über das Dasein als Mensch erfordern, könnten zwar schneller zum Abschluss führen und Studierende rascher ins Berufsleben bringen, aber persönliche Wissensentwicklung könnte dem Effizienzgedanken zum Opfer fallen. Sein Fazit: „Wenn wir jungen Menschen nicht die Möglichkeit geben, Gelerntes zu verarbeiten, zu hinterfragen und sich darüber auszutauschen, können sie ihr Wissen nicht teilen. Sie bewegen sich nur noch in ihren Blasen und verlieren die Fähigkeit, zu verstehen, wie Fakten entstehen, sich entwickeln und überprüft werden können.“

Die Entstehung und Verbreitung von Nichtwissen ist folglich ein in vieler Hinsicht faszinierendes neues Wissensgebiet. Die langfristigen Perspektiven dieser gesellschaftlichen Entwicklung sind allerdings mehr als düster. Katzenfleisch zum Frühstück? Wurmmittel gegen Corona? Umweltschutz als Ursache für Waldbrände? Eigentlich zum Lachen! Aber das Lachen könnte uns noch im Hals steckenbleiben.


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Infos und Quellen

Genese

Wie sähe eine Zukunft aus, in der Nachrichten in Qualitätsmedien, wissenschaftliches Arbeiten und objektive Kriterien zur Faktenfindung abgeschafft sind? Hoffentlich wird sie nie eintreten. Aber wenn etwas Derartiges zustande kommt, weil ungeprüfte Fake News echtes Wissen verdrängen, dann wäre es vielleicht wie im Mittelalter, als Minnesänger durchs Land zogen, um zu verbreiten, was sich im ganzen Land tat. Man würde aus aller Welt nur mitbekommen, was einem andere in Social-Media-Interessensgruppen so erzählen, oder was autoritäre Regimes einem zu wissen erlauben. Kritische Auseinandersetzungen und Faktenchecks würden nicht existieren. Freilich ist diese Vision überspitzt. Dennoch inspirierte sie WZ-Redakteurin Eva Stanzl dazu, zu recherchieren, wie Nichtwissen entsteht und wie Ignoranz verbreitet und durch Fake News am Leben erhalten wird.

Gesprächspartner:innen

  • Timothy Martin Crane, geboren am 17. Oktober 1962, ist ein britischer Philosoph, der sich auf die Philosophie des Geistes, die Philosophie der Wahrnehmung, die Philosophie der Psychologie und die Metaphysik spezialisiert hat. Er ist Dekan und Professor für Philosophie an der Central European University und Leiter des Exzellenzclusters zur Krise des Wissens in Wien.

  • James Gacek ist außerordentlicher Professor in der Abteilung für Justizwissenschaften an der Universität von Regina, Kanada. Er promovierte in Kriminologie an der Edinburgh Law School der Universität von Edinburgh und erforscht Mechanismen des Nichtwissens im Fachgebiet der Agnotologie.

  • Maja Göpel, geboren am 27. Juni 1976 in Bielefeld, ist eine deutsche Politökonomin, Transformationsforscherin, Nachhaltigkeitsexpertin und Gesellschaftswissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf transdisziplinärem Denken. Seit 2019 hat sie sich zunehmend auf Wissenschaftskommunikation spezialisiert. Göpel ist Honorarprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg.

  • Sonja Riegler, Philosophin, hat mit einer Arbeit zur „Epistemologie der Ignoranz“ an der Universität Wien promoviert. Sie erforscht politische Dimension des Nichtwissens anhand der sozialen Mechanismen, die es erzeugen und verbreiten.

Daten und Fakten

Agnotologie, aus dem altgriechischen ἀγνῶσις, a-gnō̂sis für „ohne Wissen“ oder „ohne Erkenntnis“ untersucht als Forschungsrichtung die kulturelle Erschaffung und Aufrechterhaltung von Unwissen. Ihr Erkenntnisgegenstand ist, wie Unwissen durch Manipulation, irreführende, falsche oder unterdrückte Informationen, Zensur oder andere Formen absichtlicher oder versehentlicher kulturpolitischer Selektivität geschaffen oder gesichert werden kann.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien

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