Georg Renner hat sich die Rahmenbedingungen für den Familiennachzug angesehen.
Österreich hat also einen Notstand. Oder zumindest hat die Bundesregierung einen solchen ausgerufen: Im Ministerrat am 12. März hat sie einstimmig beschlossen, „(…) alle notwendigen Schritte auf europäischer Ebene setzen und gleichzeitig unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH die nationalrechtlichen Regelungen anpassen, um den Familiennachzug mit sofortiger Wirkung vorübergehend zu stoppen und so die öffentliche Ordnung sicherzustellen“.
Die Fettung des Teils mit der „öffentlichen Ordnung“ ist von mir – dazu kommen wir gleich. Insgesamt geht es der Koalition mit ihrer Maßnahme darum, den „Familiennachzug“ auf null zu stellen bzw. stark einzuschränken. Dazu bekommst du heute von mir eine Diskussionsgrundlage:
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Wer den Familiennachzug in Anspruch nehmen kann
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Wie viele Menschen zuletzt in diesem Rahmen nach Österreich gekommen sind
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Was sich jetzt geändert haben soll
Fangen wir mit den Basics an: Familiennachzug ist einer der ganz wenigen Fälle, in denen Asylwerber:innen nicht nach Österreich kommen müssen, um einen Antrag zu stellen. Grundsätzlich ist ein Antrag auf Schutz in Österreich ja nur im Inland möglich. Enge Angehörige von Asyl- oder zumindest subsidiär Schutzberechtigten – Menschen, die zwar kein Asyl in Österreich bekommen haben, aber wegen der Zustände in ihrer Heimat (z. B. Krieg) trotzdem nicht dorthin zurückgeschickt werden – können aber trotzdem bei der österreichischen Vertretung in ihrem Heimatland (z. B. eine Botschaft) Asyl beantragen.
Das betrifft ausschließlich:
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Minderjährige Kinder der Berechtigten
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Eltern bzw. Obsorgeberechtigte minderjähriger Berechtigter
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Ehegatten und eingetragene Partner:innen der Berechtigten
Angehörige von Asylberechtigten können so einen Antrag sofort stellen, sobald der/die Berechtigte seinen/ihren Bescheid bekommen hat, jene von subsidiär Schutzberechtigten müssen drei Jahre warten; in deren Fall muss auch nachgewiesen werden, dass ihr:e Angehörige:r schon eine adäquate Wohnung, ein Einkommen und eine Krankenversicherung in Österreich hat.
Vereinfachtes Verfahren
Für die Familie läuft dann nach § 35 Asylgesetz ein vereinfachtes Verfahren: Die Vertretung fragt beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nach einer „Prognose“, ob dem bzw. der Antragsteller:in wahrscheinlich ebenfalls Schutz in Österreich zusteht – falls ja, können sie nach Österreich einreisen – eben der „Familiennachzug“.
Will man das verhindern, gibt es dazu schon jetzt eine gesetzliche Möglichkeit im § 35 Abs 4 Asylgesetz: Entweder, wenn bereits ein Verfahren zur Aberkennung des Schutzstatus‘ eingeleitet ist – oder, wenn der Innenminister dem BFA nach mitteilt, dass „eine Einreise den öffentlichen Interessen nach Art. 8 Abs. 2 EMRK“ widerspricht. Und jener Artikel 8 Absatz 2 der europäischen Menschenrechtskonvention, die in Österreich Teil unserer Verfassung ist, schreibt vor, dass der Staat nur dann das Recht auf Familienleben beeinträchtigen darf, wenn das u. a. zum Schutz der „öffentlichen Ruhe und Ordnung“ notwendig ist.
Was alles die „öffentliche Ordnung“ beeinträchtigt, ist ein relativ dehnbarer Begriff. In ihrem Ministerratsbeschluss bezieht sich die Bundesregierung vor allem auf die Bildungs- und Gesundheitssysteme, die an der Kippe stünden:
„Die Aufnahmekapazitäten Österreichs und seiner Systeme sind begrenzt. Durch den enormen Zuzug sind diese Systeme bereits ausgelastet bzw. wurden die Kapazitätsgrenzen dadurch bereits überschritten. Dies wird vor allem im Bildungs-, Gesundheits- oder Sozialbereich sichtbar sowie für die österreichische Bevölkerung spürbar und würde, ohne weitergehende Maßnahmen, den sozialen Frieden in Österreich gefährden.“
Asylanträge in Österreich
Über die Belastung vor allem des Wiener Schulsystems durch Migration habe ich in diesem Newsletter ja schon mehrfach berichtet, siehe z. B. Schulklassen ohne Deutsch und Bildungswünsche ans Christkind. Ob das schon eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung ist, ist in einem ersten Schritt eine politische Entscheidung und wird wohl auch noch die Gerichte beschäftigen.
Aber schauen wir uns einmal an, wie viele Menschen diese Ordnungsgefährdung hervorgerufen haben sollen. Fangen wir zunächst einmal mit dem Kontext an: Wie viele Menschen haben insgesamt in Österreich Asyl beantragt:
Du kennst diese Statistik ja schon aus dem Newsletter vor drei Wochen – gehen wir also gleich weiter zu der Zahl der bewilligten Anträge auf Familiennachzug. Die sind nicht ganz so säuberlich vom Innenministerium ausgewiesen wie jene zu den Gesamt-Asylzahlen, aber durch die Detaildokumente und parlamentarische Anfragen wie diese von dem ehemaligen FPÖ-Abgeordneten Hannes Amesbauer oder diese von Neos-Abgeordneten Yannick Shetty lassen sie sich zusammenstoppeln.
Wir sehen: Im bisher stärksten Jahr, 2023, ging es um etwas mehr als 10.000 Menschen, die so nach Österreich kommen wollen. Mehr als zwei Drittel davon waren Minderjährige, der Frauenanteil lag bei etwa 60 Prozent.
Was aus den Statistiken noch heraussticht: Der Familiennachzug geht praktisch ausschließlich auf ein Land zurück:
Richtig: Die überwiegende Masse der Menschen, die 2023 im Rahmen der Familienzusammenführung nach Österreich kommen durfte und hier nun ebenfalls Asyl bekommen kann, sind Syrer:innen. Was, sollte das mit dem Notstand nichts werden, angesichts des Zustands ihres Heimatlands wiederum eine andere Perspektive für die Bundesregierung eröffnen könnte: Sobald nämlich ein Asyl-Aberkennungsverfahren läuft, ruht das Recht auf Familiennachzug.
Heißt: Wieder einmal kommt es darauf an, wie es mit der öffentlichen Ruhe und Ordnung in Syrien weitergeht.
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Infos und Quellen
Genese
Innenpolitik-Journalist Georg Renner erklärt einmal in der Woche in seinem Newsletter die Zusammenhänge der österreichischen Politik. Gründlich, verständlich und bis ins Detail. Der Newsletter erscheint immer am Donnerstag, ihr könnt ihn hier abonnieren. Renner liebt Statistiken und Studien, parlamentarische Anfragebeantwortungen und Ministerratsvorträge, Gesetzes- und Verordnungstexte.