Dass der Text dann doch so weitreichend sein würde, damit hatte am Dienstagabend keiner gerechnet. Nach neun Stunden Verhandlungen mit den USA sagte Kiew ja zu einer vorläufigen Waffenruhe, auch für Bodentruppen – und ohne Vorbedingungen. Sicherheitsgarantien, wie die Ukraine sie lautstark forderte, gibt es dabei nicht; nur die eingestellten Waffen und Geheimdienstinfos bekommen die Ukrainer wieder.
In Kiew hat Donald Trumps Daumenschrauben-Politik funktioniert. In Moskau wird das umso schwieriger: Die Druckmittel der USA sind etwas schwieriger einzusetzen. Wie wahrscheinlich ist damit ein Waffenstillstand wirklich?
Der KURIER beantwortet die wichtigste Fragen.
- Wie hat Russland auf den Vorstoß reagiert?
Aus dem Kreml hieß es voller Zurückhaltung, man sehe sich das nun mal an. Aus dem Außenministerium hieß es offiziell zunächst nur, dass man Gespräche mit den USA nicht ausschließe; angeblich ist Trumps Unterhändler Steve Witkoff – er hat zuletzt den Gaza-Geiseldeal ausverhandelt – bereits am Weg nach Moskau.
Nur: Der Kreml wird sich hüten, schnell ja zu einer Feuerpause zu sagen, schließlich nötigt ihn die Lage an der Front nicht dazu. Experten erwarten, dass Putin eine lange Liste an Forderungen auf den Tisch legt, von einem Sanktions-Aus bis hin zu einer internationalen Anerkennung der besetzten Gebiete als russisches Territorium. Putin wird das meiste aus dem Deal herausholen wollen, so der Tenor.
- Wie ist die Lage an der Front?
Für die Ukraine seit Mittwoch noch prekärer als ohnehin schon. Die ukrainischen Streitkräfte zogen sich nach schweren Verlusten und einem breiten, russischen Vorstoß aus der Stadt Sudscha zurück. Bereits Mittwochfrüh erreichten erste Videos russischer Soldaten aus dem Zentrum der Stadt Sudscha, zehn Kilometer von der Grenze entfernt, das Netz. Damit ist das Ende der ukrainischen Kursk-Offensive de facto besiegelt. Mit dem kolportierten Rückzug konnten die ukrainischen Streitkräfte dennoch das Worst-Case-Szenario abwenden.
Ersten Berichten zufolge sollen die kampstärksten Verbände der ukrainischen Streitkräfte – wie etwa die 47. Mechanisierte Brigade, die seit Jahren an den kritischsten Frontpunkten im Dauereinsatz ist – bereits abgezogen sein.
Die Ukraine hatte die Kursk-Offensive im Sommer gestartet, um im besten Fall das Atomkraftwerk Kursk unter Kontrolle zu bringen und die Front im Donbass zu entlasten. Beide Ziele sind bereits wenige Wochen nach dem Beginn der Operation gescheitert. Die Hoffnung Kiews, die Stadt Sudscha und die zum erfolgreichsten Zeitpunkt 1.000 Quadratkilometer russischen Gebiets als Faustpfand in etwaigen Verhandlungen zu nutzen, hat sich mit Mittwoch endgültig in Luft aufgelöst. Russland hat auf dem Feld Tatsachen geschaffen.
Linninger (ORF) Russland in Ukraine am Vormarsch
- Welche Druckmittel hat Trump, um Putin zu einer Feuerpause zu zwingen?
Ein Mittel wäre eine massive Aufrüstung der Ukraine – das wäre allerdings eine komplette Kehrtwende des bisherigen Trump-Kurses und ein letztes Drohmittel, wenn Putin gar nicht zu reden bereit ist. Finanziert werden könnte das etwa über die eingefrorenen russischen Milliarden.
Ein näherliegendes Druckmittel wären Sanktionen, das hat Trump selbst hat angekündigt. Zum einen könnten die USA bestehende Öl- und Gassanktionen lockern, quasi als Zuckerbrot; das käme dem Kreml sehr gelegen – die Gazprom hat ein Rekordminus eingefahren, und die Kauflust der Russen geht deutlich zurück. Die Peitschen-Variante hingegen wären direkte Sanktionen gegen Rosneft, Lukoil, and Gazprom, Putins Energieriesen, die ohnehin schon ein wenig straucheln.
- Würde sich Russland an Abmachungen halten?
Experten halten es für denkbar, dass Putin einer kurzfristigen Waffenruhe zustimmt, wenn es im Abtausch dafür weitreichende Zugeständnisse gibt. Genauso wird aber vermutet, dass der Kreml den Waffenstillstand dann wieder bricht: Seit 2014 gab es mehrfach Abkommen, die für ein Schweigen der Waffen an der Frontlinie zwischen der Ukraine und Russland hätten sorgen sollen. Alle wurden von Russland gebrochen, oftmals unter falschem Vorwand – auch wenn die eigenen Truppen das Feuer eröffneten, wurden dafür „Provokateure“ aus der Ukraine verantwortlich gemacht.
- Was wollen die USA mit der Feuerpause erreichen?
Zunächst simpel ein Ende der Kämpfe – und natürlich die Rettung von Menschenleben. Trump geht es aber auch um Größeres: Washington wünscht sich einen anderen Gesprächspartner als den unbequemen Wolodimir Selenskij. Nicht nur, weil der im Oval Office „undankbar“ war (obwohl er sich im Laufe der letzten drei Jahre dutzendfach bei den USA bedankte), sondern auch weil ein Friedensschluss und diverse Handelsdeals – Stichwort Rohstoffabkommen – mit einer anderen Person leichter erscheinen.
Darum drängen Trumps Emissäre auch auf schnelle Wahlen in der Ukraine. Die sind derzeit bei geltendem Kriegsrecht verboten; dabei öffnet aber die Feuerpause ein Fenster: Schweigen die Waffen länger, könnte die Rada das Kriegsrecht aussetzen und Präsidentschaftswahlen anordnen.
- Könnte Selenskij ersetzt werden?
Das ist mehr als fraglich. Laut Wahlbehörde bräuchte es mindestens sechs Monate, um einen Urnengang im In- und Ausland zu organisieren, dazu müssten die Waffen vor allem im Frontbereich dauerhaft schweigen, weil sonst keine Wahlbeobachtung möglich ist. Trumps favorisierte Kandidaten eignen sich – Stand heute – auch nicht besonders, um Selenskij aus dem Amt zu drängen: Washington favorisiert Ex-Ministerpräsidentin Julija Timoschenko und Selenskijs Vorgänger Petro Poroschenko, mit beiden wurden bereist Treffen arrangiert. Sie gelten aber in der Ukraine als hoch umstritten, haben darum auch keine guten Aussichten, eine Wahl zu gewinnen.
Selenskij selbst hingegen hätte durchaus Chancen auf eine Wiederwahl, seine Umfragewerte steigen seit seinem Auftritt im Oval Office. Er liegt Kopf an Kopf mit dem Ex-Armeechef Valerij Zaluschnij, den Selenskij in die Londoner Botschaft weggelobt hatte, um ihn als politischen Gegenspieler auszuschalten. Zaluschnij dürfte für Trump aber noch unbequemer sein: Er gilt als noch härterer Verhandlungspartner als Selenskij.