Vier Monate wird der Prozess von Avignon insgesamt dauern. Von September bis Mitte Dezember. Bei mehr als 50 mutmaßlichen Tätern dauert schließlich schon allein die gerichtliche Anhörung aller Zeug:innen, Sachverständigen und Angeklagten einiges an Zeit. Während der gesamten Dauer ist Gisèle anwesend.
Jeden Tag, alle vier Monate, stellt sie sich der Öffentlichkeit, der Konfrontation mit den Tätern, setzt sich einer möglichen Retraumatisierung aus. All das, um, laut ihren Angaben, anderen Opfern von Vergewaltigung und sexueller Gewalt Mut zu machen. Jeden Tag, vier Monate lang, tritt sie ihrem Ehemann und seinen Anwälten gegenüber, jeden Tag muss sie ihren zahlreichen Tätern ins Gesicht blicken. Gisèle wurde damit zurecht zu einer feministischen Ikone. Was sie jeden Tag vier Monate lang leistet, ist so unvergleichlich mehr, als man von irgendeinem Menschen, von irgendeinem Opfer sexueller Gewalt je verlangen könnte. Und es ist so unvergleichlich wichtig.
(Der Grund, warum ich Gisèle hier nicht mit ihrem Nachnamen anspreche, ist keine Geringschätzung ihr gegenüber, sondern im Gegenteil die Tatsache, dass ihr Nachname auch der des Täters ist, der Nachname, den sie angenommen hat, als sie ihn heiratete und ich sie nicht mit dem Namen ihres Ehemannes – Dominique Pélicot –, der sie jahrelang betäubte, vergewaltigte und dutzende andere Männer dazu anleierte, sie unter Sedierung zu vergewaltigen, bezeichnen will. Ihr Vorname hingegen – Gisèle – gehört nur ihr.)
Tausende Männer
Neben der Heldin Gisèle sind da aber auch noch jene, über die man in der ganzen Angelegenheit lieber nicht redet: die Täter. Jene 52 Männer, die nichts dabei fanden, eine bewusstlose Frau zu vergewaltigen. Jene 52 Männer, die in Avignon vor Gericht stehen, sind aber auch nur jene, die in den von Dominique Pélicot angefertigten Videos und Fotos identifiziert werden konnten. Diejenigen, die nicht identifiziert werden konnten, werden wahrscheinlich nie zur Verantwortung gezogen. Ebenso diejenigen nicht, die die Annonce Dominique Pélicots sahen, aber nicht zur Anzeige brachten. Vermutlich sprechen wir also nicht nur von den über 80 verschiedenen Männern, die auf den Videos zu sehen waren (und von denen knapp über 50 erkennbar waren), sondern von hunderten, vielleicht tausenden Männern.
Ein ganz normaler Ort
Nun möchte man lieber ganz fest daran glauben, dass das südfranzösische Avignon einfach ein außergewöhnlich schlimmes Pflaster für Frauen ist, dass es die absolute Ausnahme bildet, dass aus irgendeinem Grund zufällig alle Monster dieser Welt ausgerechnet dort wohnen und so eine derartige Schrecklichkeit überhaupt passieren kann. Eine Schrecklichkeit, die sonst nirgendwo passieren könnte. Dass Avignon aus irgendeinem Grund zufällig die absolute Vergewaltigungshölle darstellt und das, was die Monster in Avignon getan haben, ganz normale Männer überall sonst nicht tun würden. Das wäre selbstverständlich völlig illusorisch – Naivität als Schutzmantel, Naivität, die man als Selbstschutz vor die Realität schiebt, jene Realität nämlich, dass selbstverständlich die Männer Avignons nicht völlig anders als die Männer anderswo sind. Avignon ist ein ganz normaler Ort wie andere auch. Die Männer Avignons sind ganz normale Männer wie andere anderswo auch. Nichts legt nahe, dass es in Buxtehude, Gramatneusiedl oder in Zell am See anders wäre. Auch in Buxtehude, Gramatneusiedl oder in Zell am See würde ein Ehemann hunderte Männer finden, die seine betäubte Frau vergewaltigen würden. Es ist sogar nicht unwahrscheinlich, dass es in Buxtehude, Gramatneusiedl und Zell am See Ehemänner gibt, die das bereits tun. Oder Väter, Brüder, Onkel und Freunde. Und die Männer, die es tun oder tun würden, sind Männer, die wir alle kennen.
Monster und Bestien
Medial wird indes von Dominique Pélicot als die „Bestie“ von Avignon geschrieben, oder von den anderen Tätern als „Monster“.
Monster lassen sich schließlich leicht vermeiden. Monster sind Fabelwesen oder fiktive Kreaturen, die man ob ihrer Monstrosität in aller Regel auf Anhieb erkennt. Die sexuelle Gewalt, die ganz normale Männer von nebenan (oder nicht nur von nebenan, sondern direkt bei uns zuhause) verüben, diskursiv ins Reich der Fiktion zu verlagern und die Täter selbst als Monster zu entmenschlichen, erfüllt einerseits den Zweck, sich selbst in falscher Sicherheit zu wiegen: Mir kann das nicht passieren, schließlich habe ich keine Monster in meinem Leben. Meiner Tochter kann es auch nicht passieren oder meiner Schwester oder meiner Ehefrau. Darin verbirgt sich andererseits aber auch immer ein Schuss Victim-Blaming: Hätte sie das Monster doch nur vermieden, dann wäre ihr das alles nicht passiert (hätte sie ja können, sieht man denen ja an, dass die Monster sind). Wer sich mit Monstern abgibt, muss eben Monströses erwarten. Wer sich mit Monstern abgibt, bringt sich gewissermaßen selbstverschuldet in Gefahr. Wer sich selbstverschuldet in Gefahr bringt, darf nicht erwarten, sicher zu sein. Die Wahrheit ist: Vergewaltiger sind ganz normale Männer, ganz normale Menschen. Um @wastarasagt zu zitieren: „Niemand hat sich in Gefahr gebracht.“ Niemand hätte sich in Sicherheit bringen können. Und darin verbirgt sich die unangenehmste Wahrheit von allen: Niemand kann sich in Sicherheit bringen.
Ehefrauen, Töchter, Freundinnen, Mütter
Gisèle war nicht in Sicherheit und hat sich nie in Gefahr begeben. Sie war mit einem Mann verheiratet, den sie liebte und der sie, allem Anschein nach, ebenso liebte. Der ihr nie Gewalt antun könnte. Gisèle sagt, sie habe ihrem Mann oft gesagt, wie froh sie sei, dass sie ihn habe. Sie plante bereits den gemeinsamen Ruhestand mit ihrem Mann, als ihr offenbar wurde, was er ihr (und ihrer gemeinsamen Tochter, von der er Nacktfotos anfertigte und die ebenso davon berichtet, von ihm betäubt worden zu sein) über Jahre hinweg angetan hatte. Vor Gericht wandte sie sich direkt an ihren Ex-Mann mit den Worten: „Du warst in all den Jahren stets gutmütig und aufmerksam. Nie habe ich an deinem Vertrauen gezweifelt.“ Und: „Ich verstehe noch immer nicht, wie du mich dermaßen verraten konntest, indem du Fremde in unser Schlafzimmer holtest.“ Vor Gericht treten auch Ehefrauen, Töchter, Freundinnen und Mütter der mutmaßlichen Täter auf und stellen sich auf die Seite der mutmaßlichen Täter. Wie die meisten Ehefrauen, Töchter, Freundinnen und Mütter können sie sich nicht im Entferntesten vorstellen, dass ihre Ehemänner, Väter, Freunde und Söhne Frauen sadistische sexuelle Gewalt antun. Deshalb, aus Selbstschutz und aus Schutz vor der Wahrheit, rechtfertigen sie ihre Taten vor Gericht, legen sich Erklärungen zurecht, beschuldigen Gisèle. Wie die meisten Ehefrauen, Töchter, Freundinnen und Mütter glauben auch sie daran, dass die Männer, die sie lieben, zu den guten Männern gehören. Sie glauben das, was auch Gisèle glaubte.
Liebevolle Ehemänner
Sie glauben vielleicht, dass sie es erkennen würden, wenn sie einem Gewalttäter nahestehen würden. Sie glauben vielleicht, dass jemand, der sexuelle Gewalt verübt, dass ein Mann, der Frauen vergewaltigt, nicht gleichzeitig ein liebevoller Ehemann, Sohn, Freund oder Vater sein kann. Die Wahrheit ist: Die meisten Vergewaltiger sind auch liebevolle Ehemänner oder Söhne oder Freunde oder Väter. Dominique Pèlicot war immer das, was man einen liebevollen Ehemann nennt. Als Gisèle von den fortwährenden Sedierungen und Vergewaltigungen physische Symptome zeigte (natürlich nichtsahnend, dass ihr Mann ihr die ganze Zeit über Gewalt antat), begleitete genau dieser Mann sie zum Arzt. Auch der Nachbar, der sie vergewaltigte, war immer freundlich zu ihr, grüßte sie beim Bäcker, kam sogar vorbei, um ihr Fahrrad zu reparieren.
„Ich kenne das, ich dachte auch, mein Mann sei über jeden Zweifel erhaben und ein außergewöhnlicher Mensch. Aber die Vergewaltiger schlagen nicht nur nachts in der Tiefgarage zu. Meist handeln sie im Familien- oder Bekanntenkreis, und niemand würde sie verdächtigen“, sagt Gisèle zu den Frauen, die die Männer, die sie lieben vor Gericht verteidigen.
„Wir müssen aufhören, Vergewaltiger von Männern abzugrenzen, indem wir sie „Monster“ nennen. Dieser Fall zeigt, dass es gewöhnliche Männer sind. Das Problem sind komplett unauffällige Männer und nicht irgendwelche Schauergestalten, die man sofort an ihrer Monstrosität erkennt“, schreibt Tanja auf X.
Keine Monster, keine Bestien
Vergewaltiger sind keine Monster und keine Bestien. Vergewaltiger sind ganz normale Männer. Vergewaltiger sind Ärzte und Fernfahrer und Journalisten und Psychotherapeuten und Bauarbeiter und Arbeitslose und gefeierte Künstler und profeministische Aktivisten.
Vergewaltiger sind unsere Brüder, Väter, Ehemänner und besten Freunde. Vergewaltiger sind unsere Lieblingskollegen und unsere Chefs und unsere hilfsbereiten Nachbarn. Es sind die Männer, die neben uns in der U-Bahn sitzen. Es sind die Männer, bei denen wir auf Dating-Apps nach links oder nach rechts wischen. Es sind Männer, die uns im Büro zum Lachen bringen oder beim gemeinsamen Referat auf der Uni. Oder auf Kabarettbühnen. Es sind die Männer, deren Musik wir hören und deren Filme wir schauen und deren Bücher wir lesen. Es sind die Männer, bei denen wir uns sicher fühlen, die uns nachhause begleiten, zum Schutz vor Vergewaltigern, weil wir schon zu betrunken sind, um uns allein zu lassen. Es sind die Männer, mit denen wir uns stundenlang angeregt über Kunst oder Politik oder was auch immer unterhalten. Es sind die Männer, die immer die richtigen feministischen Meinungen haben und es sind die Männer, die sie nicht haben. Es sind die Männer, die neben uns im Bett schlafen. Es sind die Männer, mit denen wir unser Leben planen. Es sind die Männer, mit denen wir Kinder kriegen. Es sind die Männer, mit denen wir Kinder großziehen. Es sind die Männer, die wir als unsere Kinder großgezogen haben. Es sind die Männer, die uns zum Bahnhof bringen oder zum Flughafen und die bei unserer Ankunft dort auf uns warten. Es sind die Männer, die wir heiraten. Es sind die Männer, mit denen wir Kaffee trinken gehen. Es sind die Männer, von denen wir niemals denken würden, dass sie die Männer sind, die wir für Monster halten.
Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.
Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns – sag uns deine Meinung unter [email protected]. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.
Infos und Quellen
Zur Autorin
Beatrice Frasl war schon Feministin, bevor sie wusste, was eine Feministin ist. Das wiederum tut sie, seit sie 14 ist. Seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit feministischer Theorie und Praxis – zuerst aktivistisch, dann wissenschaftlich, dann journalistisch. Mit ihrem preisgekrönten Podcast „Große Töchter“ wurde sie in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten feministischen Stimmen des Landes.
Im Herbst 2022 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche“ im Haymon Verlag. Als @fraufrasl ist sie auf Social Media unterwegs. Ihre Schwerpunktthemen sind Feminismus und Frauenpolitik auf der einen und psychische Gesundheit auf der anderen Seite. Seit 1. Juli 2023 schreibt sie als freie Autorin alle zwei Wochen eine Kolumne für die WZ.