Eine Antwort darauf hat offenbar keiner, das ist auch der Grund für das desaströse Schauspiel, das die altehrwürdige Partei gerade liefert. Wochenlang betonten von der Parteiführung abwärts alle, Scholz sei der einzig richtige Kandidat, Umfragewerte hin oder her. Seit aber durchsickerte, dass an der Basis keiner recht Wahlkampf für den müden Scholz machen will, blickt die Partei hoffnungsvoll auf Pistorius – und macht ihn zum Reservekanzler, zur roten Projektionsfläche.
Von seinem Auftreten her ist das nur nachvollziehbar. Der 63-Jährige hat, was Scholz so offenkundig fehlt: Er ist nahbar, manchmal richtig empathisch; hemdsärmelig und zupackend, wenn man es braucht. Ein Entscheider, der mit dem einfachen Parteimitglied genauso kann wie mit dem US-Verteidigungsminister. Und der, anders als viele seiner gescheiterten Vorgänger (man erinnere sich nur an Christine Lambrecht, die deutsche Soldaten in der Wüste Malis in High Heels besuchte), ein ernsthaftes Interesse an dem hat, was er tut. Pistorius ist die Verkörperung dessen, was Scholz mit „Zeitenwende“ meinte. Wenn er in Kiew steht und verspricht, dass Deutschland liefern werde, dann glaubt man ihm das auch.
Der Kriegsminister
Eigentlich, und das ist das Seltsame an der Personalie Pistorius, müssten sein Amt und seine Positionierung in Sachen Ukraine ihn aber disqualifizieren. Als er vor einigen Monaten meinte, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden, herrschte Entsetzen in der SPD. Ein „Rechter“ sei er, ein Militarist, das passe nicht zur Partei, hieß es da. Auch seine Idee, die Wehrpflicht wieder einzuführen, um das Personalloch in der Bundeswehr zu stopfen, räumte ihm Scholz umgehend ab. Er ließ seinem Kollegen ausrichten, dass die Rekrutierung wohl eine „überschaubare Aufgabe“ sei.
Die Herablassung, mit der Scholz da sprach, war gewollt. Zwischen ihm und seinem Minister klaffte vom ersten Tag an ein Riss, und der wurde mit Pistorius Beliebtheit nur größer. Dass Scholz den EU-Wahlkampf mit Plakaten bestritt, auf denen lediglich das Wort „Frieden“ stand, war nur das letzte Beispiel dafür.
Scholz, der sich selbst gern als „Friedenskanzler“ gibt, zahlt damit aber auch auf die Gefühlslage der SPD ein, die sich stets als Abrüstungs-, nicht als Aufrüstungspartei verstand. Er weiß, dass viele genau deshalb mit dem Law-and-Order-Mann Pistorius hadern. Und wenn Scholz davon spricht, dass Beständigkeit, keine volatilen Umfragewerte Basis für eine Kandidatur seien, dann spielt er auf eine andere Angst der Partei an: Viele in der SPD erinnern sich mit Schaudern an den Hype 2017, als man mit dem „Schulz-Zug“ Merkels Kanzlerschaft beenden wollte.
Wie das ausging, ist weithin bekannt. Martin Schulz, EU-Parlamentspräsident, schien der perfekte Kandidat, hemdärmelig, bodenständig; Pistorius also durchaus ähnlich. Auch der wuchs einfach auf und diente sich hoch, war Bürgermeister, dann Spitzenpolitiker. Am Ende brachte er der SPD aber nur eines: 20,5 Prozent, das schlechteste Ergebnis der Geschichte.
Der Schmidt-Vergleich
Den Hype kann man vergleichen, die Personen freilich nicht. Schulz war ein Bühnenmann, das ist Pistorius nicht; als der vor einigen Jahren seine Frau an den Krebs verlor, sprach er kaum darüber. Schulz hingegen ging mit seiner überwundenen Alkoholsucht so offen um, dass es manchem zu viel wurde.
Pistorius trinkt auch gern mal Bier, aber im Stadion des VfL Osnabrück, wo er herkommt, und dann ohne Kameras. Er ist gern zurückhaltend, nicht aus Kalkül. Selbst den Makel, dass ihm inhaltliche Breite fehlt, dass er mit Wirtschaft und Sozialem nichts am Hut hat, nahm er jetzt die Schärfe: „Es wäre anmaßend von mir, jetzt behaupten zu wollen, ich könnte die Antworten auf die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands mal eben so aus dem Ärmel schütteln. Kann ich nicht“, sagte er bei einer Veranstaltung der Zeit. Für diese Ehrlichkeit gab’s viel Applaus.
Im Willy-Brandt-Haus, der Parteizentrale, sucht man darum nach neuen Bildern, mit denen sich Pistorius sich verkaufen ließe. Die jüngste Idee, die kursiert, ist der Vergleich mit dem großen Helmut Schmidt: Auch er war Verteidigungsminister, bevor Willy Brandt an ihn übergab. Auch er war ein Pragmatiker, Fachpolitiker und Freund der klaren Ansagen.
Was man dabei nicht erzählen sollte: Schmidt scheiterte, und zwar an der eigenen Partei. Die verweigerte ihm die Gefolgschaft – ausgerechnet in seiner harten Verteidigungspolitik.