Duaa lebt in Dahieh. Der Vorort im Süden Beiruts gilt als Hochburg der Hisbollah. Seit die israelischen Streitkräfte Kampfflugzeuge und Drohnen in den Südlibanon schickten, griffen diese auch regelmäßig Ziele in Dahieh an.
Die Ereignisse im Südlibanon beeinflussten die Menschen in Beirut zunächst kaum, erzählt Duaa: „Viele Leute betrachten die Vorgänge im Süden als etwas, das sie nichts angeht.“ Solang es im Süden bleibe, kümmere es sie nicht. Selbst die israelischen Angriffe auf Dahieh seien in anderen Teilen der 2,3-Millionen-Stadt Beirut zunächst als lokal begrenzte Eskalation wahrgenommen worden.
Doch spätestens seit dem 27. September änderte sich alles. Bei dem bisher schwersten Bombardement Dahiehs wurden mindestens vier mehrstöckige Wohnhäuser zerstört und Hassan Nasrallah, langjähriger Führer der Hisbollah, getötet. „Die Situation ist jetzt eine völlig andere“, sagt Duaa.
Die Einschläge der Bomben rückten immer näher an meine Wohnung heran.
Duaa, Einwohnerin des Beiruter Vororts Dahieh
Die Angriffe der israelischen Luftwaffe auf die südlichen Vororte Beiruts nahmen zu: „Die Einschläge der Bomben rückten immer näher an meine Wohnung heran.“ Wie tausende andere verließ Duaa daher Dahieh, das längst zu einem Kriegsgebiet geworden ist. Die israelische Bodenoffensive im Südlibanon hat zusätzlich zehntausende Vertriebene in die Hauptstadt gedrängt.
Hohe Mieten, viele Obdachlose
Die keine Unterkunft finden, schlafen in Parks oder in ihren Autos entlang der Straße. „Die große Nachfrage nach Wohnungen hat die bereits hohen Mieten weiter verteuert“, sagt Duaa, die selbst nach einer Wohnung sucht. Viele Läden haben geschlossen, in Supermärkten werden die Waren knapp, die Preise steigen weiter: „Wir wissen nicht, was die nächsten Tage bringen werden.“
Einen Tag nach dem Angriff der Hamas auf den Süden Israels am 7. Oktober 2023 eröffnete die Hisbollah eine zweite Front an der israelisch-libanesischen Grenze. Ihr Raketenbeschuss zwang rund 60.000 Israelis, ihre Häuser im Norden des Landes zu verlassen. Seit Sommer dieses Jahres verstärkten die israelischen Streitkräfte daher ihr Bombardement im Südlibanon und schalteten hochrangige Kommandanten der Hisbollah aus. Mehr als 1.600 Menschen starben bisher bei den Kämpfen im Libanon, rund 350.000 wurden aus ihren Häusern vertrieben. Der Krieg der Hisbollah gegen Israel ist eine weitere Katastrophe in einer Kette von Ereignissen, die das Land seit Jahren in den Abgrund treiben.
Erschöpft von der Krise
Jihad wohnt bei seiner Mutter im Norden Beiruts. Für den 22-Jährigen ist der Krieg eine zusätzliche Belastung: „Vor allem in mentaler Hinsicht“, sagt er. Bereits vor dem Krieg seien die Leute erschöpft gewesen. Der Krieg mache alles noch schwieriger.
Jihads Familie gehörte vor der Krise der Mittelklasse an. „Wir dachten nicht viel über Geld nach“, sagt er. Die Krise hat alles verändert. Die Familie musste ihren Betrieb – eine Autowerkstatt – schließen und verlor das Familieneinkommen. Da die zahlungsunfähigen Banken die Abbuchungen für ihre Kunden beschränkten, können sie monatlich nicht mehr als etwa 200 US-Dollar abheben: „Weil seit der Krise aber alles viel teurer wurde, ist dieses Geld binnen einer Woche verbraucht.“
Die Krise hat unser Leben auf den Kopf gestellt.
Jihad über die Lage im Norden Beiruts
Jihad arbeitet neben dem Studium so viel wie möglich, um die Semestergebühren zu bezahlen und zum Familieneinkommen beizutragen. Gleichzeitig muss er Bestnoten bei den Prüfungen bringen, da er sonst sein Stipendium verliert. Anfangs versuchte die Familie ihren Lebensstandard aufrechtzuerhalten, sagt er: „Aber wir mussten einsehen, dass viele Dinge einfach nicht mehr leistbar sind.“ Neues Gewand kauft er sich nur selten. „Früher ging ich dreimal die Woche aus, das geht heute nicht mehr.“ Jedes Mal, bevor Jihad Geld ausgibt, überlegt er zweimal, ob es nicht am Ende für wichtigere Dinge fehlen könnte: „Die Krise hat unser Leben auf den Kopf gestellt.“
In den Tagen nach dem schweren Bombardement in Dahieh verließen Jihad und seine Familie ihre Wohnung nur noch, wenn sie Lebensmittel einkaufen mussten: „Wir hören die Detonationen, die manchmal so stark sind, dass die Fenster vibrieren.“ In ihrer Wohnung ist es inzwischen eng geworden. Jihads Familie hat 14 Verwandte aufgenommen, die aus Dahieh fliehen mussten: „Wir wissen nicht, wohin das alles führen wird.“
Inflation frisst Gehälter
Die Wirtschaftskrise im Libanon begann 2019, als die Dollar-Reserven libanesischer Banken aufgebraucht waren. Das an den Dollar gekoppelte libanesische Pfund verlor im Sturzflug an Wert. Entsprach ein Dollar vor der Krise etwa 1.500 libanesischen Pfund, verschlechterte sich der Wechselkurs Monat für Monat. Heute erhält man für 100.000 libanesische Pfund einen Dollar.
Ersparnisse lösten sich in nichts auf, tausende Unternehmen gingen pleite, Zehntausende verloren ihre Jobs. Weil der Libanon fast alles importieren muss, schossen die Preise in die Höhe. Im Frühjahr 2020 erklärte die Regierung den Staatsbankrott. Der libanesische Staat war nicht mehr in der Lage, seine Schulden zu bedienen. Die Corona-Pandemie wirkte als Brandbeschleuniger für die Krise. Dazu kam eine weitere Katastrophe: Im Sommer 2020 tötete die gewaltige Explosion von unsachgemäß gelagertem Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut mehr als 200 Menschen und ließ große Teile der Hauptstadt in Trümmern zurück.
Die wirtschaftlichen Probleme des Libanon bauten sich seit Jahren auf, erläutert Ali Abboud, Assistenzprofessor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Amerikanischen Universität Beirut: „Die Regierung verschuldete sich immer weiter, Reformen blieben aus, die grassierende Korruption belastete die Staatskasse zusätzlich.“ Betroffen von der Krise seien vor allem Staatsbedienstete, sagt Abboud: „Es gab zwar eine gewisse Gehaltsanpassung im öffentlichen Sektor, diese entsprach aber nicht der Höhe der Abwertung, wodurch die Gehälter und Pensionen erheblich an Kaufkraft verloren.“
Eine wirtschaftliche Hochschaubahn
Aber auch im privaten Bereich spüren die Menschen die Krise. „Die vergangenen Jahre waren wie die Fahrt auf einer Hochschaubahn“, sagt Duaa. In ihrem vorigen Job wurde die 27-Jährige in libanesischen Pfund bezahlt. Die Inflation fraß ihr Gehalt auf: „So wie ich das Geld bekam, floss es für Miete, Strom und Lebensmittel davon.“ Am Ende des Monats war nichts übrig.
Mittlerweile arbeitet Duaa für eine NGO, die sich für Frauenrechte einsetzt. Ihr Gehalt ist nun höher und sie wird, wie bei internationalen Organisationen üblich, in US-Dollar bezahlt, was ihr einen gewissen Schutz vor der galoppierenden Inflation bietet. Dennoch: Auch Duaa spürt, dass alles teurer geworden ist: „Hätte ich mit dem Gehalt vor Jahren ein gutes Leben führen können, ermöglicht es mir jetzt gerade einmal, die schlimmsten Auswirkungen der Krise abzufedern.“
„Die Ungleichheit in der Gesellschaft nahm seit Beginn der Krise deutlich zu“, sagt der Wirtschaftsexperte Abboud: Auf der einen Seite stehen die, die in der Privatwirtschaft arbeiten und ihre hohen Gehälter in US-Dollar ausbezahlt bekommen. Auf der anderen Seite jene, die ihre Gehälter in libanesischen Pfund erhalten und wegen der hohen Inflation immer weiter in die Armut abgleiten.
44 Prozent der Bevölkerung leben in Armut
Im Mai 2024 gab die Weltbank an, dass 44 Prozent der libanesischen Bevölkerung in Armut leben. Und diese Armut macht sich überall in Beirut bemerkbar: Taxifahrer sitzen 16 Stunden am Tag hinter dem Steuer, damit sie ihre Familien ernähren können. Andere haben Zweitjobs, um die Gebühren für die Privatschulen ihrer Kinder zu bezahlen, weil die Lehrer:innen in den staatlichen Schulen ständig streiken, Prüfungen nicht benotet werden und die Kinder am Ende des Semesters nichts gelernt haben. Viele Kinder gehen gar nicht mehr zur Schule und bieten ihre Dienste als Schuhputzer an. Ältere Menschen betteln am Straßenrand, andere wühlen in Mülltonnen nach Verwertbarem. Als wäre das alles nicht genug, tobt jetzt auch noch ein Krieg zwischen Israel und der Hisbollah.
Bevor der Krieg Beirut erreichte, gab es in der Hauptstadt regelmäßig Proteste gegen die Unfähigkeit der Regierung, mit der Wirtschaftskrise zurechtzukommen. Jihad nahm nie daran teil. Er respektiere die Demonstrant:innen, weil sie sagen, was gesagt werden muss, habe aber das Gefühl, dass es sinnlos sei: „Die Leute schreien nach Veränderung, aber es ändert sich offensichtlich nichts.“ Im Gegenteil, es wird immer schlimmer. Er konzentriere sich daher auf seine eigene Situation und die seiner Familie: „Ich kann die Probleme des Landes ja doch nicht lösen.“
Keine Zukunft im Libanon
Während sich die Wirtschaft im freien Fall befindet und der Krieg den Libanon ausblutet, verlassen immer mehr Libanes:innen das Land. Vor allem jene mit guter Ausbildung – Leute, die der Libanon dringen brauchen würde. Die Auswirkungen sind bereits spürbar: Es fehlt an Lehrer:innen und Universitätspersonal, die Gesundheitsversorgung verschlechtert sich, da Ärzt:innen und Krankenschwestern auswandern.
Hätte Jihad die finanziellen Mittel, würde er mit seiner Familie den Libanon sofort verlassen. Doch um eine Chance auf ein gutes Leben im Ausland zu haben, muss er zunächst sein Studium abschließen. Ob ihm das wie geplant heuer noch gelingen wird, bezweifelt er mittlerweile. Sich auf das Schreiben seiner Masterarbeit zu konzentrieren, falle ihm schwer, die Unsicherheit zehre an seinen Nerven. Hinzu komme, dass die Uni immer wieder geschlossen sei. Er befürchtet, dass er das Semester verlieren könnte: „Wir sind an dieses Land gekettet und können nur zusehen, wie der Libanon brennt.“
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Infos und Quellen
Genese
Im September 2024 reiste Autor Markus Schauta in den Libanon, um unter anderem über die Stimmung in der Hauptstadt Beirut zu berichten. Durch Kontakte von früheren Libanon-Reisen fand er Gesprächspartner:innen, die ihm über ihr Leben zwischen Wirtschaftskrise und Krieg berichteten.
Gesprächspartner:innen
Duaa und Jihad traf der Autor in Cafés in Hamra und Ashrafiyya, mit dem Wirtschaftsexperten Ali Abboud führte er ein Interview über WhatsApp. Zufällige Gespräche ergaben sich bei Taxifahrten.
Daten und Fakten
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Ursache für die Lähmung des Staates ist ein Proporzsystem, das vorsieht, durch die gerechte Verteilung der Staatsämter eine Beteiligung aller Religionsgruppen an der Regierung zu garantieren. Im Lauf der Jahrzehnte führte das jedoch zu einer Zersplitterung des Staates, weil jede politische Partei in erster Linie ihre Religionsgemeinschaft vertritt und ihre Anhänger:innen mit Jobs, Finanzhilfen und sozialen Dienstleistungen versorgt. Ein übergeordneter Sozialstaat, der sich um alle Bürger:innen des Landes in gleicher Weise kümmert, existiert nicht. Dieser Logik folgend, teilten sich die Parteien die öffentlichen Ressourcen untereinander auf, um diese maximal auszubeuten. Dieser Klientelismus gepaart mit Korruption und fehlenden Kontrollmechanismen führte letzten Endes zur verheerenden Krise, die den Libanon seit vier Jahren fest im Griff hat.
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Seit Oktober 2023 führt die Hisbollah in Solidarität mit der Hamas einen Krieg gegen Israel. Am 30. September überschritten israelische Streitkräfte die Grenze zum Libanon und starteten eine „begrenzte Bodenoffensive“, wie Israel es nennt. Doch ob eine Operation begrenzt durchführbar ist, lässt sich bei den aktuellen Spannungen in der Region kaum vorhersagen. Am 1. Oktober schoss der Iran Raketen auf Tel Aviv. Die weitere Entwicklung ist unvorhersehbar.