Kurz nach Weihnachten mache ich mich auf den Weg zu meiner Oma nach Tirol. Ich will mit ihr darüber reden, was in unserer Familie während der Zeit des Nationalsozialismus passiert ist.
Meine Oma, die ich immer noch Helga Oma nenne (aber natürlich nur, wenn sie nicht dabei ist), hört aufmerksam zu. Sie hat sich immer für Ahnengeschichte interessiert. Ihr ist schnell klar, dass sie als Jahrgang 1945 nicht viel über das direkte Kriegsgeschehen erzählen kann. Omas Wissen ist für mich aber trotzdem sehr wertvoll. Denn sie kennt all die Geschichten, die Orte und die Namen.
Es dauert nicht lang, bis meine Oma anfängt, von ihrer Cousine zu erzählen, die zweimal in ihrem Leben vor dem Krieg flüchten musste – und ebenfalls den Namen Helga trägt.
Ein bewegtes Leben
Am 19. März 1936 mitten im Spanischen Bürgerkrieg geboren, war Cousine Helga bei ihrer ersten Flucht nur wenige Monate alt. Um den Kriegsgräueln zu entkommen, verließen Helga, ihre Eltern und ihre ältere Schwester Lia das Land. Sie kehrten in die elterliche Heimat nach Darmstadt (Deutschland) zurück, denn nach Spanien hatte sie ohnehin nur Vaters Arbeit bei Siemens geführt. In ihren Akten findet man später noch den Vermerk, dass sie „Spanienflüchtlinge“ wären.
„Tante Janchen, also Helgas Mutter, bekam in Deutschland ihre dritte Tochter, Inge“, erzählt meine Oma, während sie gedankenverloren mit dem Löffel in ihrem Kaffee rührt. Aber sie mussten weiter. „Onkel Otto, der Familienvater, wurde für Siemens ins Ausland geschickt, und die Familie zog immer mit.“ 1940 führte sie dies nach Königsberg, das heutige Kaliningrad in der gleichnamigen russischen Provinz.
Dort kam Helga in die Schule, allerdings fiel der Unterricht oft aus. Es fehlte an Kohle, um das Gebäude zu heizen. Der Brennstoff wurde für den Krieg gebraucht. “Auch wenn es die Nationalsozialisten damals nicht zugeben wollten, das Ende des Kriegs rückte mit der Roten Armee immer weiter vor – und Ostpreußen war an vorderster Front”, sagt meine Oma. “Ende 1944 mussten sie dann schnell aus Königsberg raus.” Der Vater blieb, so viel uns heute bekannt ist, in Königsberg zurück, um pflichtbewusst das dortige Siemens-Büro zu sichern.
Für die Mutter und ihre drei Töchter gab es allerdings keinen anderen Ausweg, als zu fliehen und zu versuchen, eines der letzten Schiffe zurück nach Deutschland zu erreichen. Sie machten sich auf den Weg nach Gotenhafen, das im heutigen Polen Gdynia heißt, denn dort legte die Wilhelm Gustloff ab. Doch als sie ankamen, war das Schiff schon weg. Cousine Helga, die zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt war, ihren Schwestern und ihrer Mutter blieb nichts anderes übrig, als den Fußmarsch zurück nach Deutschland anzutreten.
Die Flucht
Über 1.000 Kilometer Fußweg hatten sie vor sich. Auf Handwagen karrten sie die wenigen Dinge, die ihnen geblieben waren, durch Kälte und Schnee. Kilometer für Kilometer. Die Straßen waren voller Menschen. Familien mit Kindern, Alte, Kranke. Sie alle wanderten in dieselbe Richtung. Die Temperaturen fielen teilweise auf minus 20 Grad Celsius. Manchmal, wenn sie Glück hatten, durften sie ein Stück auf einer Pferdekutsche mitfahren. Essen war immer knapp.
“Überall an den Wegrändern lagen Berge von Leichen”, hatte Cousine Helga meiner Oma bei ihrem letzten Treffen auf einer Familienfeier erzählt. Nie hatte sie die Bilder von sich stapelnden, leblosen Körpern vergessen.
Die Not war allerorts groß, und die Gewalt kam mit ihr. So versuchte Tante Janchen beispielsweise, ihre älteste Tochter kindlicher zu kleiden, um eine Vergewaltigung abzuwenden, erinnert sich Oma. “Ich weiß nicht, ob es genutzt hat”, schiebt sie nachdenklich nach. “Einmal, irgendwo in Polen, hatte sogar ein Mann versucht, Tante Janchens Finger abzuschneiden”, weiß Oma aus Erzählungen. Der Mann wollte den Ring, der an ihrem Finger saß. Die Kälte und der Hunger hatten Tante Janchens Finger aber derart anschwellen lassen, dass der Ring nicht zu entfernen war. Daraufhin wollte der Mann ganz einfach den Ring mitsamt dem Finger. In letzter Minute ging noch ein russischer Soldat dazwischen und rettete Tante Juliane, die immer liebevoll Janchen genannt wurde.
Es muss noch auf der Flucht gewesen sein, als Tante Janchen und ihre Töchter erfuhren, dass sie Glück im Unglück hatten: Die Wilhelm Gustloff war am 30. Jänner 1945 in der eiskalten Ostsee von sowjetischen Torpedos versenkt worden. Mindestens 4.000 Menschen ertranken oder erfroren, ein Schicksal, dem sie nur entgingen, weil sie das Schiff verpasst hatten. Die Versenkung stellt bis heute die größte Schiffstragödie der Geschichte dar.
Ein geteilter Name
All die Monate ihres Fußmarsches gab es keine Nachricht von Tante Janchen und ihren drei Töchtern. Die Angehörigen in Darmstadt wusste nicht, ob und wann sie sie wiedersehen würden. In dieser Zeit wurde meine Oma geboren. Am 21. Oktober 1945 kam sie in Darmstadt zur Welt und wurde nach ihrer totgeglaubten Cousine Helga benannt.
Kurz vor Weihnachten im Jahr 1945 kam Tante Janchen mit ihren Töchtern in Darmstadt an. Ausgezehrt nach unzähligen Tagen und Nächten auf gefrorenen Straßen und unter brennender Sonne wurden sie von ihrer Familie in die Arme geschlossen.
Verpasst
Als ich mich von meiner Oma verabschiede, weiß ich: Ich muss Helga sprechen. Ich habe Fragen und will ihr Leben festhalten.
„Ich schreibe ihr einen Brief“, schlägt meine Oma vor, „um erst einmal wieder Kontakt mit Helga aufzunehmen.“ Es dauert nicht lang, bis sie Antwort bekommt. Helga erzählt von ihren Neujahrstagen, doch auch von Krankheit.
Oma antwortet, doch dann vergehen Tage und Wochen ohne neue Post. Eine Woche lang ruft meine Oma jeden Tag bei ihrer Cousine an. Sie hebt nicht ab. Nach einiger Zeit meldet sich doch jemand – es ist Helgas Sohn. Er habe die Anrufe erst jetzt gesehen. Der Akku des Handys wäre leer gewesen – und er hatte keinen Schimmer davon gehabt, dass es dort eine andere Helga gab, die auf Rückruf wartete.
Cousine Helga war gestorben. Wenige Tage, bevor ich sie besuchen wollte.
Helgas späteres Leben
Cousine Helga hatte ein gutes Leben geführt, erzählt meine Oma. Nach der Flucht wuchs sie in Darmstadt und Braunschweig auf, wo meine Oma in den Nachkriegsjahren viel Zeit mit der älteren Helga verbracht hatte. Als ich Oma frage, wie es sich damals angefühlt hat, eine von zwei Helgas zu sein, meint sie: “Ach, das war kein Problem, ich war ganz einfach die kleine Helga.”
Später folgte Cousine Helga ihrem Vater und studierte Elektrotechnik in Erlangen, der Kaderschmiede für Siemens, wo sie ihr Leben lang arbeitete. Sie heiratete und bekam zwei Söhne. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in Hannover.
Ende Jänner wurde Helga beigesetzt. Auf ihrer Trauerfeier sagte einer ihrer Söhne leise: „Sie hat uns nie etwas über die Flucht oder den Krieg erzählt. Nicht ein einziges Wort.“ Es klang nicht vorwurfsvoll, eher wie eine späte Erkenntnis, vielleicht sogar ein Bedauern. „Ich glaube, sie wollte uns das ersparen“, fügte er hinzu. „Oder sie wollte sich selbst nicht erinnern.“
Ein geteilter Geburtstag
Es ist Ende Februar, als ich diesen Text fertig schreibe. Ich sitze an meinem Schreibtisch und denke an diesen Wintertag in meiner Heimat zurück, an den warmen Kaffee und das leise Klirren der Löffel. An meine Oma, die mir von Helga erzählt hat.
Bald ist der 19. März. Auch mein Vater hat an diesem Tag Geburtstag. Wir werden feiern, lachen, Geschichten erzählen – und ich werde gemeinsam mit meiner Oma ihrer Cousine Helga gedenken.
Ich kann Helgas Geschichte leider nicht mehr mit ihr gemeinsam erzählen. Aber sie wird nicht vergessen, denn die andere Helga hat sie erzählt. Und ich durfte sie aufschreiben.
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Infos und Quellen
Genese
Redakteur:innen der WZ haben es sich zur Aufgabe gemacht, in der persönlichen Familienhistorie zu graben. Konkret handelt es sich um die Jahre der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs. Eine Zeit, über die lang nicht gesprochen wurde und über die in den meisten Familien nicht viel bekannt ist. WZ-Trainee Daniela hat dafür mit ihrer Oma gesprochen. Und auch wenn sich die Geschichte anderes entwickelt hat, als sie erwartete, zeigt sie nun, wie wichtig es ist mit Verwandten und Zeitzeug:innen zu sprechen, solange sie da sind.
Gesprächspartnerin
Helga Oma
Quellen
Siemens Historical Institute: Informationen des Berufsweges von Helgas Vater
Daten und Fakten
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Der Spanische Bürgerkrieg (1936–1939) war ein blutiger Konflikt zwischen Republikanern und Nationalisten unter Francisco Franco. Die Republikaner wurden von der Sowjetunion und internationalen Brigaden unterstützt, die Nationalisten von Hitler-Deutschland und Mussolinis Italien. Nach Francos Sieg begann eine jahrzehntelange Diktatur. Der Krieg war ein Vorbote des Zweiten Weltkriegs und prägte moderne Kriegsführung und Propaganda.
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Königsberg, die Hauptstadt Ostpreußens, war im Zweiten Weltkrieg von strategischer und symbolischer Bedeutung für das Deutsche Reich. Die Stadt diente als wichtiger militärischer Stützpunkt und Nachschubbasis an der Ostfront, wurde aber ab 1944 massiv von der Roten Armee angegriffen. Nach einer monatelangen Belagerung kapitulierte Königsberg am 9. April 1945, womit der letzte deutsche Widerstand in Ostpreußen gebrochen war. Die Stadt wurde danach von der Sowjetunion annektiert, in Kaliningrad umbenannt und ist bis heute russisches Gebiet mit großer geopolitischer Bedeutung.
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Die nationalsozialistische Propaganda spielte das Vorrücken der Roten Armee lang herunter und verbreitete bis zuletzt die Illusion eines möglichen deutschen Siegs. Selbst als sowjetische Truppen bereits nah waren, wurden Rückzugsbefehle verzögert oder verboten, wodurch Hunderttausende Zivilist:innen von der Flucht abgeschnitten wurden. Erst als die Front vollständig zusammenbrach, begann eine panische, oft unorganisierte Flucht, die von extremem Leid, Kälte und sowjetischer Vergeltung geprägt war.
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Die Flucht der Zivilbevölkerung aus Ostpreußen begann im Herbst 1944, als die Rote Armee immer näher rückte, und erreichte im Jänner 1945 mit der Ostpreußischen Operation ihren Höhepunkt. Die Ostpreußische Operation war eine großangelegte Offensive der Roten Armee gegen die Wehrmacht in Ostpreußen und Westpreußen vom 13. Jänner bis 25. April 1945. Hunderttausende Zivilist:innen flohen bei eisigen Temperaturen über die Ostsee, oft unter chaotischen Bedingungen und unter Angriffen sowjetischer Truppen.
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Die Wilhelm Gustloff war ein deutsches Schiff, das im Zweiten Weltkrieg als Lazarett- und Truppentransporter genutzt wurde. Am 30. Jänner 1945 wurde es in der Ostsee von einem sowjetischen U-Boot versenkt, wobei Schätzungen zufolge zwischen 4.000 und 9.000 Menschen, überwiegend Zivilist:innen und Flüchtlinge, ums Leben kamen. Es gilt bis heute als die größte Schiffskatastrophe der Geschichte. Das Schiff wurde nach Wilhelm Gustloff, einem NSDAP-Funktionär, benannt und war ursprünglich für Freizeitfahrten gebaut worden.