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„Ich bin ja nur einer von vielen“

von Max

Sie erzählen auch entlang eines fotografischen Skizzenbuchs. Waren zuerst die Bilder oder zuerst die Geschichten da?

Zuerst war immer die Erfahrung, eine Situation, ein Bild, das ich festhalten wollte. Ich bin auf Reisen ja ziemlich schreibfaul. Früher habe ich viel notiert, aber je länger ich unterwegs war, umso komplexer und rätselhafter erschien mir die scheinbar unbezweifelbare Wirklichkeit. Wenn man in der Erinnerung zu einem Erlebnis zurückkehrt, ist das ja oft nur eine beurteilende Version dessen, was man erlebt hat. Das Foto ist dagegen wie ein Spiegel. Und was immer das Gespiegelte bedeutet, muss erst noch entdeckt werden. Ich habe für mich ja eine ganze Bibliothek verschiedenster Spielformen des Erzählens unter dem Titel „Unterwegs nach Babylon“ begründet und darin einige der unzähligen Möglichkeiten vorgeführt, Geschichten zu erzählen. Im vorliegenden Band wollte ich mit siebzig „Mikroromanen“ eine Verschränkung von Bild und Text erreichen, also den Text untrennbar mit dem Bild in einer Art verbinden, dass Erzählung nicht ohne das Bild und das Bild nicht ohne den Text betrachtet, gelesen werden kann. Der im Augenblick vom Buchhandel und den Verlagen aus guten Geschäftsgründen so forcierte Roman muss ja noch zeigen, ob er ein Alter wie die dreieinhalbtausendjährigen homerischen Epen erreichen kann oder nach seiner gegenwärtigen profitablen Epoche wieder in einem Fächer anderer Erzählformen verschwindet.

Sie haben einen Fundus an optischen Notizen?

Rund 18.000 schmucklose, nur zu Erinnerungszwecken aufgenommene Fotos. Sie enthalten vieles, das so weit zurück in meine Vergangenheiten reicht, dass ich mich ohne diese Bilder wahrscheinlich nicht mehr erinnern würde.

Als Sie Ihren ersten Roman, „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ geschrieben haben, war die Welt noch analog. Im neuen Buch sind auch Bilder aus der Arktis.

Ja, die sind aber später entstanden. Als ich „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ schrieb, hatte ich noch nie Packeis gesehen. Ich war damals angewiesen auf Quellen und Erzählungen, Stahlstiche, Fotos und bin erst viel später an Bord von Eisbrechern tatsächlich zum Franz Josef Land und noch später bis zum Nordpol gefahren und habe dort die erleichternde Erfahrung gemacht, dass ich nichts mehr dazu sagen oder schreiben musste: Es war ja bereits getan. Wenn ich mein Fotoarchiv betrachte, rauscht manchmal ein wahrer Tsunami von Erinnerungen heran. Dann bin ich wie ein Surfer auf den Wellen der Vergangenheit und sehe hier ein Drama und dort eine Komödie. Aber im Wesentlichen geht es dabei nie um ein abenteuerliches oder langweiliges Leben, sondern um den nackten Lauf der Zeit, der sich unserem Einfluss entzieht. Während wir hier noch friedlich sitzen, erreicht uns möglicherweise eine SMS, dass ein lieber Mensch in einem Autounfall sein Leben verloren hat. Das entspricht selbstverständlich nicht unseren Lebensplänen, sondern einer Dynamik ohne unseren Willen. Einen Teil dieser Dynamik wollte ich in den Mikroromanen abbilden.

Weil Sie es erwähnt haben: Haben Sie auch so was wie ein langweiliges Leben?

Natürlich. Ich bin ja nur einer von vielen und alles andere als ein heroischer Superman.

Wenn über Sie geschrieben wird, heißt es immer: Der Abenteurer. Der Reisende. Sie haben sich auch selber immer wieder gerne als Tourist bezeichnet.

Ja, der Tourist wird meinem Leben eher gerecht. Der ist ja nicht gerade der Held der Erfahrung, sondern ganz im Gegenteil wird er mal dahin, mal dorthin gezogen und geschoben und sieht dabei sehr oft nur das, was er ohnedies bereits im Kopf hat, projiziert sozusagen seine vertraute Welt auf das Fremde und Rätselhafte. Ich habe mich zwar immer auch dafür interessiert, was tatsächlich sowohl geographisch als auch kulturell unter unserem Horizont liegt. Aber natürlich wäre es lächerlich zu glauben, ich wäre mehr als ein Tourist. Wenn ich die Leute in einem Dorf im Kongo oder im tiefen Amazonien frage, was sie in mir sehen, haben sie zwar möglicherweise kein Wort für „Tourist“, aber sie würden gewiss zu verstehen geben: Du hast keine Ahnung von unserem Leben und unseren Bräuchen.

Allerdings gehen die Orte, von denen Sie berichten, doch über die klassischen Touristen-Ziele hinaus. Wir Leserinnen und Leser wissen zumindest nichts darüber, dass Sie schon einmal in Lignano gewesen wären.

War ich aber auch schon und bin dort freundlichen Menschen begegnet. Geschrieben habe ich allerdings nichts darüber. Ich habe jedoch über mein Dorf geschrieben, Roitham am Traunfall. Es waren also nicht immer nur entlegene Destinationen. Natürlich hat mich meine Neugier auch vieles entdecken lassen, was weit jenseits des Dorfes lag, zunächst oft durch Bücher. Ich bin beispielsweise in die Arktis aus einem Buch aufgebrochen – den Aufzeichnungen der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition. Damals hatte ich weder eine Ahnung von der Polarnacht noch vom Packeis. Dann habe ich die Journale des Expeditionskommandanten Julius Payer gelesen und mich auf den Weg gemacht.

Auch die Gegend, aus der Sie kommen, gibt erzählerisch viel her. Die Berge, die Gewässer, das hat sehr viel Erzählpotenzial.

Wenn man das wahrnehmen kann oder will, ja. Aber wenn Sie jetzt in mein Dorf kommen, sehen Sie nur noch den üblichen Standard: Kirche, Schule, Raiffeisenkasse und ein Gasthaus. Der unverwechselbare Charakter ist verschwunden.

Für Sie war das als Kind aber doch auch Abenteuerwelt.

Absolut. Ein Dorf sah damals ja auch ganz anders aus. Ich erinnere mich an strohgedeckte Häuser. Es gab den Tischler, den Schuster, den Bäcker, den Dachdecker, den „Kolonialwarenhändler“… Einer der Gründe, warum ich mich in Irland wohlgefühlt habe, war gewiss auch, dass ich das Gefühl hatte, auf einer Zeitreise in meine Vergangenheit zu sein. Im Dorf meiner Kindheit gab es drei große Bauernhöfe als Zentrum. Diese Höfe mit ihren Stallungen und Kegelbahnen, die gleichzeitig Gasthäuser waren, waren ein wichtiger Schauplatz meiner kindlichen Erfahrungen. Wenn der Bauer vom Nachbarhof pflügte, durfte ich ohne Sattel auf dem Zugpferd, einem Norikerwallach, reiten. Ich habe mich an der Mähne dieses für mich riesigen Tieres festgehalten und erinnere mich an seinen dampfenden Atem. Wenn ich an diese Welt denke, kann ich kaum glauben, dass sie tatsächlich Teil meiner eigenen Geschichte war. Bin ich vielleicht gar nicht 70, sondern 270 Jahre alt?

Sind Sie manchmal noch in Roitham?

Nur noch auf dem Friedhof. Ich bin meinen Eltern immer noch sehr dankbar, auch wenn sie schon lange tot sind, und ich liebe sie immer noch. Jetzt, wo auch mein eigenes Leben bereits in der unteren Hälfte der Sanduhr dahinrieselt, wollte ich Ihnen etwas schenken: Eine neue Grabstelle aus jenem grünen brasilianischen Granit, gebrochen in jenen Steinbrüchen an der brasilianischen Küste, an der ich manchmal monatelang geschrieben habe. Und anstatt eines Kreuzes, eines Hinrichtungswerkzeugs, wurde ein Komet in den Stein geschlagen. Anders als ich waren meine Eltern religiös, der Komet könnte also auch jener Schweifstern sein, der den Weg nach Bethlehem gewiesen hat.

Sie erzählen im Buch davon, dass Sie als Kind mit Ihrem Vater auf dem Traunstein waren. Wann waren Sie das letzte Mal dort und welchen Weg gehen Sie am liebsten?

Das ist schon länger her, drei oder vier Jahre. Mit meinem Vater bin ich den alten Naturfreundesteig gegangen. Heute folge ich meinem jüngeren Bruder Stefan, der ein erfahrener, toller Alpinist ist. Wir gehen unsere eigenen Routen und Wege.

Sie haben Ihren älteren Bruder voriges Jahr durch einen Absturz im Höllengebirge verloren. Hat das Ihre Beziehung zum Bergsteigen verändert? Sind Sie ängstlicher geworden?

Nicht ängstlicher – ich war auf meinen Reisen ja immer wieder an großen und größeren Bergen in Nepal und Tibet, dort sind Leben und Tod enger miteinander verbunden als in unserer vermeintlich sicheren Welt – aber die Kostbarkeit des Lebens ist mir noch nie und so überwältigend bewusst geworden, als ich vor dem zerschmetterten Körper meines Bruders stand.

Sie schreiben auch über Ihre früh und plötzlich verstorbene Schwester. Und illustrieren das mit einer heiteren Zeichnung ihres Enkels. „Andi gibt Oma die Hand“ erinnert Sie an Michelangelos Erschaffung Adams. So verbinden Sie Leben und Sterben mit großer Leichtigkeit.

Es gibt eben dieses Nebeneinander eines möglichen Glücks und großer Traurigkeit. Episoden dessen, was wir unser Leben nennen. Ich habe durch Leserinnen und Leser, die bereit sind, meine Bücher zu kaufen, das Privileg und das Glück, zu reisen, die Welt zu erfahren und einen Teil meiner Erfahrungen zur Sprache zu bringen. Und das alles in großer Langsamkeit. Auch deswegen ist mir die kurze Form lieb. Denn mit den Jahren wachsen ja nicht nur Erfahrungen, sondern auch die Zahl der Themen und Geschichten, die zur Sprache gebracht werden wollen. Würde ich das alles in Romane verwandeln, müsste ich zumindest das Alter einer Meeresschildkröte erreichen.

Ihr neues Buch heißt „Egal wohin, Baby“. Ist dieser Titel eine Art Motto?

Der Titel ist nicht von mir. Er stammt von einem Bahnhofs-Sprayer aus Ingolstadt, der damit sowohl eine maßlose Liebeserklärung als auch die größtmögliche Gleichgültigkeit in drei Worte fasste. Ich wollte mich mit diesem Titel auch bei dem Sprühdichter von Ingolstadt bedanken.

Sie schreiben vom zugleich leichtesten und schwersten Souvenir, das ein Reisender von seinen Fahrten mitnehmen kann: Dem Rätsel. Hat Ihnen das Reisen im Lauf der Jahre noch mehr Rätsel aufgeben oder haben Sie vielmehr Antworten gefunden?

Es ist ein glücklicher Ausnahmefall, wenn wir aus der sogenannten Fremde, aus einem Rätsel, mit dem Gefühl zurückkommen, vieles nicht bloß erfahren, sondern auch gelernt zu haben. Oft ist das Gegenteil der Fall. Wo immer wir hinkommen, sehen wir, wenn wir nur den Kopf heben, weitere Ziele: Was liegt hinter diesem Höhenrücken, hinter diesem Waldstück, am unsichtbaren westlichen Ufer dieses Sees, unter dem Horizont? Fragen, die nicht zu beantworten sind, weil wir ja nicht endlos weitergehen können, sondern wieder zurückmüssen. Was vor unserem Aufbruch im Dunkel lag, im Dunkel des Tals der Ahnungslosigkeit, wird unterwegs vielleicht etwas heller. Aber es wäre vermessen und dumm zu glauben, mit meinen Erfahrungen die Welt tatsächlich verstanden zu haben. Was wir in Erfahrung bringen können, ist die ungeheure Vielfalt und Komplexität dieser Welt und das Bewusstsein der Vielgestaltigkeit und Kostbarkeit des Lebens.

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