Startseite Kultur „Ich möchte nie wieder so ein Interview geben“

„Ich möchte nie wieder so ein Interview geben“

von Max

Bei ihm daheim in Santa Cruz, Kalifornien, ist es ein Uhr am Nachmittag, als der KURIER Jonathan Franzen zum Interview erreicht. Franzen, der seit dem Erscheinen seines Romans „Die Korrekturen“ 2001 (mehr als 3 Millionen verkaufte Exemplare) als einer der wichtigsten Gegenwartsautoren gilt, hat um diesen Termin gebeten, weil seine Vormittage dem Schreiben gewidmet sind.

Möglicherweise auch der Vogelbeobachtung, eine große Leidenschaft Franzens, über die er erstmals in seinem Essay „My Bird Problem“ berichtet hat. Um seltene Arten aufzuspüren, reist er um die Welt und führt dabei Listen seiner Sichtungen.

KURIER: Die letzte uns bekannte Zahl ist, dass Sie bisher 4.800 verschiedene Vogelarten beobachtet haben. Wie ist der Letztstand?

Jonathan Franzen: Ich habe mich verbessert. Im Oktober habe ich mein inoffizielles Ziel erreicht, nämlich die Hälfte aller Arten der Welt (rund 11.000, Anm.) zu sehen.

Wenn Sie die Natur so intensiv beobachten, bemerken Sie Veränderungen? Man liest immer vom Insektensterben, das zur Folge hat, dass Vögel sich nach anderen Nahrungsquellen umsehen und zu anderen Orte ziehen müssen. Fällt Ihnen das auf?

Auf die eigene Beobachtung kann man sich nicht verlassen bei der Frage, ob es noch so viele Vögel wie früher gibt. Das Gedächtnis ist unzuverlässig. Sie müssen sich tatsächlich die Statistiken und Studien ansehen. Und zumindest in Nordamerika haben wir mindestens einen 30 % Rückgang der gesamten Vogelpopulation in den letzten 50 Jahren gesehen. Und das hat mit vielen Dingen zu tun. Der Verlust von Lebensräumen ist wahrscheinlich das Hauptproblem. Doch auch der Rückgang der Insektenpopulationen ist auf eine unglaubliche Pestizid-Belastung unserer Umwelt zurückzuführen, die nicht nur nützliche Insekten töten, sondern auch für die Vögel selbst giftig sein können. Ja, die Liste geht weiter. Bis hin zu Windrädern, in denen Vögel sterben.

Wenn man über das Verschwinden der Vögel spricht, führt das unweigerlich dazu, über den Klimawandel zu sprechen. Kürzlich haben Sie gesagt, dass dieser Kampf verloren sei. Wo glauben Sie, stehen wir jetzt? 

Ich glaube, der Kampf ist längst verloren. Wissen Sie, Europa könnte tatsächlich vollständig auf fossile Brennstoffe verzichten und es würde keinen Unterschied machen, denn andere Orte sprechen ja nicht einmal darüber. Und selbst in Europa ist es politisch deutlich schwieriger geworden. Das liegt daran, dass der Kampf gegen den Klimawandel, ob zu Recht oder zu Unrecht, mit einer bürokratischen Elite in Verbindung gebracht wurde. Was wir bei diesen populistischen, nationalistischen Phänomenen erleben, ist eine Revolte gegen diese Elite. Und die Menschen haben angesichts des Klimawandels, den sie möglicherweise zur Kenntnis nehmen, beschlossen, dass sie die gigantischen Anstrengungen, die es benötigt, um ihn zu verlangsamen, nicht auf sich nehmen werden.

Freiheit
Das Familienleben von Öko-Pionier Walter geht den Bach runter, er geht auf Vogelsuche (Blauwaldsänger!). Drei-Generationen-Roman aus der Zeit  Reagan bis  Obama. dtv, 752 Seiten, 16 Euro

Die Unruhezone
So etwas Ähnliches wie eine Autobiografie: Jonathan Franzens Erinnerungen  an Kindheit, Jugend, Studium. Charlie Brown und Karl Kraus kommen ausgiebig vor. dtv. 256 Seiten, 15 Euro

Crossroads
Eine US-Vorstadtgemeinde  in den frühen 70ern.  Jeder in der Familie des  evangelischen Pastors Russ sucht seinen eigenen Weg. Der Auftakt einer Trilogie über drei Generationen. Rowohlt Taschenbuch, 832 Seiten, 18 Euro

Anleitung zum Alleinsein
Fünfzehn Essays darüber, wie man mit der Welt von heute zurechtkommt –  mit  lärmender Massenkultur und von Ideologien gefärbter Wahrnehmung. dtv, 332 Seiten, 14,95 Euro

 

 

 

 

Es gibt Schriftsteller, die meinen, in Zeiten wie diesen, in denen man die Demokratie verteidigen muss, könne man nicht mehr nur Belletristik schreiben. Die Ära des Romanschreibens ist vorbei. Was antworten Sie denen? 

Nun, ich frage mich, was man sonst noch nicht tun darf? Darf man nicht mehr Tennis spielen oder ein Bier trinken, weil wir eine Demokratiekrise haben? Muss ich meine gesamte Zeit mit der Demokratiekrise verbringen? Die Leute wollen immer noch Romane lesen. Der Roman bleibt der Ort, an dem wir der Komplexität der Welt begegnen, der Tatsache, dass alles zwei Seiten hat und dass es Einfühlungsvermögen braucht, den anderen zu verstehen. Ich will jetzt nicht den politischen oder gesellschaftlichen Nutzen von Romanen verteidigen. Aber ich glaube, dass für viele Menschen, die gerne lesen, Romane eine Art Nährboden der Fantasie sind, auf dem auch viel anderes gedeihen kann. Was anderes wäre es, wenn die Vereinigten Staaten zu einem faschistischen Land würden – was noch nicht der Fall ist –, wenn die Rechtsstaatlichkeit völlig außer Kraft gesetzt würde und die derzeitige Verfolgung bestimmter Eliten zu einer allgemeineren Verfolgung von Einzelpersonen und insbesondere von Schriftstellern und Künstlern würde. Dann wären, wie früher in repressiven Umgebungen wie in der Sowjetunion, Schriftsteller wohl dazu aufgerufen, aufzustehen. Die Politik beschreibt die Dinge schwarz-weiß. Und als Künstler male ich in Grau. Zum Glück sind wir noch nicht an dem Punkt, an dem ich aufhören muss, Romanautor zu sein, und anfangen muss, Agitator zu werden.

Wird es eines Tages dazu kommen? 

Ich gebe normalerweise keine Prognosen ab. Aber vor der letzten Wahl habe ich in einem Interview Dinge gesagt, die mir jetzt extrem peinlich sind. Ich sagte, Trump wird nicht gewinnen und wenn, dann wird er die Dinge, die er angekündigt hat, nicht umsetzen, dazu ist seine Aufmerksamkeitsspanne zu kurz. Und wenn doch, dann steckt dahinter nichts Organisiertes. Er ist einfach ein kleiner Tyrann, der sich an bestimmten Leuten rächen will. Ich weiß nicht mehr, was ich alles gesagt habe. Aber ich weiß, dass ich nie wieder so ein Interview geben möchte.

Das tut uns leid. Dann reden wir doch weiter über Literatur. Es wird seit Jahren darüber geredet, dass immer weniger Menschen Bücher lesen. Im deutschsprachigen Raum beobachten wir jetzt ein interessantes Phänomen: Weniger Menschen kaufen Bücher, obwohl der Umsatz am Buchmarkt gleich bleibt. Ist in Amerika ein ähnlicher Trend zu beobachten? 

Wahrscheinlich. Menschen, die nach Literatur suchen, werden auch weiterhin nach guten Büchern suchen. Und ich denke, es ist unbestreitbar, dass es mit der Bildungskrise und der Verbreitung von Smartphones immer weniger junge Menschen geben wird, die nach dieser Art von Büchern suchen. Ich glaube allerdings nicht, dass sie jemals ganz verschwinden werden. Leider galt das Lesen guter Bücher immer als Privileg. Es ist ja nicht so, dass vor 100 Jahren die Massen Proust gelesen haben. Es waren Leute, die Glück hatten. Der Roman ist also praktisch seit seiner Entstehung am Sterben. Es ist alarmierend, aber für mich nicht so alarmierend wie die Zerstörung der Natur. Weil wir viele dieser Orte, viele dieser Arten zerstören und ausrotten. Ja, vielleicht befinden wir uns jetzt in einer Phase, in der jeder süchtig nach seinem Smartphone ist, aber man kann sich vorstellen, dass die Menschen eines Tages wieder mehr lesen.

Aber die Smartphones sind Zeit- und Aufmerksamkeitsfresser, selbst bei wunderbaren Autorinnen: Zum Beispiel Margaret Atwood ist auch sehr, sehr aktiv in den sozialen Medien. 

Darüber sprechen Margaret und ich nicht, das ist unsere Vereinbarung. Ich finde, die Sozialen Medien widersprechen der grundlegenden Natur des literarischen Schreibens. Dafür muss der Autor mit sich alleine sein, in tiefer Ruhe, und sich zu Orten durchgraben, zu denen man nur gelangt, wenn man alleine ist. Auch Bücher werden ja nicht gemeinsam gelesen, selbst wenn Sie mit Ihren Freunden in einem Zimmer sitzen und lesen, ist jeder für sich mit dem Buch allein. Ich glaube nicht, dass es wirklich gesund ist, wenn junge Autoren ständig auf den Sozialen Medien sein müssen. Es könnte ihr Schreiben verändern. Aber mehr als das kann ich die Sozialen Medien auch nicht verurteilen.

Aber vor allem verlernt man dort doch auch, mit Komplexität umzugehen, weil alles auf einen emotionalen Satz reduziert wird, oder? 

Wir können davon ausgehen, dass Karl Kraus Twitter und Facebook gehasst hätte, überhaupt wohl das ganze Silicon Valley. Und auf eigenartige Weise hat er schon über all das geschrieben, vor 100 Jahren! Aber sein Format war der Aphorismus. Die Kürze an sich ist also nicht das Problem. Sondern der Algorithmus, der vereinfachende, aufrührerische Sprache belohnt. Diese Algorithmen sind teuflisch so designed, dass sie in ein chemisches System hineinarbeiten, das den Menschen mit Dopamin belohnt. Dieses ständige Herumspringen, um die nächste Dosis Dopamin abzuholen, steht mit Sicherheit in Widerspruch zu der dauerhaften, tiefen Aufmerksamkeit, die das Lesen eines Buches erfordern kann.

Mit all dem, was heute los ist, ist es fast wie eine Erleichterung, sich wie in Ihrem jüngsten Roman „Crossroads“ literarisch in der Vergangenheit aufzuhalten, einer Zeit, die um einiges weniger verrückt scheint.

Es hat so viel Spaß gemacht zurückzugehen! Nicht Smartphones mitbedenken zu müssen, auch die Sozialen Medien nicht … Dadurch, dass man damals viel weniger Information hatte, konnten so viele wunderbare Missverständnisse entstehen. Und ich begann mit dem ersten Buch zu Beginn der Trump-Ära. Für sechs Stunden am Tag von all diesem Unsinn wegzukommen, in einer anderen Zeit leben zu können – wenn auch nicht unbedingt in einer glücklicheren – war großartig.

Aber die Trilogie soll letztendlich doch in die Gegenwart führen, sagten Sie.

Ach, wissen Sie: Man kann einen Plan für einen oder auch drei Romane an einem Nachmittag machen. Es ist leicht zu sagen, das und das will ich tun. Aber dann müssen Sie das auch schreiben, und da stellen sich Fragen: Will das überhaupt geschrieben werden? Ist es interessant? Das findet man erst heraus, wenn man sich hinsetzt und es tut. Ja, ich hatte für einige Tage die Idee, dass die Trilogie in die Gegenwart führt. Aber davon bin ich noch weit entfernt, ich befinde mich bei der Arbeit am zweiten Band immer noch in der sicheren Vergangenheit. Es gibt immer noch keine Smartphones, aber Pager. Die hatte ich schon ganz vergessen (lacht).

Oftmals fühlt man sich trotzdem in der Vergangenheit kompetenter, oder?

Ich denke, ich hatte einen guten Lauf. Ich hatte ein gutes Gespür für die Kultur und die Ereignisse im Land und konnte mich in jede Altersgruppe hineinversetzen. Ich wusste, wie die Menschen waren. Ich wusste auch, wie die Menschen meines Alters waren. Aber es könnte eine Zeit kommen, in der man nicht mehr in der Position ist, überzeugend über alle Bereiche der Gesellschaft zu schreiben. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass ich genau dann, als ich in meine 60er eintrat, begann, einen Roman zu schreiben, der zurückblickt und nicht um mich herum.

Warum?

Ein Beispiel: Die Menschen verbringen so viel Zeit online. So viel ihres Lebens besteht aus ihren Online-Interaktionen. Das ist wie eine andere Sprache, ich muss oft heraussuchen, was die Abkürzungen heißen. Wie soll ich beschreiben, wie junge Menschen in Chats kommunizieren? Ich will nicht schlecht sein. Ich will ein guter Autor sein. Ein Teil dessen ist, zu wissen, was man gut tun kann, und auch zu wissen, was nicht.

Also keine Gegenwart mehr in Ihren Büchern?

Ich mache, wie gesagt, keine Vorhersagen mehr. Aber ich habe mein erstes Buch 1998 geschrieben. Ich hatte 25 gute Jahre, in denen ich oben auf der Welle ritt. Ist das nicht genug?

Wir wollen jetzt nicht wie die Frau in Stephen Kings „Misery“ klingen, aber wir wünschen uns dringend die Fortsetzung von „Crossroads“!

Keine Sorge. Ich kriege schon Druck, das zu machen – nicht von meinem amerikanischen, sondern von meinem deutschen Verlag.

Sie haben in München und Berlin studiert. Lesen Sie die deutschen Übersetzungen Ihrer Bücher?

Ja! Über die letzten Bücher bin ich sehr sorgfältig drübergegangen. Insbesondere bei „Unschuld“ wollte ich sichergehen, dass es richtig übersetzt wurde, da es ja in Deutschland spielt. Und ich habe meine ehemalige Verlegerin zum Weinen gebracht.

Oh nein, warum?

Sie ist die fleißigste, sorgfältigste, wundervollste Verlegerin, die Sie in der Branche treffen werden. Ich habe auf einer Lesereise in dem Buch, das wir damals beworben haben, geblättert. Sie fragte mich, wie ich die Übersetzung fand, also blätterte ich eine beliebige Seite auf – und fing an, ihr Fehler zu nennen. Dann blickte ich auf und sah sie weinen. Ab da dachte ich, vielleicht wäre es gut, die Übersetzungen vor der Veröffentlichung anzuschauen.

Wenn Sie am 15. Mai nach Wien kommen, werden Sie auf Deutsch lesen?

Ja, mein Deutsch ist noch so, dass Sie mich auf die Bühne setzen können, und ich kann Fragen beantworten. Aber diesmal wird es schwierig, weil ich nur wenige Stunden in Wien sein werde. Normalerweise braucht es Wochen, bis ich mich in der Sprache wieder wohlfühle. Aber nach ein paar Bier spreche ich wie ein Einheimischer (lacht).

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