„Ich wollte nicht, dass meine Tochter in Deutsch einen Fünfer hat“, erzählt die Mutter einer heute 16-Jährigen, die im Vorjahr ihr letztes Pflichtschuljahr an einer polytechnischen Schule in Wien absolviert hat. „Das hätte ihr die Zukunft verbaut.“ Deshalb verfolgte sie einen ganz konkreten Plan: Nach den Frühwarnungen kam sie den Einladungen der Schule nicht nach und erschien nie persönlich – per Telefon sprach sie allerdings oft mit der Deutschlehrerin und zeigte sich einsichtig und verständnisvoll. So lange, bis die Notenkonferenz unmittelbar bevorstand und der Fünfer Realität werden sollte.
„Dann bin ich in die Schule und habe mich beschwert, dass ich vorher nicht informiert worden bin“, sagt die Mutter zur WZ. Denn die Telefongespräche, die es in Wahrheit ja gegeben hatte, waren nicht nachweisbar, und Schriftverkehr und/oder ein persönliches Treffen hatten nie stattgefunden. „Ich habe mit dem Anwalt gedroht, falls der Fünfer nicht zurückgenommen wird.“
Von wem sie diesen konkreten Plan hatte? „Von meinem Anwalt“, sagt die Mutter, die letztendlich Erfolg damit hatte: Die Deutschlehrerin, der Klassenvorstand sowie der Schuldirektor trafen sich mit ihr und beraumten innerhalb kürzester Zeit eine Prüfung noch vor der Notenkonferenz ein, die die Tochter positiv absolvierte. Statt des Fünfers stand nun ein Vierer im Zeugnis.
„Viele kommen gleich mit dem Anwalt in die Schule“
Fälle wie diese häufen sich, sagt dazu Paul Kimberger, Vorsitzender der Gewerkschaft Pflichtschullehrerinnen und Pflichtschullehrer in der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD). „Früher waren diese Fälle äußerst selten. Heute gehen mehrere pro Woche über meinen Schreibtisch.“ Konkret habe es seit dem Ende der Corona-Quarantänepflicht ab Sommer 2022 einen massiven Anstieg gegeben. „Viele Väter und Mütter kommen gleich mit dem Anwalt in die Schule“, so Kimberger, „und die Lehrerinnen und Lehrer wenden sich dann mit der Bitte um Unterstützung an die Gewerkschaft.“
Vor allem jüngere Lehrer:innen seien betroffen, ergänzt Herbert Weiß, Vorsitzender der AHS-Gewerkschaft in der GÖD. Berufseinsteiger:innen, „die noch nicht das Standing besitzen, das erfahrenere Kolleginnen und Kollegen haben“. Auch Weiß bemerkt hier einen starken Anstieg. Die Gründe seien stets recht ähnlich, sagen die beiden Gewerkschafter zur WZ: eine schlechte Note im Maturazeugnis, Fünfer im Zeugnis, mit denen das Kind nicht aufsteigen darf oder aber auch ein Dreier, der den Übertritt in die Wunschschule verunmöglicht.
„Die Eltern kommen dann und sagen: ,Wir brauchen ein Gut und kein Befriedigend‘, und versuchen das mit allen Mitteln durchzusetzen“, so Kimberger. Dazu zählen vor allem Eltern in Ballungszentren, wo es einen Konkurrenzkampf um die „guten“ Schulen gibt und der Notendurchschnitt ausschlaggebend sein kann. Um von der Volksschule ins Gymnasium zu wechseln, dürfen die Schüler:innen in Deutsch und Mathematik generell keine schlechtere Note als Gut haben und müssen in allen anderen Pflichtgegenständen positiv sein.
Die Gesellschaft, die Einspruch erhebt
Marcus Dekan, Präsident des Bundeselternverbands, formuliert es folgendermaßen: Es sei in Mode gekommen, Einspruch zu erheben – in der Gesellschaft und damit auch im Schulwesen. Dieses Bedürfnis, zu streiten und um sein vermeintliches Recht zu kämpfen, sei zunehmend unter immer mehr Eltern präsent. „Ohne, dass sie vorher einschätzen, ob das sinnvoll und überhaupt umsetzbar ist“, sagt Dekan.
Mit ihrem Anwalt/ihrer Anwältin gehen sie zum Lehrer/zur Lehrerin, wenn das für sie nicht erfolgreich war zum Klassenvorstand/zur Klassenvorständin, schließlich zur Direktorin/zum Direktor, und wenn das alles an der Note nichts ändert, bis zur Bildungsdirektion. Der Großteil der Fälle werde aber bereits in den Gesprächen an der Schule gelöst, meint Dekan. Die Gründe dafür: Allein die Drohung, rechtlich gegen die Benotung vorzugehen, genüge oft schon, um eine gemeinsame Lösung zu finden. Ein Rechtsstreit kostet zudem Geld und bindet Ressourcen, sei also für keine Seite erstrebenswert. Und: Die rechtlichen Möglichkeiten seien generell sehr beschränkt. Anwält:innen hätten beim Schulrecht wenig Spielraum.
Alexander Kompein ist Rechtsanwalt und Partner der Kompein Widmann Rechtsanwälte OG und unter anderem auf Schulrecht spezialisiert. Er bestätigt gegenüber der WZ, „dass das Rechtssystem bei der Frage der schulischen Benotung sehr restriktiv ist“.
Eine Note ist wie das Gutachten eines/einer Sachverständigen zu sehen.
Alexander Kompein, Rechtsanwalt
Gestaltungsspielraum bei der Benotung
Wer warum welche Note bekommt, basiere grundsätzlich auf dem Schulunterrichtsgesetz und der Leistungsbeurteilungsverordnung. Daraus ergebe sich der Gestaltungsspielraum, woraus sich eine Note zusammensetzen darf, sagt Kompein. Diese sei wie das Gutachten eines/einer Sachverständigen zu sehen.
Um gegen eine negative Note vorzugehen, gebe es dem Gesetz nach nur eine Möglichkeit: ein Widerspruchsverfahren gegen die Entscheidung der Schule, dass das Kind nicht in die nächste Schulstufe aufsteigen darf. Bei diesem wird geprüft, ob die negative Zeugnisnote korrekt vergeben worden ist. Sollte die Bildungsdirektion die negative Note bestätigen, kann die Sache weiter vor das Bundesverwaltungsgericht gebracht werden.
Geht es darum, dass zum Beispiel ein Dreier auf einer Zweier korrigiert werden soll, ist das laut Kompein unter Umständen über eine Dienstaufsichtsbeschwerde „durch die Hintertür“ möglich. Diese richtet sich gegen den/die Lehrer:in selbst. „Es wird geprüft, ob der Lehrer oder die Lehrerin gegen Dienstpflichten verstoßen hat“, sagt Kompein. Die prüfende Stelle ist die Bildungsdirektion. Stellt diese fest, dass sich der Lehrer/die Lehrerin falsch verhalten hat, kann das eine Weisung bis hin zur Versetzung zur Folge haben.
Lehrer:innen sind hoheitlich tätig
Lehrer:innen zivilrechtlich zu klagen, sei jedoch nicht möglich. „Sie sind im Rahmen ihrer Tätigkeit für den Staat oder, bei Privatschulen, für den Schulerhalter hoheitlich tätig – deshalb haften diese für sie.“ Falls Eltern dennoch den Weg der Klage gehen wollen, müssten sie – im Fall der öffentlichen Schule – einen Amtshaftungsanspruch gegen die Republik geltend machen oder – bei der Privatschule – den jeweiligen Schulerhalter klagen.
Das komme in der anwaltlichen Praxis allerdings selten vor. Widerspruchsverfahren seien hingegen häufig. Diese habe er auch „schon oft genug gewonnen“, sagt Kompein. Sie beschäftigen die Kanzleien in drei signifikanten Schüben pro Jahr, ergänzt Philipp Haas, der Rechtsanwalt der RIHS Rechtsanwalt GmbH und ebenfalls unter anderem auf Schulrecht spezialisiert ist: in den Semesterferien, am Ende des Schuljahres im Juni sowie im September, wenn die Nachprüfungen sind.
Die Fakten, die die Betroffenen über die jeweiligen Fälle berichten, seien allerdings oft konträr. Auf der einen Seite die Schüler:innen, die etwa sagen, sie hätten für die Prüfung zu wenig Zeit gehabt. Auf der anderen Seite die Lehrer:innen, denen zufolge es ausreichend Zeit gab. Und schließlich die Eltern, die ihren Kindern glauben – aber nicht wissen, wie es wirklich war.
Wurde mein Kind ungerecht behandelt?
„Schule ist ein hoch emotionales Thema“, sagt Haas. „Eltern sind oft der Ansicht, ihr Kind sei ungerecht behandelt worden, denn sie wollen natürlich nur das Beste für ihr Kind.“ Und das Kind selbst? „Das ist oftmals gar nicht bei dem Beratungsgespräch dabei, vor allem, wenn es jünger ist.“
Dass es vor allem die Eltern sind, die die Benotung ihres Kindes als ungerecht empfinden, bestätigt der Bundesobmann der Schülerunion Österreich Vincent Theodor Reisner. „Einer unserer Services ist der sogenannte Schulrechtsnotruf: Dort können Schüler:innen, Eltern und Lehrer:innen anrufen und sich zu schulrechtlichen Fragen beraten lassen. Diesbezüglich zeigt unsere Erfahrung, dass mit großem Abstand die meisten Anrufe von Eltern kommen“, sagt er.
Dass Eltern eine:n Anwalt/Anwältin einschalten wollen oder bereits eingeschaltet haben, sei immer wieder Thema. Lehrpersonen würden auch von Eltern bedroht, beziehungsweise werde mit (rechtlichen) Konsequenzen gedroht, falls das Kind nicht die gewünschte Note bekommt. „Ich würde annehmen, dass das meistens durchaus im Sinne der Schüler:innen geschieht“, sagt Reisner, „wobei mir andererseits auch Geschichten bekannt sind, dass Eltern stark aus persönlicher Motivation heraus gegen Lehrpersonen vorgehen und diese ,angreifen‘.“
Um so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten, was die Benotung betrifft, werde jungen Lehrer:innen daher vom ersten Tag an eingebläut: alles ganz genau dokumentieren und jedes Plus und Minus sowie die Mitarbeit schriftlich festhalten, heißt es von mehreren Berufseinsteiger:innen, die namentlich nicht genannt werden möchten, zur WZ. Vor allem jede einzelne Note müsse genau begründet werden, um den Beweggrund im Nachhinein belegen zu können. Die schriftliche Dokumentation scheint also in jedem Fall wichtig zu sein – vor allem auch, wenn es um Telefongespräche mit einem Elternteil zu einer Frühwarnung geht.
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Infos und Quellen
Genese
Die Tochter von WZ-Redakteurin Petra Tempfer ist Lehrerin an einer Polytechnischen Schule in Wien. In deren Freundeskreis befinden sich mehrere Lehrer:innen, die darüber erzählt haben, dass Eltern wegen einer Schulnote gedroht haben, ihre:n Anwalt/Anwältin einzuschalten. Petra Tempfer sprach mit diesen und recherchierte weiter.
Gesprächspartner:innen
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Eine Schülerinnen-Mutter, die einer Deutschlehrerin mit dem Anwalt gedroht hat, Lehrer:innen sowie Schüler:innen, die nicht genannt werden möchten.
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Marcus Dekan ist Präsident des Bundeselternverbands sowie zweiter Vorsitzender des Verbands der Elternvereine an den Höheren und Mittleren Schulen Wiens.
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Philipp Haas ist Rechtsanwalt der RIHS Rechtsanwalt GmbH und unter anderem auf Schulrecht spezialisiert.
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Paul Kimberger ist Vorsitzender der Gewerkschaft Pflichtschullehrerinnen und Pflichtschullehrer in der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst.
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Evelyn Kometter ist Vorsitzende des Dachverbands der Elternverbände der Pflichtschulen Österreichs.
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Alexander Kompein ist Rechtsanwalt und Partner der KOMWID Kompein Widmann Rechtsanwälte OG und unter anderem auf die privat- und öffentlichrechtlichen Aspekte des Schulrechts spezialisiert.
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Vincent Theodor Reisner ist Bundesobmann der Schülerunion Österreich.
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Herbert Weiß ist Vorsitzender der AHS-Gewerkschaft in der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst.
Daten und Fakten
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Schulunterrichtsgesetz, § 18. (1) Die Beurteilung der Leistungen der Schüler in den einzelnen Unterrichtsgegenständen hat der Lehrer durch Feststellung der Mitarbeit der Schüler im Unterricht sowie durch besondere in die Unterrichtsarbeit eingeordnete mündliche, schriftliche und praktische oder nach anderen Arbeitsformen ausgerichtete Leistungsfeststellungen zu gewinnen. Maßstab für die Leistungsbeurteilung sind die Forderungen des Lehrplanes unter Bedachtnahme auf den jeweiligen Stand des Unterrichtes.
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Leistungsbeurteilungsverordnung, § 20. (1) Den Beurteilungen der Leistungen eines Schülers in einem Unterrichtsgegenstand für eine ganze Schulstufe hat der Lehrer alle vom Schüler im betreffenden Unterrichtsjahr erbrachten Leistungen zugrunde zu legen, wobei dem zuletzt erreichten Leistungsstand das größere Gewicht zuzumessen ist. Dabei sind die fachliche Eigenart des Unterrichtsgegenstandes und der Aufbau des Lehrstoffes zu berücksichtigen.
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Schulrechtsnotruf der Schülerunion Österreich: 01/406 58 40