In Österreich hat sich das Gefühl etabliert, dass Kärnten irgendwie anders ist. Aber was genau macht den Unterschied zum Rest der Republik aus? Die WZ hat sich auf eine mentalitätsgeschichtliche Spurensuche begeben.
„Karntn is lei ans“, so geht ein bekanntes Volkslied. Übersetzt beschreibt es ein Lebensgefühl, es heißt so viel wie: „Kärnten ist einzigartig auf der Welt“. Leute, Kultur, Landschaft lassen sich demnach unmöglich mit etwas anderem vergleichen.
Dem würde wohl kaum jemand widersprechen. Welches andere Bundesland kann schon auf derartig viele schöne Seen und das einzigartige Karawanken-Panorama verweisen? Und wo können gleichzeitig simple zweisprachige Ortsschilder zu einem jahrzehntelang erbittert geführten Streit führen? Welches andere Bundesland kann sich „rühmen“, eine Figur wie den verstorbenen Jörg Haider gleich zweimal als Landeshauptmann gehabt zu haben? Haider, der große rechte Polit-Verführer, der den Kärntner:innen den Kopf verdrehte und das Land in den finanziellen Ruin trieb, bevor er (selbstverschuldet) bei einem Autounfall starb.
Immer am Rand
Kärnten ist landschaftlich beeindruckend, im Sommer und im Winter, das ja, aber die Bevölkerung: nicht greifbar. Diese Wahrnehmung wird von vielen Nicht-Kärntner:innen geteilt und hängt wieder zu einem großen Teil mit dem Ex-Landeshauptmann aus dem Bärental zusammen. Kärntner:innen gelten immer noch als chauvinistisch, reaktionär, als Menschen, die Probleme machen und sich von ihrem nationalsozialistischen Erbe nie lösen konnten.
Das stimme, sagt Alexandra Pulvermacher zur WZ, nur sehr bedingt. Die Historikerin ist Kärntnerin und forscht derzeit in einem Drittmittelprojekt zum Thema „Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in der besetzten Ukraine, 1941-44“ an der Universität Klagenfurt. Kärnten sei von Beginn an eher an der Peripherie gelegen, sagt sie, und greift weit in die Geschichte zurück. Die Randlage habe sich verstärkt, als Maria Theresia im 18. Jahrhundert zahllose Protestant:innen des Landes verwies – „ein brain drain“, der sich bis heute auswirke. „Böse Zungen behaupten, dass in einigen Kärntner Tälern die Aufklärung nie so ganz Fuß fassen konnte“, so Pulvermacher.
Irre Angst vor „Slowenisierung“
Ein großer Zeitsprung nach vorn – dann kam schon Jörg Haider und die Sache mit den Slowenen. Ein Aspekt, ohne den das Kärntner Wesen nicht voll erfassbar ist. Haider sei „grenzenlos manipulativ gewesen“, betont die Historikerin, sein Tod, so bedauerlich er auch sei, habe Kärnten zweifellos gutgetan.
Wobei mit der Person Haider die Angst vor der „Slowenisierung“ des Landes untrennbar verbunden ist. Da ist einerseits der zum Heldenmythos hochstilisierte „Abwehrkampf“ gegen die slawische Gefahr aus dem Süden nach dem Ersten Weltkrieg. Auch die Verschleppungen und Erschießungen durch die Tito-Partisanen im Mai 1945 seien bis heute „nicht völlig aufgearbeitet“, sagt Pulvermacher, „das wirkt weiter, vieles ist offengeblieben“. Vor allem im Süden des Bundeslandes hätten sich im Zweiten Weltkrieg furchtbare Dinge wie Deportationen ereignet, die etwa Maja Haderlap in ihrem lesenswerten Buch „Engel des Vergessens“ sehr bildhaft beschreibt.
Zentral ist hier die Kärntner Identitätskrise, weil, wie der Psychoanalytiker Ernst Ottomeyer in Abhandlungen und Vorträgen festgestellt hat, zumindest jede:r zweite Kärntner:in in den Jahrzehnten nach 1945 eine slowenische Großmutter hatte. Pulvermacher geht sogar noch weiter: „Kärnten war ursprünglich komplett slowenisch besiedelt“, sagt sie, dieser slawische Ursprung sei noch an vielen Orts- und Flurnamen sowie an den Nachnamen der Menschen ablesbar. Auch in den Kärntner Dialekten sei das slowenische Erbe nicht zu verleugnen.
Hass auf Slowen:innen ist in Kärnten also Selbsthass, Deutschtümelei eine Art Überkompensation. Eine explosive Mischung, die der Oberösterreicher Haider zu seinen Gunsten auszunützen wusste: Er schürte den Unfrieden und bot gleichzeitig an, einen „Schlussstrich“ ziehen zu wollen. Er hielt das Trauma künstlich wach und versprach Abhilfe, die er schon deshalb nicht bereitstellen konnte, weil es sein politisches Fundament, den „Sprit“, mit dem er von Erfolg zu Erfolg eilte, zerstört hätte. Die Zwietracht zwischen den Volksgruppen sicherte Haider den Zuspruch durch seine Anhänger; es war Teil seines politischen Kapitals.
Verlassene Kinder
Laut Pulvermacher sei die Frage der ethnischen Zugehörigkeit in Kärnten kompliziert. So seien die Slowen:innen von jeher innerhalb der Volksgruppe eher gespalten gewesen, viele Slowen:innen hätten sich bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts „vom Slowenentum abgewandt“. In der Zwischenkriegszeit wurde die „Windischen-Theorie“ äußerst wirkmächtig, die einen erheblichen Teil der Kärntner Slowen:innen zu Deutschen deklarierte. Viele Kärntner Slowen:innen gaben dem starken Assimilierungsdruck nach, einige von ihnen entwickelten sich zu den erbittertsten Vorkämpfer:innen für das „deutsche Volkstum“. Pulvermachers eigener Großvater – zeitlebens ein überzeugter FPÖ-Wähler – „hat aber nie auf die Slowenen geschimpft“. Vielmehr habe er sogar in slowenischer Sprache geflucht – wohl eine Angewohnheit, die er sich in seiner Lehrzeit bei einem Kärntner slowenischen Schmied angeeignet hatte. Und das slowenische Erbe sei etwas, „auf das die Kärntner:innen stolz sein sollten“, erklärt die Historikerin. „Genau das macht uns ja aus.“
Wobei Pulvermacher einen „Komplex“ identifiziert, der Slowen:innen und „Deutschkärntner:innen“ vereint. Es sei „das Motiv, verlassen zu sein“, von Wien insbesondere 1919/1920 im Stich gelassen worden zu sein. Die Gefühlslage „wir sind Wien einerlei“ sei „noch zum Teil spürbar“. Für den Sozialpsychologen Ottomeyer sind die Kärntner:innen überhaupt „verlorene Kinder“, die dem nicht vorhandenen Vater nachlaufen. In der Tat war die Zahl der unehelich Geborenen zumindest 2008 in Kärnten mit 52,9 Prozent österreichweit am höchsten. Zum Vergleich: In Wien lag der Wert bei 30,8 Prozent. Eine vaterlose Gesellschaft also, immer auf der Suche nach einer übergeordneten, männlichen Bezugsperson?
Hier liegt es nahe, wieder eine Verbindung zu Haider herzustellen. Er war der Landesvater, der jedes seiner „Kinder“ persönlich zu erkennen schien, auf sehr physische Weise da war. Der auf jede:n zuging, um ihm/ihr die Hand zu schütteln, auf die Schulter zu klopfen. Vielleicht einer der Gründe, warum manch ein:e Kärntner:in Haider bis heute nachtrauert.
Die Lage entspannt sich
Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass sich das Bundesland in den letzten Jahren stark gewandelt hat. 2011 konnte ein Ortstafel-Kompromiss erreicht werden, der zwar nicht alle völlig zufrieden stellt, den Streit aber doch sehr beruhigt hat. Das Verhältnis zwischen den Volksgruppen sei jetzt stärker von Respekt und Akzeptanz geprägt, sagt Pulvermacher. Viele deutschsprachige Eltern würden ihre Kinder in slowenische Schulen schicken. Spricht man in der Öffentlichkeit slowenisch, so werde man zwar in Einzelfällen schief angeschaut, aber nicht mehr so massiv beschimpft wie früher. Auch Menschen aus der ehemals unmittelbaren Umgebung Haiders würde sich jetzt um Versöhnung bemühen.
So zeigen sich die Kärntner:innen von ihrer friedlichen Seite. „Sehr nette, freundliche Leute“ seien die meisten, sagt Pulvermacher. Nur über Politik sollte man gegebenenfalls nicht mit ihnen diskutieren.
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Infos und Quellen
Daten und Fakten
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Aktuelle politische Machtverteilung in Kärnten: Landeshauptmann ist Peter Kaiser von der SPÖ, er bestreitet seit April 2023 seine dritte Amtszeit. SPÖ und ÖVP bilden im Landtag eine Koalition, die SPÖ hat dort 15 Sitze, die ÖVP 7, die FPÖ 9, Team Kärnten 5. Bei der Nationalratswahl 2019 erreichte die ÖVP 34,9 Prozent der Stimmen, die SPÖ 26,2 Prozent, die FPÖ 19,8 Prozent, die Neos 6,8 Prozent und die Grünen 9,5 Prozent.
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Jörg Haider, eine schillernde Polit-Figur in Österreich, war von 1989 bis 1991 und von 1999 bis 2008 Landeshauptmann von Kärnten. 2008 starb er bei einem Autounfall. Sein Name ist untrennbar mit der Hypo Alpe Adria verbunden, dem größten Bankenskandal der Zweiten Republik nach dem Bawag-Desaster.
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Ortstafel-Sturm: Aus Angst vor einer Slowenisierung Kärntens wurden 1972 zweisprachige Ortstafeln von der aufgebrachten Bevölkerung „gestürmt“ – beschmiert oder demontiert. Bei der Polizei und dem Sitz der Landesregierung gingen Bombendrohungen ein. Bis zum Jahr 2011 wurde in der Frage kein Kompromiss gefunden.
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Kärntner Abwehrkampf: Nachdem Kärnten durch die Kärntner Landesverfassung von 1918 den Beitritt zur Republik Deutschösterreich erklärt hatte, drangen am 5. November 1918 Truppen des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat) in Südostkärnten ein. Kärnten entschloss sich zum Widerstand und konnte die SHS-Truppen zurückdrängen. Es kam zu einem Waffenstillstand. In der Volksabstimmung am 10. Oktober 1920 stimmte eine Mehrheit der Kärntner:innen für den Verbleib bei Österreich. Dabei votierte fast jede:r zweite slowenischsprachige Kärntner:in für einen Verbleib. Der Abstimmung und des Abwehrkampfes wird bis heute in Kärnten intensiv gedacht.
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Wirtschaft: Die Industrie ist Kärntens wichtigster Wirtschaftszweig, im Tourismus sind deutlich weniger Menschen beschäftigt. Die stärksten Branchen der Industrie sind: Elektronik, Maschinen/Metall, Holz und Chemie. Das BIP/pro Kopf ist in Kärnten höher als im Burgenland und in Niederösterreich.
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Der Psychoanalytiker Erwin Ringel hat das Buch „Die Kärntner Seele“, 2000 neu verlegt im Hermagoras-Verlag, geschrieben.
Gesprächspartnerin
Die Kärntner Historikerin Alexandra Pulvermacher hat mit der WZ über ihre Landsleute gesprochen.
Prominente Kärntner:innen
Kärnten hat etliche Schriftsteller:innen von Rang hervorgebracht, darunter Robert Musil, Ingeborg Bachmann, Peter Handke. Weitere berühmte Kärntner sind Udo Jürgens und der Philosoph/Psychologe/Soziologe Paul Watzlawick.