Die schwierige Regierungsbildung in Österreich, die Wende der ÖVP hin zur FPÖ sowie deren mögliche Regierungsbeteiligung beschäftigt internationale Medien am Montag. Diese kommentieren die Lage wie folgt:
„Neue Zürcher Zeitung“:
„Nun ist die Strategie der Ausgrenzung Kickls krachend gescheitert, weil die Verhinderung einer FPÖ-Regierungsbeteiligung kein Ersatz war für eine Vision zum gemeinsamen Regieren. Seit Nehammers Rücktritt hat die ÖVP einen rapiden Kurswechsel in Richtung Freiheitliche vorgenommen – weil die Option Neuwahlen für sie noch unattraktiver ist als die undankbare Rolle des Juniorpartners. (…)Will Kickl tatsächlich ins Kanzleramt, muss er nun jedoch zeigen, dass er Verantwortung übernehmen kann und es schafft, Österreicherinnen und Österreicher jenseits seiner überzeugten Anhänger anzusprechen. Das ist eine politische Notwendigkeit für eine Partei, die trotz Wahltriumph weniger als 30 Prozent der Stimmen erhielt. Ob er dazu in der Lage ist und ob es innerhalb der FPÖ genug Kompetenz zum Regieren gibt, muss sich weisen. Die Partei hat sich schon mehr als einmal selbst zerlegt, sobald sie an der Macht war. So stark wie heute war ihre Position allerdings nie – und ihre Konkurrenten waren nie so schwach und uninspiriert.“
„Zeit online“ (Hamburg/Wien):
„Das Drama in der österreichischen Politik geht weiter und wird, je länger es dauert, immer mehr zu einer Farce. Jeder Tag bringt eine neue Volte. (…)Nachdem die Gespräche mit den Sozialdemokraten am Samstagabend gescheitert waren, kündigte der neue ÖVP-Parteichef Christian Stocker am Sonntagnachmittag an, er sei bereit für Verhandlungen mit der FPÖ. Eine beeindruckende Wende um 180 Grad, angetrieben vom mächtigen Wirtschaftsflügel der ÖVP, der von Beginn an gegen eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten war. Die Konservativen brechen damit eines ihrer zentralen Wahlversprechen, keine Koalition mit der FPÖ von Herbert Kickl einzugehen. Und nicht nur das: Sie würden, wenn das Regierungsbündnis zustande kommt, Österreich in eine neue Ära führen, in ein Land, das sich schon bald ein Vorbild an den politischen Verhältnissen in Ungarn nehmen könnte. “Machen wir’s dem Orbán nach“, sagte Kickl schon vor zwei Jahren.
Eine funktionierende Demokratie braucht eine redliche konservative Partei. Redlich wäre gewesen, nach dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen in Neuwahlen zu gehen und in einen Wahlkampf, in dem man die Option einer Zusammenarbeit mit der FPÖ eben nicht ausschließt. So aber hat die ÖVP ihre Wähler getäuscht und macht sich zum Steigbügelhalter eines Rechtspopulisten.“
„Süddeutsche Zeitung“ (München):
„Die neue Situation ist Stand jetzt eine veritable Staatskrise. Am Freitag hatten die liberalen Neos verkündet, sich aus den Koalitionsverhandlungen mit der konservativen ÖVP und der sozialdemokratischen SPÖ zurückzuziehen und damit eine Kettenreaktion ausgelöst. Die führte erst dazu, dass Bundeskanzler Karl Nehammer seinen Rückzug vom Parteivorsitz der ÖVP und aus dem Kanzleramt ankündigte. Und endete Sonntagnachmittag damit, dass es vielleicht bald eine Regierung unter der Führung der rechten bis rechtsextremen FPÖ geben könnte. (…)Wer immer auch in Österreich regiert, sieht sich nicht nur einer katastrophalen Haushaltslage entgegen, die dringendes Sparen erfordert. Sondern auch einer Rezession und nicht zuletzt der Frage, wie man sich im Europa der Krisen und Kriege außenpolitisch positioniert. Herbert Kickl hat dazu schon einiges durchblicken lassen. Er steht der EU höchst kritisch gegenüber, hat angedeutet, dass auch ein ‚Öxit‘ nichts sei, ‚was man auf alle Zeiten ausschließen kann‘. Er ist für Friedensverhandlungen mit Russland; als er noch Innenminister einer ÖVP-FPÖ-Regierung unter Sebastian Kurz war, sollen aus dem ihm unterstellten Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung Informationen nach Russland abgeflossen sein. Weshalb der CDU-Abgeordnete Roderich Kiesewetter einmal über die FPÖ unter Kickl sagte, sie wirke ‚wie ein trojanisches Pferd Russlands in Europa‘.“
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“:
Österreichs politische Krise spielt sich vor einer alarmierenden Verfassung der Wirtschaft ab, die in das dritte Rezessionsjahr eintaucht. Gesundheits- und Rentensystem drohen – wie in Deutschland – Überlastungen. Die öffentlichen Finanzen sind überdehnt, die EU plant ein Defizitverfahren – gegen das Land, das in Brüssel anderen so gerne das Sparen empfohlen hat. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Produktivität sinkt. Gründe genug, den hinlänglich diagnostizierten Reformstau anzugehen, Wachstumskräfte freizulegen: Lohnnebenkosten zu reduzieren, arbeitsfeindliche Fehlanreize im Steuersystem zu beseitigen, das Renteneintrittsalter schrittweise zu erhöhen, Bürokratie zu beseitigen und überbordende Staatshilfen für Verbraucher und Unternehmen zurückfahren. Mit der SPÖ war das nicht möglich. Aber das Umverteilen von Wohlstand schafft nicht mehr Wachstum für alle. Nicht einmal dem Ziel, das faktische Renteneintrittsalter bis 2030 auf 63,5 Jahre heraufzusetzen, wollten Österreichs Sozialdemokraten zustimmen, vom Plan der Einführung einer Rente mit 67 ganz zu schweigen. Wie groß kann die Realitätsverweigerung noch sein? Wo bleibt der in Österreich gern zitierte „Hausverstand“? (…)Der Vergleich der Wahlprogramme und wirtschaftspolitischen Ziele zeigt große Übereinstimmung zwischen FPÖ und ÖVP. Mit dem Abtritt Nehammers macht er, der seine Mitwirkung in einer Regierung unter dem FPÖ-Vorsitzenden Herbert Kickl ausgeschlossen hat, den Weg in eine solche frei. Weite Teile der Wirtschaft liebäugeln schon länger damit. Doch ein Bundeskanzler Herbert Kickl, bekennender EU-Skeptiker und Anhänger des illiberalen ungarischen Ministerpräsidenten Orbán, bliebe nicht nur wegen der europapolitischen Folgen ein gewagtes Experiment.“
Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (Hannover):
Für Deutschland ist das Beispiel Österreich eine Warnung. Alle sollten sie sich zu Herzen nehmen, Politikerinnen und Politiker wie auch Wählerinnen und Wähler. Bei den Politikern gilt das für all jene, die meinen, sie könnten Rechtsextreme überflüssig machen, indem sie deren Sprache und/oder Inhalte kopieren. Dass das nicht funktioniert, sondern das Gegenteil bewirkt, hat sich bereits gezeigt. Es gilt auch für die, die Politik im Dschungelcamp-Modus betreiben – als Showveranstaltung, in denen das lustigste Selfie zählt. Politik muss nicht knäckebrottrocken daherkommen, aber mehr Ernsthaftigkeit ist schon vonnöten. Die Fähigkeit zur Krisenbewältigung lässt sich nicht in Bockwurstverzehr messen.Und schließlich würde es helfen, politischen Wettbewerb nicht mit der maximalen Breitbeinigkeit zu betreiben. Wer Koalitionen mit anderen demokratischen Parteien ausschließt, wer die eigenen Ideen von Finanzen bis Gesundheitspolitik absolut stellt, schürt Erwartungen, die in einem Mehrparteiensystem kaum erfüllbar sind, und verhindert Koalitionen und Kompromisse. Siehe Österreich.„
The Guardian“ (London):
„Es wäre eine Wende für die Partei, die kurz davor zu stehen schien, von der Macht ferngehalten zu werden, nachdem die etablierten Parteien, darunter die Österreichische Volkspartei, sich weigerten, eine von FPÖ-Chef Herbert Kickl geführte Regierung zu unterstützen, der während der Wahl seine Reden routinemäßig mit Nazi-Rhetorik spickte, mit Slogans wie ‚Festung Österreich‘ und ‚Österreich zuerst‘ gegen Migranten hetzte und zuvor als Hardliner-Innenminister abgesetzt worden war. (…)Kickl, der den autokratischen ungarischen Regierungschef Viktor Orbán als Vorbild nennt, hat bereits früher erklärt, dass seine Partei nur dann einer Regierung beitreten würde, wenn er Kanzler wäre. Er hat lange Zeit für Kontroversen gesorgt und mit dem Slogan ‚Volkskanzler‘ Wahlkampf betrieben, ein Begriff, der einst für Adolf Hitler verwendet wurde. Die FPÖ, die in den 1950er Jahren gegründet und zunächst von einem ehemaligen hochrangigen SS-Offizier und Nazi-Gesetzgeber geführt wurde, hat die Idee der ‚Remigration‘ – Zwangsdeportation – von Einwanderern und im Ausland geborenen Bürgern gefordert. Sie hat auch gefordert, die Unterstützung des Westens für die Verteidigung der Ukraine gegen Russland und die EU-Sanktionen gegen Moskau einzustellen. In ihrem jüngsten Wahlprogramm mit dem Titel ‚Festung Österreich‘ forderte sie Österreich auf, durch strenge Kontrollen zu einer ‚homogeneren‘ Nation zu werden.“
„Financial Times“ (London):
„Kickls pro-russische Ansichten, sein verschwörerisches Denken rund um die Covid-19-Pandemie und seine unappetitlichen Flirts mit der österreichischen Nazi-Vergangenheit haben ihn zu toxisch für Nehammer und andere Zentristen gemacht, die geschworen hatten, ihn von der Macht fernzuhalten. Aber die Vorstellung eines cordon sanitaire gegen die extreme Rechte war in Österreich, wo die 1956 gegründete FPÖ mehrere Perioden an der Macht war, schon immer eine bedingte Angelegenheit. (…) Ein weiterer entscheidender Faktor in den letzten Tagen scheint ein mutiger Vorstoß des ehemaligen ÖVP-Vorsitzenden und Bundeskanzlers Sebastian Kurz für ein politisches Comeback gewesen zu sein. Seit Monaten kursieren Gerüchte, dass der erst 38-jährige Kurz dies versuchen würde. Wegen Meineids verurteilt und wegen Korruption angeklagt, wird Kurz trotz seines Talents von vielen in der Partei immer noch als Belastung angesehen. Letzte Woche schlug er schließlich Parteibonzen vor, ihn wieder als Vorsitzenden einzusetzen, mit der Begründung, dass seine Bilanz – zwei große Wahlsiege in den Jahren 2017 und 2019 – ihn als die einzige Figur zeige, die die Partei vor der FPÖ retten könne. Seine Bedingung dafür sei eine vorgezogene Neuwahl, sagten zwei hochrangige ÖVP-Funktionäre der Financial Times. Die Partei war der Meinung, dass sie sich einen solchen Deal nicht leisten konnte, da ihre Kassen zu leer waren, und viele waren skeptisch, ob er angesichts der schlechten Umfragewerte, die die Partei erhielt, eine Wende schaffen würde.Das Stück, auch wenn es erfolglos blieb, machte deutlich, dass Nehammers Zukunft als Anführer vorbei war. Und Kurz gilt als alles andere als aus dem Spiel.“
„New York Times“:
„Der Aufstieg der FPÖ würde ihren Brandstifter Herbert Kickl in die Position des Bundeskanzlers bringen und einen neuen Höhepunkt für den Aufstieg der extremen Rechten in Europa markieren. (…)Herr Kickl, dessen Partei in den 1950er Jahren von ehemaligen Mitgliedern der SS, der paramilitärischen Polizei der Nazis, gegründet wurde, führte einen starken Anti-Immigranten-Wahlkampf. Die Partei hat in der Vergangenheit Migranten in Österreich als Kriminelle und Sozialschmarotzer verunglimpft. Er forderte einen vorübergehenden Stopp der Aufnahme neuer Asylbewerber und ein Gesetz, das Asylbewerbern die Aufnahme österreichischer Staatsbürger verbietet. Herr Kickl hat versprochen, Österreich zu einer Festung zu machen, und seine Partei stellt ihn vor, indem sie vor Wahlkampfreden das Wort ‚Volkskanzer‘ verwendet, das an den Aufstieg des deutschen Faschismus erinnert.Es könnte viele Wochen, vielleicht Monate dauern, bis eine Regierung unter Kickl vereidigt würde. Sie wäre eine der ersten offen rechtsextremen Regierungen in Europa, was widerspiegelt, wie unzufrieden die Wähler mit der Migration und den wirtschaftlichen Turbulenzen sind und sich zunehmend der extremen Rechten zuwenden.“
„Le Monde“ (Paris):
„Nach dem Scheitern der Gespräche über die Bildung einer zentristischen Regierung zeigen sich die Konservativen zu Verhandlungen mit der FPÖ, die bei der Wahl als Sieger hervorgegangen ist, bereit. Sollten die Gespräche erfolgreich verlaufen, wäre es das erste Mal seit 1945, dass ein Vertreter einer von ehemaligen Nationalsozialisten gegründeten Partei die wichtigste Position in österreichischen Institutionen erreicht.“
„La Repubblica“ (Rom):
„Neue Wendung in Österreich: Die Möglichkeit von Neuwahlen rückt in den Hintergrund. Heute wird Bundespräsident Alexander Van der Bellen den ultra-rechten Herbert Kickl empfangen. Der Mann, dem er nie das Amt des Bundeskanzlers überlassen wollte. (…) Die Frage ist: Warum zieht Van der Bellen es nach Monaten des erklärten Widerwillens vor, Kickl zu berufen, statt Neuwahlen auszurufen? Warum scheint die ÖVP, nachdem sie monatelang gegen den Risikofaktor Kickl gewettert hat, bereit, sich mit ihm zu verbünden?Möglicherweise, weil die Rechtsextremen seit den Wahlen in den Umfragen von 29 auf mehr als 35 Prozent gestiegen sind. Sollte die FPÖ ein solches Ergebnis an der Wahlurne holen, hätte sie im Parlament eine Sperrminorität, um verfassungsrelevante Reformen zu blockieren. Und für die Volkspartei würde sie zu einem Regierungspartner, der sie noch mehr erdrückt.“
„Dnevnik“ (Ljubljana):
„Nach dem Ende der Verhandlungen zwischen ÖVP und SPÖ am Samstag hat Herbert Kickl zwei gute Möglichkeiten: entweder wird er Bundeskanzler einer FPÖ-ÖVP-Koalition oder er gewinnt die vorgezogenen Neuwahlen deutlich stärker als im September, wie es die Umfragen vorhersagen. Die ÖVP-Spitze hat sich am Sonntag für eine Koalition mit der FPÖ entschieden, weil die Partei bei Neuwahlen noch mehr Abgeordnete verlieren würde als im September“.
„Magyar Nemzet“ (Budapest):
„Auch Österreich hat sich in die Reihe der Länder eingereiht, in denen die politische Elite achselzuckend erklärt, dass es keine Lösung für die Gleichung gibt. (…) Europa ist krank, sein Zustand verschlechtert sich und es scheint völlig unfähig, sich zu erholen. Niemand will die tief in der Erde vergrabenen und fest im Fels verankerten Positionen aufgeben.Das österreichische Wohlfahrtsmodell basiert auch darauf, dass die hohen Tiere der Volkspartei oder der Sozialdemokraten gemästet werden. (…) Doch als die Realität dem glücklichen Österreich die Tür vor der Nase zuschlug, als die Wirtschaft ins Stocken geriet, als die Wiener Innenstadt nicht mehr einem Apfelstrudel-Schmuckkästchen, sondern dem Nahen Osten ähnelte, stimmte die Bevölkerung für die ‚Nazis‘ (FPÖ). Und die Elite versuchte drei Monate lang, ihre Positionen zu halten, indem sie sich über die Demokratie und die Wähler lustig machte.“