Nach dem erstmaligen Abschuss einer Hisbollah-Rakete auf Tel Aviv bereitet die israelische Armee eine Bodenoffensive im Libanon vor. Dafür solle zunächst die Infrastruktur der radikal-islamischen Miliz zerstört werden, sagte Generalstabschef Herzi Halevi am Mittwoch. Die Armee hatte zuvor „großflächige“ Angriffe gegen die Schiitenmiliz geflogen. Dem libanesischen Gesundheitsministerium zufolge starben dabei am Mittwoch 51 Menschen, 223 wurden verletzt.
Ein israelischer Militärsprecher bezeichnete den Raketenabschuss als „Eskalation“. „Es ist das allererste Mal, dass eine Hisbollah-Rakete den Raum Tel Aviv erreicht hat“, sagte ein israelischer Militärsprecher. Die Hisbollah versuche „eindeutig, die Situation zu eskalieren“.
Mossad-Hauptquartier zum Ziel
Die pro-iranische Miliz hatte zuvor erklärt, sie habe eine Rakete vom Typ Kader 1 abgefeuert, „die das Mossad-Hauptquartier am Stadtrand von Tel Aviv zum Ziel hatte“. Das Hauptquartier des israelischen Auslandsgeheimdienstes sei „verantwortlich für die Ermordung von Führungskräften und die Explosion von Pagern und drahtlosen Geräten“. Durch diese Explosionen waren Anfang vergangener Woche 39 Menschen getötet und fast 3.000 weitere verletzt worden.
Die israelische Armee erklärte, sie habe den Raketenwerfer, von dem die Rakete abgefeuert worden sei, bei Nafahiyeh im Südlibanon attackiert. Kampfflugzeuge hätten zudem „großflächige“ Angriffe auf Hisbollah-Einrichtungen im Libanon geflogen. Die Luftwaffe habe „Terroristen getroffen, die an terroristischer Infrastruktur tätig waren, Einrichtungen zur Lagerung von Waffen, Raketenwerfer und andere terroristische Hisbollah-Ziele“, hieß es.
USA beunruhigt über Zuspitzung
Die USA zeigten sich beunruhigt über die Zuspitzung. US-Präsident Joe Biden sagte in einem Interview mit dem Fernsehsender ABC, dass ein „umfassender Krieg“ im Nahen Osten möglich sei. Es gebe aber auch die Möglichkeit einer Lösung, fügte er hinzu. Insidern zufolge wollen die USA eine neue Friedensinitiative starten, um die Kämpfe im Libanon und dem Gazastreifen zu beenden. Dabei soll erstmals versucht werden, eine gemeinsame Lösung für beide Konflikte zu finden, sagten mehrere mit der Angelegenheit vertraute Personen. Die Details würden während der derzeitigen UNO-Vollversammlung ausgehandelt. „Die Gefahr einer Eskalation in der Region ist akut“, sagte Außenminister Antony Blinken. Die USA und ihre Verbündeten täten alles, um einen ausgewachsenen Krieg zu verhindern.
Angesichts der andauernden Gefechte mit der Hisbollah beorderte das israelische Militär zwei Reservebrigaden in den Norden des Landes. „Die IDF ruft zwei Reservebrigaden für operative Einsätze in die nördliche Region“, teilten die Streitkräfte am Mittwoch mit. „Dies wird es ermöglichen, den Kampf gegen die Terrororganisation Hisbollah fortzusetzen, den Staat Israel zu verteidigen und die Voraussetzungen für die Rückkehr der Bewohner Nordisraels in ihre Heimat zu schaffen“, hieß es weiter.
Raketenkommandant der Hisbollah getötet
Die anhaltenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hisbollah hatten sich zuletzt verschärft. Am Montag hatte das israelische Militär den bisher größten Einsatz gegen die pro-iranische Hisbollah-Miliz im Libanon seit Beginn des Gazakrieges ausgeführt. Nach Angaben der libanesischen Regierung wurden dabei schon mehr als 600 Menschen getötet. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) teilte am Mittwoch mit, dass die aktuellen Kämpfe bereits 90.000 Menschen im Libanon in die Flucht getrieben hätten. Fast 40.000 Personen seien in 283 Notunterkünften untergekommen.
Am Dienstag startete die israelische Armee eine zweite Angriffswelle. Die Hisbollah reklamierte ihrerseits 18 Angriffe auf Israel für sich, während Israel erklärte, die Miliz habe rund 300 Raketen abgefeuert. Die Hisbollah bestätigte zudem den Tod des für ihr Raketenarsenal zuständigen Kommandanten Ibrahim Qubaisi bei einem israelischen Angriff auf die Hauptstadt Beirut.
Bei den Angriffen am Mittwoch seien vier Menschen im Dorf Joun im Chouf-Gebirge südöstlich von Beirut gestorben, drei im Dorf Maaysra etwa 25 Kilometer nördlich der Hauptstadt, teilte das libanesische Gesundheitsministerium mit. Neun Menschen wurden demnach bei israelischen Angriffen im Südlibanon getötet, sieben weitere bei einem Angriff auf Baalbek-Hermel im Osten.
Spannungen seit 7. Oktober verschärft
Seit dem beispiellosen Angriff der islamistischen, mit der Hisbollah verbündeten Palästinenserorganisation Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel und dem dadurch ausgelösten Krieg im Gazastreifen haben sich die regionalen Spannungen verschärft. Israels Norden steht seitdem unter Dauerbeschuss durch die Hisbollah. Die israelische Armee reagiert auf die Angriffe mit Gegenangriffen im Libanon.
Am Mittwoch wollte sich der UNO-Sicherheitsrat in einer Dringlichkeitssitzung mit der Lage im Libanon befassen. An der Sitzung um 18.00 Uhr Ortszeit (Donnerstag 00.00 Uhr MESZ) wollte auch UNO-Generalsekretär António Guterres teilnehmen. Er hatte am Dienstag zum Auftakt der Generaldebatte der UNO-Vollversammlung in New York gewarnt, es müsse alles getan werden, „um zu verhindern, dass der Libanon zu einem weiteren Gaza wird“.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, der ebenfalls bei der Generaldebatte sprechen wird, verschob seine Abreise nach New York auf Donnerstag, wie sein Büro mitteilte. Er hatte am Dienstag angekündigt, Israel werde „weiterhin die Hisbollah angreifen“.
Das geistliche Oberhaupt des Iran, Ayatollah Ali Khamenei, sagte unterdessen in Teheran, die gezielte Tötung von Hisbollah-Kommandanten durch Israel werde die Miliz „nicht in die Knie zwingen“. Die „Autorität, Fähigkeiten und Stärke“ der Hisbollah „können durch den Verlust dieser Märtyrer nicht ernsthaft beeinträchtigt werden“, sagte Khamenei.