„Es war die größte Ehre meines Lebens, Ihnen als Präsident zu dienen“, schrieb Joe Biden am Sonntag auf X. Danach folgten die Zeilen, auf die viele seit Tagen gewartet hatten: „Ich glaube, es ist im besten Interesse für die Partei und das Land, zurückzutreten, und mich nur mehr darauf zu konzentrieren, meine Aufgabe als Präsident bis zum Ende meiner Amtszeit zu erfüllen.“
Etwas mehr als drei Wochen hat es gedauert, bis US-Präsident Biden das Richtige erkannt hat. Nach dem desaströsen TV-Duell mit Donald Trump ging es einfach nicht mehr, er musste den Weg freimachen. Auch wenn die Beweggründe für den Schritt offensichtlich schienen, schrieb Biden, er werde in der kommenden Woche der Nation seine Entscheidung ausführlicher erklären.
Karten neu gemischt
Ein paar Minuten später postete Biden dann auch seine Wunschnachfolgerin: Kamala Harris, seine Vizepräsidentin. Dass er sie ausgewählt hat, ist nicht verwunderlich, allerdings ist ihre Kandidatur damit nicht fix. Gerechnet wird unter Beobachtern damit, dass es einige Kandidaten gibt, die sie herausfordern könnten (siehe rechts) – eine Option, die ihnen laut Parteistatut durchaus zusteht.
Enge Mitarbeiter verrieten der New York Times, dass Biden seine Entscheidung kurz vor der Veröffentlichung mitgeteilt hat; zuvor hatte er sich das Wochenende über mit seiner Familie beraten.
Weniger als vier Monate vor den Präsidentschaftswahlen werden in Amerika die Karten bei den Demokraten völlig neu gemischt. Zum ersten Mal seit Generationen wird damit nicht im Vorwahlkampf darüber entschieden, wer bei US-Wahlen antritt, sondern direkt beim Parteitag am 19. und 20. August. Die 4,000 Delegierten dort sind nicht an die Empfehlung Bidens gebunden, auch wenn sie im Vorwahlkampf ihm und Harris ihre Stimme gegeben hatten – damit könnte der Partei ein offener Schlagabtausch bevorstehen.
Biden zog jedenfalls noch zum richtigen Zeitpunkt die Reißleine. Alle Versuche, den beim Kreisklassen-Auftritt im TV-Duell mit Donald Trump entstandenen Schaden zu reparieren, hatten letzten Endes fehlgeschlagen. Bidens Altersverschleiß in mentaler Stärke und rhetorischer Überzeugungskraft war einfach zu massiv. Weitere vier Jahre in einem der schwierigsten Jobs der Welt hätte er wohl nicht mehr durchgehalten.
Selbst auf seiner Wiedergutmachungstour stolperte Joe Biden zu oft beim Schildern simpler Zusammenhänge, er versprach und verhedderte sich. Mit jedem Auftritt hätte sich der Mann mit der strahlenden Leistungsbilanz, nach der sich Amerika wohl noch einmal zurücksehnen wird, weiter zum Gespött gemacht – und sein in 50 Jahren aufgebautes Vermächtnis geschreddert.
Angst vor Durchregieren
Mit dem Verzicht auf die Kandidatur in letzter Minute verhindert Biden auch ein innerparteiliches Blutbad. Viele Abgeordnete drohten von dem Biden-Effekt heruntergezogen zu werden. Verlören sie am 5. November an breiter Front an die Opposition, könnte Trump im Falle eines Siegs mit beiden Kammern des Kongresse ungebremst durchregieren.
Im Parlament gewannen bei den Demokraten zuletzt jene die Oberhand, die beim Präsidenten 81 Jahre alten Altersstarrsinn und Narzissmus feststellten, wo sie Einsichtsfähigkeit und Größe erhofft hatten. Zwei Drittel der demokratischen Wähler waren in den vergangen Tagen bereits dafür gewesen, dass Biden seine Kandidatur zurückzieht – warum seine engsten Berater ihn lange in dem Glauben hielten, das Blatt werde sich noch drehen, bleibt schleierhaft.
Potenzielle Nachfolger dürften von dem Schritt aber nicht überrascht worden sein, vermutlich wurden einige vorab informiert. Die meisten gratulierten Biden auf Social Media zu dem Schritt – Gavin Newsom, der kalifornische Gouverneur, schrieb, Biden werde „als einer der wirkungsvollsten und selbstlosesten Präsidenten in die Geschichte eingehen“. Auch Pete Buttigieg sagte, Biden habe sich „seinen Platz unter den besten und folgenreichsten Präsidenten der amerikanischen Geschichte verdient“. Einzig Kamala Harris meldete sich nicht umgehend zu Wort – zumindest bis zu Redaktionsschluss dieser Ausgabe.
Frisches Gesicht gesucht
Beim Trump-Lager dürfte man die Wendung bei den Demokraten mit einiger Besorgnis aufnehmen, denn ein neuer Kandidat – oder eine Kandidatin – steht auf jeden Fall für Aufbruch. Und vor nichts hat das – nach dem Attentat und dem Parteitag in Milwaukee wie ein öliger Bodybuilder beim Posing aufgepumpte – Trump-Lager derzeit mehr Angst.
Eine jüngere Demokratin wie Kamala Harris oder Gretchen Whitmer, die Schwarze und vor allem Frauen ansprechen würde, oder ein junger Demokrat wie Gavin Newsom, Josh Shapiro oder Wes Moore könnten rund 35 Prozent parteiungebundene Wechselwähler ansprechen – Wähler, die mit Republikanern wie Demokraten seit Langem gebrochen hatten. Das ist eine reale Gefahr für den – wie Biden – landesweit betrachtet äußerst unbeliebten Donald Trump.
Neuland für die Demokraten
Eine jüngere Demokratin wie Kamala Harris oder Gretchen Whitmer, ein junger Demokrat wie Gavin Newsom, Josh Shapiro oder Wes Moore können rund 35 Prozent parteiungebundene Wechselwähler ansprechen, die mit Republikanern wie Demokraten seit Langem gebrochen haben.
Das ist eine reale Gefahr für den – wie Biden – landesweit betrachtet äußerst unbeliebten Trump. Trotz des neuen Möchtegern-Arbeiterführers J.D. Vance an seiner Seite.
Amerikas Demokraten betreten Neuland. So kurz vor einer Wahl wurden selten die Pferde gewechselt. Wenn die nächsten Wochen mit Anstand zu einer breit getragenen Lösung führen, egal, wie sie heißt, kann das heikle Unternehmen klappen. Einen verurteilten Straftäter vom Weißen Haus abzuhalten, der die amerikanische Demokratie pervertieren will, dieser Versuch ist aller Ehren wert.