Steffy sitzt beim Esstisch zurückgelehnt, die Füße auf einem Stuhl. Die 83-Jährige spricht langsam, mit ruhiger Stimme, ganz konzentriert auf die Details ihrer Kindheit, die sie mir gleich erzählen wird. „Ich war vier Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging. Aber die Erinnerungen sind so klar, als wäre es gestern gewesen.“ Dann fügt sie schulterzuckend hinzu: „Und trotzdem – es war eine schöne Kindheit.“
Eine Aussage, die aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar ist, wie das kommende Gespräch zeigen wird.
Ein Vater, der nicht zurückkam
Steffys Vater Wilhelm wurde schon vor Steffys Geburt 1941 als Wehrmachtssoldat in den Krieg eingezogen. „Ich habe ihn nie kennengelernt. Er war in der Schlacht bei Stalingrad und wurde dann lange vermisst.“
Die Familie wartet, hofft. Doch es gibt keine Nachricht, kein Lebenszeichen. Irgendwann muss Steffys Mutter eine schwere Entscheidung treffen. „Sie hat ihn für tot erklären lassen, nicht, weil sie es gewollt hat. Es hat sein müssen.“ Denn damals lag das Sorgerecht nicht automatisch bei der Mutter, sondern beim Vater. Und in diesem Fall dann beim Jugendamt. „Solange mein Vater offiziell vermisst war, hat er als lebend gegolten, sodass meine Mutter kein Sorgerecht für mich gehabt hat.“ Erst nach dem Krieg erfuhren Steffy und ihre Mutter, dass Wilhelm Franke am Weg nach Stalingrad im Winter 1942/43 wegen eines erfrorenen Beines zurückgelassen wurde.
Es war eine harte Zeit für Steffys Mutter: Vor dem Krieg hat sie eine Handelsakademie besucht. „Die Schule war sehr teuer und der Schulplatz meiner Mutter ist von einem großzügigen jüdischen Ehepaar finanziert worden, bei dem meine Großmutter Putzfrau war“, erinnert sich Steffy an die Erzählungen ihrer Mutter. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1938 ändert sich die Situation schlagartig. Das jüdische Paar muss flüchten. Die erst 22-Jährige bleibt ohne finanzielle Unterstützung zurück und bricht ihre Ausbildung ab. Bald darauf wird sie von den Nazis zum Arbeitsdienst nach Ingolstadt in Deutschland verschickt, wo sie Bauern helfen muss. 1940 lernt Steffys Mutter Wilhelm Franke kennen, 1941 heiraten sie in einer Ferntrauung, denn Wilhelm ist schon an der Front.
Während Wilhelm im Krieg kämpft, will Steffys Mutter keine Hilfe von der Familie ihres Mannes annehmen. „Dort sind die Nazis ein und aus gegangen, Essen wurde unter dem Bett gebunkert, während alle anderen Menschen hungern mussten. An Teilen haben sie nicht einmal gedacht Meine Mutter hat lieber gehungert, als etwas von ihnen anzunehmen.“ Als ihre Schwiegermutter später einmal sagte, ihr Sohn Wilhelm sei den Heldentod gestorben, war es für Steffys Mutter zu viel. Die Trennung zu diesem Teil der Familie war endgültig: Bis heute gibt es keinen Kontakt zu Wilhelms Schwester Hella, die einen wohlhabenden Transportunternehmer heiratete, oder zu deren beiden Töchtern.
Die Nacht mit den Mäusen
Ein prägendes Erlebnis für Steffy war, als sie mit ihrer Mutter ein paar Tage aufs Land in den Böhmerwald geschickt wurde, um sich zu „erholen“. Wann genau das war, weiß Steffy heute nicht mehr. Und auch nicht, wieso das überhaupt möglich war, obwohl ihre Mutter als Nazi-Gegnerin normalerweise Hilfe durch das Regime rigoros ablehnte. Sie vermutet, dass es mit der schlechten finanziellen Lage zu tun hatte und ihre Mutter diese Chance nutzte, um Steffy aufpäppeln zulassen. „Ich war sehr, sehr dünn. Sie hat wahrscheinlich Angst um mich gehabt und gedacht, die frische Luft und ausreichend Essen werden mir helfen.“
Sie sollten in einem Haus untergebracht werden, nur war dort kein Platz. „Wir haben in der Waschküche schlafen müssen. Und dann sind die Mäuse gekommen. Sie sind die ganze Nacht auf mir herumgeklettert. Aber mir hat das nichts ausgemacht. Und meiner Mutter auch nicht.“
Ich kann mich nicht erinnern, jemals satt gewesen zu sein.
Steffy
Essen war ein ständiges Problem. „Ich kann mich nicht erinnern, jemals satt gewesen zu sein.“ Steffys Mutter versucht alles, um Essen aufzutreiben. Sie fährt aufs Land, tauscht Wertgegenstände gegen Nahrungsmittel. „Die Bedingungen für die Hamsterkäufe waren oft ungerecht. Ein goldener Ring für einen Laib Brot – aber wenn du Hunger hast, diskutierst du nicht. Die Bauern haben uns das Weiße aus den Augen genommen, die haben unsere Not ausgenützt.“ Nicht alles, was sie bekommt, ist aus heutiger Sicht genießbar: „Sie hat Bohnen mitgebracht. Wir haben sie gekocht. Da sind die Würmer herausgekommen.“ Sie essen die Bohnen trotzdem. Manchmal gibt es zwei Wochen lang nur trockenes Brot.
Zuweilen ist es nicht nur die Qualität des Essens, die schwer zu ertragen ist. „Wir haben ein paar Hasen gehabt. Ich habe sie geliebt. Ich habe sie gefüttert und mit ihnen gesprochen. Einen habe ich ganz besonders liebgehabt. Und dann war er einfach weg.“ Zum Mittagessen gibt es dann aus heiteren Himmel Fleisch. „Ich habe gewusst, dass das mein Hase war. ‚Das ist mein Hasi!‘ habe ich gerufen. Meine Großmutter hat mit mir geschimpft, ich soll so etwas nicht sagen. Aber ich habe es gewusst.“ Steffy blickt aus dem Fenster. „Aber gegessen habe ich ihn nicht!“ Doch es gibt keine Zeit für Trauer. Der Krieg lässt keinen Raum für Sentimentalität, denn schon im nächsten Moment könnte man den Kuckuck hören.
Bombenalarm – Sicherheit trotz Gefahr
„Der Kuckucksruf war das Signal, dass wir in den Keller müssen. Sobald der Kuckuck ruft, ist es Zeit. Gasmaske und Rucksack sind immer bereitgestanden.“ Der Kuckucksruf im Radio oder Fliegeralarm im Allgemeinen, wie man ihn etwa in Filmen hört, lösen bei Steffy bis heute eine Gänsehaut aus.
Damals hingegen verspürte Steffy keine Angst. „Meine Mutter und meine Großmutter sind nie hysterisch gewesen oder in Panik verfallen. Sie haben nie Angst verbreitet. Dadurch habe ich mich sicher gefühlt, egal, was draußen passiert.“
Steffy wohnt mit ihrer Mutter im dritten Stock eines Mehrparteienhauses in der Columbusgasse 82 in Wien-Favoriten, ihre Großmutter mit ihrem gleichaltrigen Sohn – also Steffys Onkel – im ersten Stock. „Wenn der Alarm losgegangen ist, sind wir gemeinsam in den Keller gelaufen. Wir Kinder haben dort miteinander gespielt. Manche haben Puppen gehabt, andere nichts, aber wir haben alle unsere Gasmasken getragen, das war selbstverständlich. Ich erinnere mich, dass ich mich sicher gefühlt habe, weil meine Mutter ruhig geblieben ist und weil auch sonst niemand geschrien hat.“ Die Kinder spielen mit Murmeln und klettern auf den herumliegenden Sandsäcken, während oben die Bomben fallen. „Man hat sich an alles gewöhnt, weil es eben so war. Wir haben es uns im Moment nicht anders vorstellen können.“
Der Krieg bringt nicht nur Hunger und Angst, sondern auch eine Stadt in Trümmern. Die Straßen sind zerstört, viele Gebäude stehen nur noch als Ruinen. Doch für die Kinder sind das auch Spielplätze: „Wir haben nichts gehabt. Also haben wir mit dem gespielt, was da war.“ Aus Ziegelsteinen werden Burgen und Brücken aus herumliegenden Balken.
Verbotenes Radiohören – Ein Blick auf die Wahrheit
Während die Kinder zwischen den Trümmern Abenteuer erleben, suchen die Erwachsenen nach der Wahrheit, nach Informationen, die überlebenswichtig sein können.
In der kleinen Wohnung, hinter geschlossenen Fenstern, hören Steffy, ihre Mutter, ihr Onkel und die Großmutter heimlich BBC. Das ist streng verboten und kann im schlimmsten Fall mit der Todesstrafe enden. Deshalb drehen sie das Radio ganz leise auf. „Meine Mutter hat halt wissen wollen, was wirklich passiert.“ Erst später erfährt sie, dass ihre Mutter und Großmutter riskierten, entdeckt, denunziert, verhaftet und verschleppt zu werden. „Ich habe nicht alles verstanden, ich war zu jung, ich habe nicht gewusst, wie gefährlich es war, nur, dass es gefährlich war.“
Sowjets in Favoriten
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erinnert sich Steffy, lag die Columbusgasse in der russischen Besatzungszone. Viele Gerüchte kursierten über die russischen Alliierten: Sie würden aus Toiletten trinken, weil sie nicht wussten, wofür diese eigentlich gedacht waren, sie würden Frauen und junge Mädchen vergewaltigen und sie würden so viele Uhren stehlen, dass sie gleich mehrere an den Armen trugen. Einige dieser Gerüchte sollten sich später als Wahrheit herausstellen. „In der Inzersdorferstraße und dann später in der Laxenburgerstraße war die russische Kommandantur. Man hat uns gesagt, wir sollen uns von diesen Gegenden fernhalten. Es wurde erzählt, dass Frauen in den Straßen vergewaltigt werden, dass es nicht sicher ist.“ Steffys Mutter achtet darauf, Begegnungen mit den Besatzern zu vermeiden.
Schokolade und Huhn
Allerdings spricht sie Englisch und kann daher eine Arbeit in einer amerikanischen Armeeküche annehmen, um die Familie durchzubringen. „Es war harte Arbeit, sie hat schwere Töpfe reinigen und Küchenhilfsarbeiten erledigen müssen.“ Doch es hat einen Vorteil: „Die Amerikaner haben gewusst, dass es zwei kleine Kinder in der Familie gibt. Sie hat sehr oft ein Huhn mitnehmen dürfen. Und ich habe sogar Schokolade bekommen.“ Für Steffy ist das eine der ersten süßen Erinnerungen nach den Jahren des Hungers. Aber Huhn will sie bis heute nicht einmal mehr riechen, sie hat sich damals sattgegessen.
Was bleibt?
Steffy hat ihr Leben lang im Einzelhandel und als Erzieherin gearbeitet. „Selbständigkeit und Bodenständigkeit – das ist geblieben.“ Doch manche Dinge holen sie noch immer ein. „Wenn eine Sirene losgeht, friere ich ein. Und ich kann es nicht ändern.“ Kriegsfilme sind tabu. Essen wegwerfen? Das geht gar nicht. Und in ihrer Rolle als Mutter? Einfach liebevoll unerschütterlich – wie es ihr ihre Mutter vorgelebt hat.
Sie schweigt eine Weile, bevor sie abschließend sagt: „Es war eine Kindheit im Krieg. Und trotzdem – es war eine schöne Kindheit.“
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Infos und Quellen
Genese
Redakteur:innen der WZ haben es sich zur Aufgabe gemacht, in der persönlichen Familienhistorie zu graben. Konkret handelt es sich um die Jahre der Nazi-Diktatur, des Zweiten Weltkriegs und der Besatzungszeit der Alliierten. Eine Zeit, über die lang nicht gesprochen wurde und über die in den meisten Familien nicht viel bekannt ist.
Dem ist nicht so in der Familie von WZ-Redakteurin Verena Franke. Seit ihrer Kindheit erzählt Mutter Steffy über deren eigene Jugend in der Kriegs- und Nachkriegszeit.
Gesprächspartnerin
Stefanie Franke (geb. Hawelka) wurde am 17. Oktober 1941 in Wien geboren. Ihr ausgeprägtes zeichnerisches Talent deutete früh auf eine kreative Laufbahn hin. Ein Besuch der Modeschule Hietzing war aus finanziellen Gründen nicht möglich, weshalb sie stattdessen eine Lehre als Modistin absolvierte. Dieser Beruf umfasste nicht nur das Anfertigen von Hüten, sondern auch Sonderanfertigungen wie Brautgestecke. Beruflich war sie in mehreren Bereichen tätig: Zunächst arbeitete sie als Einzelhandelskauffrau und Modistin, bevor sie als Erzieherin bei den Wiener Kinderfreunden tätig wurde. Später kehrte sie in den Einzelhandel zurück und spezialisierte sich auf Hüte und Accessoires. Privat war sie 60 Jahre verheiratet und ist Mutter von zwei Kindern sowie Großmutter von drei Enkelkindern.
Daten und Fakten
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Eine Sonderausstellung vom Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich in Kooperation mit dem Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung befasst sich mit der Kindheit und Jugend vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Zeitraum umfasst die letzten Monate der Schuschnigg-Diktatur, den „Anschluss“ 1938, den Kriegsbeginn 1939, das Kriegsende 1945 und die bis 1955 dauernde Besatzungszeit. Die Ausstellung „Kinder des Krieges – Aufwachsen zwischen 1938 und 1955“ startet am 26. April 2025 und läuft bis 17. Jänner 2027 Kulturbezirk 5 in 3100 St. Pölten.
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1939 eingeführt und 1949 bis 1953 schrittweise wieder abgeschafft, prägten Lebensmittelkarten mehr als ein Jahrzehnt lang das Alltagsleben und, in weiterer Folge, die Erinnerung der Menschen an die Kriegs- und Nachkriegszeit. Für bäuerliche Produzent:innen bedeutete die Lebensmittelbewirtschaftung eine Einschränkung: Sie mussten ab 1939 alle und, nach der Lockerung der Ablieferungspflicht 1947, einen Teil ihrer Überschüsse zu amtlich festgesetzten Preisen abliefern. Auch für Konsument:innen folgten daraus Einschnitte: Sie erhielten in den Geschäften lediglich die auf den Karten zugewiesenen Arten und Mengen von Nahrungsmitteln zu amtlich festgesetzten Preisen. Die zunächst ausreichenden Rationen wurden 1942 erheblich gesenkt und brachen bereits vor Kriegsende 1945 auf täglich unter 1.000 Kilokalorien pro Person ein. (Als Referenzwert auf Nahrungsmittelverpackungen wird heute auf einen Energieumsatz von durchschnittlich 2.000 Kalorien pro Tag verwiesen.)
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Hamstern: Eine Überlebensstrategie der Stadtbewohner:innen war es, in ländliche Gebiete zu fahren und dort zu „hamstern“. Mit dem Zug, dem Rad oder zu Fuß versuchten die „Städter:innen“ am Land über die kargen erlaubten Rationen hinaus direkt bei den bäuerlichen Betrieben einzukaufen. Dabei wurden oft Summen bezahlt, die weit über dem staatlich festgelegten Preis für Grundnahrungsmittel lagen. Das Phänomen des Hamsterns beflügelte den Schwarzmarkt. So verkauften Schleichhändler:innen die am Land gehamsterten Lebensmittel in den Städten um das Vielfache weiter. Mit der steigenden Inflation und der daraus resultierenden Geldentwertung tauschten die Bäuer:innen ihre Produkte bald nur noch gegen Sachwerte, wie Werkzeuge, Wertgegenstände und Luxusartikel. Der Begriff des „Hamsterns“ hat dabei durch den Mangel in der Regel nicht bedeutet, dass große Vorräte angelegt werden konnten. (Hdgoe.at)