Nach Lissabon und Porto ist zuletzt auch die Atlantikinsel Madeira zum Ziel für digitale Nomaden geworden. Davon sollen auch die Einheimischen profitieren.
Freitags Technoparty, samstags schnorcheln, sonntags wandern in den Bergen − und montags zurück an den Schreibtisch. Was wie das etwas gedrängte Ende eines Urlaubs klingt, ist für Hunderte digitale Nomad:innen auf Madeira Alltag. Die portugiesische Atlantikinsel hat sich zu einem Zentrum der ortsunabhängigen Arbeit entwickelt.
Das war keineswegs immer so. Das abgeschiedene Madeira ist 950 Kilometer vom europäischen Festland entfernt und vor allem als Oase für Naturfreund:innen und Erholungssuchende bekannt. Der Startschuss für die Transformation fiel während der Pandemie, als der für Madeira so wichtige Tourismus wegbrach.
Madeira hat sich mit Corona verändert
Die Insel musste sich damals etwas Neues einfallen lassen. Im Sommer 2020 überzeugte Gonzalo Hall, brasilianischer Remote-Work-Berater mit einem Faible für Madeira, die Lokalverwaltung von der Idee der „Nomadendörfer“ – ein Zusammenleben von Nomad:innen mit Einheimischen. Mit Arbeitsplätzen, Unterkünften und Gastronomie, in bestehenden alteingesessenen Ortskernen.
„Die Idee war aus der Not geboren, bewährt sich aber bis heute“, sagt Michaela Vieira von Startup Madeira, der Agentur zur Wirtschaftsförderung in der Inselhauptstadt Funchal. Sie und ihr Team suchten noch 2020 nach geeigneten Orten mit den nötigen Immobilien. Im beschaulichen Ponta do Sol an der Südküste wurden sie fündig und haben rasch alles eingerichtet: ein gemeinschaftliches Büro im Kulturzentrum, mehrere Ferienwohnungen und sogar ein Hotel, die während der Pandemie leer standen und nun umfunktioniert wurden. Alles fußläufig vom Ortskern erreichbar und nah am Meer.
Das Modell der Nomadendörfer wurde zum Erfolg. Das liegt auch an der guten Gemeinschaft, die sich herausgebildet hat. Auch wenn sich die Jobs der Nomad:innen stark unterscheiden – von PR über Kundenservice bis Programmieren etwa –, gibt es in dieser Community mehr Austausch als in den meisten Büros. Dafür sorgt auch das reiche Freizeitprogramm, das die Community selbst organisiert: Wanderungen in den Bergen, Yoga, Crossfit oder Surfen. Die Einladungen kommen über die Chatplattform Slack.
Mit der Sonne kommt das Know-How
Der Hamburger Andrej Raider, 39, war bereits digitaler Nomade auf den Kanaren, in Italien und in Wien. „Nirgends aber war der Zusammenhalt so groß wie hier“, sagt Raider, der seit zweieinhalb Jahren hauptsächlich auf Madeira lebt, zur WZ. Neben seinem Social-Media-Job für mehrere Kunden vor allem in den USA betreut er das Nomadendorf Ponta do Sol. Erst hier fand Raider heraus, dass er unter einer saisonalen Depression leidet – anders als im grauen Hamburg hilft ihm das angenehme Klima auf der subtropischen Insel enorm, über den Winter zu kommen. Und klar: Auch der soziale Austausch schadet dabei nicht. Als „alteingesessener“ Nomade hält Andrej vieles hier zusammen und das überwiegend in seiner Freizeit.
Das Konzept der Nomadendörfer ist in dieser Form ziemlich einzigartig. Élvio Camacho, Tourismusexperte an der Universität Madeira in Funchal, sieht viel Gutes: Durch die Ansiedlung digitaler Communitys soll auch Know-How auf die Insel kommen, wie er sagt: „In zehn Jahren profitieren davon auch die lokalen Studenten. Wir könnten uns als digitale Insel positionieren, ähnlich wie Taiwan in der Chipproduktion.“ Mittlerweile ziehen die sieben Nomadendörfer zusammen jährlich mehr als 1.000 nomadische Gäste an. Sie bleiben im Schnitt drei Monate lang.
Doch es gibt auch Probleme, für die die digitalen Nomad:innen verantwortlich gemacht werden: Die Mietpreise steigen stark. Vor zweieinhalb Jahren zahlte man für eine Zwei-Zimmer-Wohnung 500 Euro, heute kostet schon ein einzelnes Zimmer mehr als das. Es existiert keine Mietpreisregulierung.
Der Wohnraum ist naturgemäß begrenzt: Die Insel ist nur 741 Quadratkilometer groß, knapp zweimal die Fläche Wiens. Große Teile davon werden außerdem durch die bis zu 1.900 Meter hohen Berge oder Steilküsten beherrscht. Zusätzlich wächst die Einwohner:innenzahl. Junge Madeirer:innen tun sich zunehmend schwer, leistbaren Wohnraum zu finden.
Auch in der Natur zeigen sich die Folgen des Booms. „Einige populäre Wanderwege mache ich gar nicht mehr − zu überlaufen“, sagt Bergführer Pedro Trindade, der seit zehn Jahren Wandergruppen über die Insel führt. „Von offizieller Seite denkt niemand über Zugangskontrollen oder Umweltbildung nach.“ Mit 50 Flügen täglich stoße auch der Flughafen an seine Grenzen. Immerhin: Ab Anfang 2025 soll es eine Touristen-Gebühr von drei Euro an den beliebtesten Wanderwegen geben – eine Maßnahme, die Trindade unterstützt, damit sich die Besucher:innen besser verteilen.
Ein Beispiel für die neue Generation der Zugereisten ist der 39-jährige Belarusse Artem. Der Software-Entwickler arbeitete zunächst als Filmcutter in Moskau, brachte sich während der Pandemie das Programmieren bei. Nach seiner Scheidung und noch vor dem Ausbruch des Ukrainekriegs verließ er Russland. Nach Stationen in Georgien und Polen kam er vor kurzem in den beschaulichen Ort Machico an der Ostküste: „Die Insel bietet alles: Natur, Meer, Wandern und eine tolle Community.“
Artem erwägt sogar, eine Wohnung zu erwerben − solche ab 80 Quadratmeter gibt es bereits ab 90.000 Euro. Für Gutverdiener:innen ein Schnäppchen, für viele Einheimische aber kaum leistbar. Der Durchschnittslohn liegt in Portugal, dem ärmsten Land Westeuropas, bei nur 1.200 Euro brutto. Auch auf Madeira ist er nicht wesentlich höher.
Steuervorteile und Proteste
Die Nomad:innen kommen, weil sie in Portugal günstige Bedingungen vorfinden, insbesondere niedrige Steuern. Auch die Anmeldung ist vergleichsweise einfach. Jahrelang hat die portugiesische Regierung gezielt um Remote Worker geworben. Tausende überwiegend junge Menschen kamen, weswegen die Regierung manche liberalen Regelungen wieder verschärfte. Dafür sorgte auch Druck von der Straße: In großen Städten kam es zu Demonstrationen gegen die Zugereisten.
Nicht so in Madeira, wo digitale Nomad:innen weiter mit offenen Armen empfangen werden. Probleme gibt es auch hier, doch Tourismusexperte Camacho bleibt optimistisch: „Anders als Lissabon oder Porto haben wir die Nomaden gezielt in kleinere Orte gelenkt. Das hat sich bewährt.“ Die Strategie der Insel unterscheide sich vom Festland: „Wir wollen keine Großkonzerne ansiedeln wie Microsoft oder Google. Stattdessen setzen wir auf eine aktive Startup-Szene und Wissenstransfer.“ Als nächstes soll Madeira zu einem Zentrum für Blockchain-Technologie werden. Dieser Tage findet dazu eine große Konferenz in Funchal statt.
Dass sich viele der Nomad:innen ihrer Verantwortung durchaus bewusst sind, zeigen die regelmäßigen „Community Cleanups“, bei denen Parks und Wanderwege von Müll befreit werden. Die Zugereisten, so heißt es in den Beschreibungen glaubhaft, sind dankbar und wollen etwas zurückgeben. Damit Madeira so lebenswert bleibt, wie es ist.
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Infos und Quellen
Transparenzhinweis
Die Reise erfolgte im Rahmen des Programms „eurotours“ und wurde aus Mitteln von Bund und EU finanziert.
Gesprächspartner:innen
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Elvio Camacho, Tourismusexperte, Universität Madeira
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Micaela Vieira, StartUp Madeira
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Andrej Raider, Digitaler Nomade und Community Manager in Ponta do Sol
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Pedro Trindade, Wanderführer
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Gespräche mit vielen Nomad:innen und Einheimischen in Ponta do Sol und Machico
Daten und Fakten
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Portugal öffnete sich zunächst aktiv für digitale Nomad:innen, da das Land nach der Finanzkrise dringend ausländische Investitionen und qualifizierte Zuwanderer benötigte. Mit attraktiven Steuervorteilen und relativ niedrigen Einkommensanforderungen lockte das Land ab 2012 gezielt internationale Remote-Worker an.
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Der Erfolg dieser Strategie führte jedoch zu unerwarteten Problemen. Besonders in beliebten Städten wie Lissabon und Porto stiegen die Mietpreise so stark an, dass viele Einheimische sich das Wohnen in ihren angestammten Vierteln nicht mehr leisten konnten. Die lokale Bevölkerung protestierte zunehmend gegen diese Entwicklung. Gleichzeitig zog das günstige Programm auch viele digitale Nomad:innen mit relativ niedrigen Einkommen an, die weniger zur lokalen Wirtschaft beitrugen als erhofft.
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Als Reaktion darauf verschärfte Portugal Ende 2022 die Bedingungen deutlich, indem es die Mindesteinkommensanforderungen mehr als verdoppelte. Mit dieser Kurskorrektur versuchte die Regierung, einen besseren Ausgleich zwischen den Interessen der einheimischen Bevölkerung und dem Wunsch nach qualifizierter Zuwanderung zu finden.
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Seit Ende 2020 wurde auch Madeira zunehmend für Nomad:innen attraktiv. Noch sind die Zahlen überschaubar, doch auf einer so kleinen Insel – Madeira ist flächenmäßig knapp doppelt so groß wie Wien – gibt es bereits jetzt erste Auswirkungen dieser neuen Gruppe, etwa auf den Wohnungsmarkt.
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Die Nomadendörfer entstanden im Zug der Corona-Pandemie, als der Tourismus auf Madeira wegbrach. Seit November 2020 haben sich mehr als 20.000 Menschen als Digitale Nomad:innen auf der Insel registriert. Der Großteil (rund 7.500) sind zwischen 31 und 40 Jahre alt, dicht gefolgt (7.300) von jenen zwischen 21 und 30. Doch gibt es auch mehr als 300 Nomad:innen über 60 Jahre und sogar 13, die über 80 Jahre alt.
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Die meisten stammen aus den USA, gefolgt von Großbritannien, Deutschland, Brasilien, Portugal und Polen. Die lokalen wirtschaftlichen Auswirkungen werden auf 1,5 Millionen Euro pro Monat geschätzt, heißt es von StartUp Madeira. Durchschnittlich gibt ein digitaler Nomade demnach 1.800 Euro pro Monat auf Madeira aus. Zu den häufigsten Berufen zählen Programmierer:innen, Kundenservice, PR, Grafik- und Webdesign.