Die Erinnerungen an meinen Großvater sind spärlich. Im Gedächtnis geblieben ist mir ein alter Mann in grauem Sakko und Anzughose, der in seinem Haus im Steyr mit lauter Stimme sehr viele Dinge „kolossal“ fand. Ich war ein Kind im Volksschulalter und weiß noch, dass die seltenen Besuche gemeinsam mit meiner Mutter eher unangenehm waren. Das deshalb, weil sie als linke, radikale Feministin zeitlebens ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihrem Vater hatte.
Deutlich habe ich bis heute vor Augen, dass auf dem Schreibtisch meines Großvaters ein altes, gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto stand. Es zeigte ihn als Offizier der Wehrmacht nach dem Polenfeldzug 1939 auf einem Pkw stehend siegreich winkend in Steyr einrollend. Vielleicht wollte er sich damit im Alter selbst davon überzeugen, dass er den Zweiten Weltkrieg doch in gewisser Weise gewonnen hat – aber dieser Gedanke ist mir als Kind natürlich nicht gekommen.
Mein Großvater Hans Schmölzer war Rechtsanwalt und ein felsenfest von der Sache überzeugter Nationalsozialist. Er ist schon im Frühling 1932 der NSDAP beigetreten. Damals hat es in ganz Oberösterreich nicht einmal 700 derartige Parteimitglieder gegeben. Somit war er ein „Alter Kämpfer“, einer, der schon vor dem Verbot der NSDAP durch die Austrofaschisten im Sommer 1933 dabei war. Die Nazis der ersten Stunde hatten die prestigeträchtigen niedrigen Parteibuchnummern und genossen verschiedene Vorteile – etwa wenn es um soziale Vergünstigungen oder die Vergabe von Jobs ging.
Er hat nach seinem Tod 1989 ein umfangreiches Tagebuch hinterlassen, die Aufzeichnungen beginnen 1914 und enden 1984. Ein zeitgeschichtliches Zeugnis, das mich schon als Teenager interessiert hat. Das Tagebuch umfasst mehrere Bände, die Eintragungen sind durchgehend zahlreich und detailliert. Doch beginnend mit dem Jahr 1926, dem Jahr, als die NSDAP in Österreich als Schwesterpartei der deutschen NSDAP gegründet wurde, tut sich eine nur notdürftig kaschierte Lücke auf, die erst mit Kriegsbeginn 1939 geschlossen wird. Das war ein Zeitpunkt, als mein Großvater vom NS-Regime schon enttäuscht und vieler Illusionen beraubt war.
Angst vor Razzien
Die Lücke betrifft zwölf politisch heikle Jahre. Sie umfasst die Zeit, in der mein Großvater mit dem Nationalsozialismus in Berührung gekommen sein muss, zu einem glühenden NS-Aktivisten in Österreich wurde. Er muss in der Zeit der Illegalität, also den Jahren 1933 bis 1938, befürchtet haben, dass seine Aufzeichnungen von der Polizei gefunden werden, die ihm dann einen Strick daraus drehen würden. Immerhin hat der christlichsoziale Engelbert Dollfuß 1933 in Österreich die Demokratie demontiert und auch die NSDAP verboten.
Polizei-Razzien und Hausdurchsuchungen bei mutmaßlichen Nazis waren damals an der Tagesordnung und so hat mein Großvater wahrscheinlich aus Vorsicht nichts notiert, was seine NS-Verbindungen bewiesen hätte.
So fallen aber die Schilderungen weg, die den fatalen Lebensirrtum meines Großvaters möglicherweise detailliert beschrieben hätten. Und es fallen gleichzeitig die Passagen weg, die ihn als Täter gezeigt hätten. Überdeutlich tritt in dem Tagebuch jener Hans Schmölzer zutage, der die NS-Vorgangsweise im Zweiten Weltkrieg kritisiert, verurteilt und teilweise in eine depressive Stimmung verfällt. Im Nachhinein ist es schwierig, diese Lücke zu füllen. In Ansätzen ist es über Akten, Archiv-Material und historische Literatur gelungen.
Vom Juliputsch überrascht
In dem Tagebuch, das die Sekretärin meines Großvaters Ende der 1970er-Jahre abgetippt hat, findet sich immerhin ein Eintrag zum 25. Juli 1934, dem Tag des nationalsozialistischen Putschversuchs in Wien und der Ermordung von Engelbert Dollfuß im Kanzleramt. Mein Großvater ist an diesem Tag mitten in der Urlaubssaison mit seinem Auto in Linz und wird von den Ereignissen sichtlich überrascht. Das ist durchaus glaubhaft, immerhin verlief der Putschversuch chaotisch. Konkurrenzkämpfe, Intrigen und Eifersüchteleien innerhalb der österreichischen NSDAP verhinderten eine einheitliche Planung. Selbst führende Parteifunktionäre waren von dem Umsturz nicht unterrichtet und hielten die Radiomeldung am 25. Juli zu Mittag, wonach die Regierung Dollfuß zurückgetreten wäre und Anton Rintelen das Ruder übernommen hätte, für einen schlechten Scherz.
Hans Schmölzer erfährt in Linz vom Obmann des Bundes der Reichsdeutschen, einem Generaldirektor Heinrich Schlosser, von der Ermordung des Kanzlers Engelbert Dollfuß durch Nazis. Er fährt in seinem Auto zurück nach Steyr, dort gerät er in Zentrumsnähe in eine Straßensperre. Weil er als einer der Anführer der Steyrer NSDAP amtsbekannt ist, wird er von Polizei und Heimwehr verhaftet und auf eine Polizeistation geführt. Eine Führerfigur war er deshalb, weil er als Anwalt „hunderte Nazis“ vor Gericht verteidigt hat, wie er schreibt. Weil er im Verhör – so vermute ich – die Namen von an dem Putschversuch Beteiligten nicht nennt, wird er von Angehörigen der Heimwehr mit dem Gewehrkolben bewusstlos geschlagen. Verhört wird zu dieser Zeit auch ein anderer Steyrer Nationalsozialist: August Eigruber, der später Gauleiter von Oberdonau und 1947 unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingerichtet wird.
Polizei und Heimwehr waren am 25. Juli jedenfalls alarmiert und aggressiv, weil es die Putschisten ihrerseits in erster Linie auf die austrofaschistischen Ordnungshüter abgesehen hatten. Zahllose Polizeistationen wurden gestürmt, unter den rund 260 Toten des Putschversuches sind zahlreiche Exekutivkräfte.
Hans Schmölzer kommt in Haft, entgeht knapp einer Einweisung in das Straflager Wöllersdorf, kommt ein paar Tage unter Hausarrest und wird dann drei Wochen der Stadt Steyr verwiesen. Diese Zeit nutzt er, um mit seiner jungen Frau – meiner Großmutter – Urlaub zu machen und seine Blessuren zu pflegen.
Nazi-Herrschaft als „Paradies auf Erden“
In einem Eintrag vom März 1938 beschreibt sich Hans Schmölzer als „begeisterter Kämpfer“ in der Zeit der Illegalität, einer, der „viel gelitten“ habe und mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus ein „Paradies auf Erden“ schaffen wollte. In der Tat arbeiteten Österreichs Nationalsozialisten ab der Parteigründung 1926 an ihrer Machtergreifung. Zunächst wurde versucht, möglichst viele Mitglieder und Sympathisant:innen in beharrlicher Kleinarbeit anzuwerben, es gab Diskussionsveranstaltungen in Gasthäusern und Umzüge.
Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers in Deutschland im Jänner 1933 sahen Österreichs Nazis ihre Stunde gekommen. Durch die Ausschaltung der Demokratie durch Dollfuß war der deutsche Weg, nämlich Machtergreifung durch Wahlen, verschlossen. Die österreichischen Nazis versuchten, den klerikal-faschistischen Staat „sturmreif“ zu schießen, zu unterwandern und zu sabotieren, wo es nur ging.
NS-Tarnorganisation Turnerbund
Eine wichtige Tarnorganisation der nunmehr illegalen Nazis war der Turnerbund – die wichtigste, aggressivste und mitgliederstärkste NS-Bastion in Österreich. Es ist kein Zufall, dass die Putschisten vom 25. Juli in einem Lokal des Turnerbundes in der Wiener Siebensterngasse zusammenkamen, bevor sie sich auf den Weg zum Kanzleramt machten.
Aktives Mitglied beim Deutschen Turnverein, Vorgänger des Turnerbundes, war ab Beginn der 1920er-Jahre in Steyr auch mein Großvater. Als völkisch orientierter Bergsteiger, der die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg, vor allem aber den Verlust Südtirols beklagte, fand er in dem antisemitischen, stark deutschnational geprägten Verein Gleichgesinnte. Es spricht alles dafür, dass er dort zum Nationalsozialisten geworden ist. Beim Turnverein wurde nicht nur Sport betrieben, es gab auch politische Vorträge und Diskussionsveranstaltungen. Für ihn war jedenfalls seit den 20er-Jahren klar, dass die Zukunft in einer Diktatur liegt und dass der Sinn allen Daseins in erster Linie im Kampf besteht.
Die Austrofaschisten haben 1933 zahlreiche Teilvereine des Turnerbundes wegen getarnter nationalsozialistischer Betätigung verbieten lassen. Das hat den immer noch in der Illegalität befindlichen Hans Schmölzer zu einem Schmähgedicht gegen die austrofaschistischen Machthaber veranlasst, das ich durch Zufall in einem Fotoalbum gefunden habe. Er macht sich zu einem Zeitpunkt, als das christlich-autoritäre System unter dem Druck Hitlerdeutschlands bereits arg in der Defensive war, über den Ständestaat lustig. Unter ein Foto, das meine zehn Monate alte Mutter mit Windel, den Kopf am Boden, zeigt, hat er Ende November 1937 den Vers notiert: „Wenn Schuschnigg sperrt den Turnverein üb‘ ich daheim den Kopfstand ein.“
Angriffe und Terror
Die österreichischen Nazis, darunter mein Großvater, waren 1937/38 auf verschiedenen Ebenen bestrebt, das autoritäre „System“ unter Kanzler Kurt Schuschnigg mit allen Mitteln zu demontieren. Es waren in erster Linie Jugendliche, die selbstgebastelte Bomben zündeten, Hakenkreuze auf Mauern schmierten und Propaganda-Flugblätter verteilten, illegale Zusammenkünfte organisierten und Schlägereien anzettelten. Böller wurden in dieser Zeit auch im Umland von Steyr gezündet. Bürgerliche Nazis, zu denen mein Großvater gehörte, versuchten, das System von innen auszuhöhlen und reif für die braune Machtübernahme zu machen. Die Behörden waren zunehmend erfolglos bemüht, diesen Aktivitäten Einhalt zu gebieten, die NS-Verbote umzusetzen und die Täter zu bestrafen. Meinem Großvater ging als Nazi-Anwalt die Arbeit nicht aus. Am 12. März schließlich wurde der Anschluss in Österreich mehrheitlich begeistert aufgenommen. Auch in Steyr gab es einen Fackelzug und „Sieg-Heil“-Gebrüll, viele waren in einer Art Rauschzustand. Aus der Justizstrafanstalt Garsten bei Steyr waren schon im Februar 30 Nationalsozialisten freigelassen worden, aus dem Gefangenenhaus des Kreisgerichts acht Nazis. Vor dem Kreisgericht Steyr wurden noch vor dem Anschluss 67 politische Verfahren eingestellt.
Hans Schmölzer, davon kann ausgegangen werden, war in Jubelstimmung. Das Hochgefühl hielt bei ihm allerdings nicht lang an, vielmehr folgte die „kalte Dusche“ auf dem Fuß, wie er in sein Tagebuch notiert. Er schreibt von der größten Enttäuschung seines Lebens, davon, dass durch den Umsturz nur „Mist“ nach oben gespült worden wäre. In der Tat waren die Tage nach dem Anschluss für viele österreichische Nationalsozialisten bitter. Die österreichischen NS-Strukturen wurden aufgelöst, Führungskader ausgetauscht, Nazis aus dem „Altreich“, also Deutschland, kamen in Österreich an die Schalthebel, während die Österreicher, die sich Hoffnungen gemacht hatten, leer ausgingen. Dazu kommt, dass die NSDAP in Österreich ein sehr uneinheitlicher Verband war. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass für Hans Schmölzer die völlig Falschen jetzt das Sagen hatten. So notiert er, dass er den von den neuen Machthabern installierten Bürgermeister von Steyr, Johann Ransmayer, für komplett inkompetent halte. Bei ihm wie auch etwa bei Eigruber, der später Gauleiter wurde, handelte es sich um Männer aus dem Arbeitermilieu. Das hat meinen Großvater, der sehr elitär, bildungsbeflissen und kulturell interessiert war, gestört.
Grauenhafte Konsequenzen
Allerdings bekam auch mein Großvater Ämter. Er wurde in Steyr Stadtrat, verantwortlich für „Gebäude, Liegenschaften und neue Geschäftserteilungen“. Während jüdische Rechtsanwälte ihre Kanzleien in Steyr schließen mussten, blieb er in Amt und Würden. Das alles bewahrte ihn aber nicht davor, im August 1939 als Leutnant zur Fliegerabwehr (Flak) eingezogen und ab September in den Krieg geschickt zu werden.
Er hat bald die Auswirkungen der nationalsozialistischen Herrschaft kritisch gesehen. Ab Winter 1941 ist er der Meinung, dass der Krieg eigentlich verloren ist. Er fürchtet angesichts der alliierten Bombenangriffe um sein Haus und das Leben seiner Familie, die Führung um Adolf Hitler agiert für ihn unverantwortlich, mit dem weiteren Verlauf des Kriegs nennt er sie verbrecherisch.
1944 wird er zur Flak nach Auschwitz versetzt, er ist für den Bereich „Auswertung“ zuständig – da ging es offenbar darum, herannahende Kampfbomber zu lokalisieren. Vor Bombenangriffen geschützt werden soll ein dem KZ benachbarter Industriebetrieb der IG Farben. Es handelt sich um ein Hydrierwerk, wo Kohle in synthetische Kraftstoffe umgewandelt wird. Ein wichtiger Betrieb, denn die Wehrmacht verfügt zu diesem Zeitpunkt kaum noch über Öl und Benzin, um ihre Panzer und Flieger zu betreiben. Er sieht die KZ-Häftlinge, die aus den Zügen getrieben werden, er sieht die rauchenden Schlote mit eigenen Augen und er weiß genau, was hier geschieht, wie er in sein Tagebuch notiert. Mein Großvater unterhält sich mit SS-Leuten, die ihm von den massenhaften Vergasungen erzählen. Er schimpft in seinem Tagebuch über eine „völlig verfehlte Ostpolitik“, die „nur auf Gewalt aufgebaut“ sei und ist erschüttert, entsetzt, „es ist unsagbar fürchterlich“, schreibt er.
Auf der anderen Seite notiert mein Großvater in völligem Widerspruch dazu, dass er jetzt mit einem Oberleutnant befreundet ist, der das KZ-Außenlager Jawischowitz leitet. Der sei der „beste Kamerad, den ich in diesem Kriege fand“, schreibt er. In dem KZ waren Häftlinge, die in einem nahen Bergwerk Kohle fördern und über Tag Bauarbeiten leisten mussten. Geschwächte Gefangene wurden in das Stammlager Auschwitz gebracht, allein dadurch wurden 1.800 Häftlinge ermordet.
Verdrängte Täterschaft
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nach seiner Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft will Hans Schmölzer seine Kanzlei in Steyr wieder aufsperren – was für belastete Nazis nicht möglich ist. Deshalb gibt er gegenüber den Behörden an, dass er erst ab 1938 NSDAP-Mitglied gewesen wäre. In einem Vermerk stellt er fest, dass er im Frühjahr 1934 die Mitgliedschaft beantragt, aber nie eine Antwort über eine positive Erledigung erhalten habe. Er wollte also zur NSDAP, die wollten ihn aber nicht. Seine Partei-Mitgliedsnummer, die den frühen Beitritt verraten hätte und die er in sein Tagebuch notiert hat, unterschlägt er. Zudem lässt er einen Kollegen schriftlich bezeugen, dass er sich 1938 für diesen eingesetzt habe, als aus politischen Gründen ein Ausschluss aus der Anwaltskammer im Raum stand.
Nach seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft wollte ihn seine Frau verlassen, sein Haus war von US-Amerikanern okkupiert und seine Zulassung zum Anwalt ließ Monate auf sich warten. Der zerstörerische Scheidungskonflikt zwischen meinem Großvater und meiner Großmutter zog sich über viele Jahre.
Schließlich gilt er als minderbelastet im Sinn des Verbotsgesetzes und wird zur Zahlung einer Sühneleistung von 5.700 Schilling verurteilt – damals ein relativ hoher Betrag. In den Jahrzehnten bis zu seinem Tod 1989 hält er, zum Entsetzen meiner Mutter, die sich an Künstler:innen wie Hermann Nitsch, Helmut Qualtinger und Elfriede Jelinek orientierte, die Kurt Waldheim zutiefst ablehnte, an vielen seiner alten NS-Grundüberzeugungen fest. Er hat Kontakt zu anderen Ewiggestrigen bei Kameradschaftstreffen, ist hier gut vernetzt und überweist ab dem Sommer 1956 monatlich 200 Schilling an die Witwe des hingerichteten Gauleiters von Kärnten, Friedrich Rainer, die acht Kinder hat.
Mein Großvater fügt sich damit nahtlos in die Reihe jener Österreicher:innen ein, die nach 1945 ihre Schuld weder vor sich selbst noch vor anderen eingestehen konnten. Erst durch die Waldheim-Affäre in den 1980er-Jahren wurde die These von Österreich als unschuldigem ersten Opfer Hitlers umgestoßen. Die Aufarbeitung individueller und kollektiver Verantwortung an den NS-Verbrechen hat seitdem Fahrt aufgenommen, ist aber noch lang nicht abgeschlossen.
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Infos und Quellen
Genese
Redakteur:innen der WZ haben es sich zur Aufgabe gemacht, in der persönlichen Familienhistorie zu graben. Konkret handelt es sich um die Jahre der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs. Eine Zeit, über die lang nicht gesprochen wurde und über die in den meisten Familien nicht viel bekannt ist. Es geht darum, eine Lücke, wie sie wohl in vielen österreichischen Familien besteht, anzusprechen und den Versuch zu unternehmen, sie ansatzweise zu schließen. Die große Herausforderung besteht darin, das Verhalten der eigenen Verwandten nicht im Nachhinein zu entschuldigen oder kleinzureden. Im verwandtschaftlichen Umfeld des Redakteurs Michael Schmölzer gibt es zwei sehr gegensätzliche Menschen. Den Großvater seiner Frau Zuzana, der in der Slowakei im Widerstand war und in zwei KZ verschleppt wurde. Schmölzer hat dessen Schicksal an anderer Stelle beschrieben. Die zweite Person ist ein Blutsverwandter, der Rechtsanwalt Hans Schmölzer (1897-1989), der in Oberösterreich gelebt hat und ein Nazi war.
Gesprächsparter:innen
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Meinem Onkel Helmut Schmölzer ist der Hinweis zu verdanken, dass sein Vater gegen Ende des Kriegs zum Hauptmann befördert wurde. Ab Oktober 1944 war er dann Adjutant – also Gehilfe bei einem höherrangigen Offizier. Mein Onkel hat mir außerdem dankenswerterweise das Foto, das meinen Großvater als Heimkehrer aus dem Polenfeldzug zeigt, zukommen lassen.
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Meine Mutter, Hilde Schmölzer, hat mich auf die Passage im Tagebuch meines Großvaters hingewiesen, wo er über seine Freundschaft zum Kommandanten des KZ-Nebenlagers Jawischowitz schreibt. Die konflikthafte Beziehung zu ihrem Vater schildert sie in dem autobiografischen Roman „Das Vaterhaus“, erschienen im Kitab-Verlag.
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Karl Ramsmaier, Vorsitzender des Mauthausen-Komitees Steyr, hat wichtige Hinweise geliefert.
Daten und Fakten
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Das Volksgericht, das 1945 zur Verfolgung von Nazi-Verbrechen gegründet wurde, hat 1948 ein Verfahren gegen meinen Großvater eingestellt. Es ging um die Strafanzeige im Namen des jüdischen und sozialdemokratischen Steyrer Rechtsanwalts Rudolf Schneeweiß, der ihm missbräuchliche Bereicherung, also Arisierung, vorwarf. Schneeweiß war nach dem Anschluss 1938 vertrieben worden und kehrte nach 1945 kurzzeitig nach Österreich zurück. Mein Großvater war 1938 von der NS-Rechtsanwaltskammer zum Stellvertreter von Schneeweiß bestellt worden.
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Hans Schmölzer gibt seine NSDAP-Mitgliedsnummer in seinem Tagebuch mit 900.749 an. Sein Beitritt zur Partei erfolgte demnach am 1. April 1932.
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Juliputsch 1934: Am 25. Juli überfielen SS-Männer, die als Soldaten des Bundesheers und als Polizisten verkleidet waren, das Bundeskanzleramt in Wien. Dollfuß wurde von zwei Schüssen getroffen und starb. In der Folge kam es zu mehrtägigen Kämpfen in Teilen Kärntens, der Steiermark, Oberösterreichs und Salzburgs. Planung und Ablauf waren chaotisch, sodass der Putsch scheiterte. Es gab mehr als 200 Tote.
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Austrofaschismus: Ab Anfang März 1933 schaltete Kanzler Engelbert Dollfuß schrittweise die Demokratie in Österreich aus. KPÖ und NSDAP wurden verboten, nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 auch die Sozialdemokratie. Es folgte der sogenannte Ständestaat, ein autoritäres System, das den deutschen Nationalsozialismus abwehren sollte. Das gelang nicht, am 12. März 1938 erfolgte der sogenannte Anschluss an Deutschland, der von einer Mehrheit der Österreicher:innen begeistert begrüßt wurde.
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Die Waldheim-Affäre: Hier handelt es sich um eine internationale Debatte um die vermutete Beteiligung des österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim an Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg. Sie dauerte von 1986 bis 1992. Waldheim hatte seine Tätigkeiten als Offizier der Wehrmacht von 1942 bis 1944 in biografischen Angaben ausgelassen und jede Kenntnis und Beteiligung an Kriegsverbrechen bestritten. Zentral war seine Aussage, damals „nur seine Pflicht getan“ zu haben. Waldheim blieb in seiner Amtszeit international weitgehend isoliert. Die USA erließen 1987 ein privates Einreiseverbot. In der Folge wurde die bis dahin gültige These von Österreich als erstem Opfer Hitlers umgestoßen und die Täterschaft zahlloser Österreicher:innen von der offiziellen Politik eingeräumt.
Quellen
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Kurt Bauer: Elementar-Ereignis. Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934
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Hans Schafranek: Sommerfest mit Preisschießen. Die unbekannte Geschichte des NS-Putsches im Juli 1934
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Tertschek, Johann: Nationalsozialismus in Steyr – August Eigruber (1907-1947), unveröffentlichtes Manuskript, Steyr 2019
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Wikipedia: Juliputsch 1934
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Magistrat Steyr, Meldeblatt zur Verzeichnung der Nationalsozialisten gemäß §4 des Verbotsgesetzes
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Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1938,1939
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Advokaten 1938, Manz-Verlag
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Tagebücher aus dem Nachlass des Dr. Hans Schmölzer
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Thomas Dostal: Das „braune Netzwerk“ in Linz. Die illegalen nationalsozialistischen Aktivitäten zwischen 1933 und 1938
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Brita Steinwendtner, Im Bernstein. Roman, 2012, Haymon. In dem Buch arbeitet die Cousine meiner Mutter die Verstrickungen ihrer Familie in den Nationalsozialismus auf.
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Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, Piper-Verlag 2023
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Maxim Biller: Deutscher wider Willen, in: Wer nichts glaubt, schreibt, Reclam