Peter schließt sich als junger Architekturstudent einer Künstlergruppe an, die bald sein ganzes Leben vereinnahmt. Erst nach 32 Jahren wagt er den Ausstieg.
Hinweis: In diesem Artikel geht es auch um Suizid und psychische Erkrankungen.
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„Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, das hat mich sehr getroffen“, erzählt Peter Reischer der WZ. Der heutige Pensionist erinnert sich an die Zeit als junger Architekturstudent. Seine Sehnsucht: eine heile soziale Welt. Und die meinte er in einer Gruppe von Student:innen gefunden zu haben, die sich um einen charismatischen Professor an der Uni geschart hatte. Kunstprojekte, Architekturausstellungen, Projekte im öffentlichen Raum – das alles faszinierte Peter. Der Mann, den er heute Guru nennt, vermittelte ihm, dass er sich für ihn interessierte und sich um ihn kümmerte. Aus einer Ateliergemeinschaft entstand schließlich eine intensive Gemeinschaft mit sektenähnlichem Charakter. Die Heilsbotschaft: Hier gibt es keine Probleme wie bei dir zuhause. Wir leben zusammen, finanzieren alles gemeinsam, wohnen zusammen und machen gemeinsam schöne Projekte. Eine heile Welt, wie Peter sie gesucht hatte. „Nicht sehen konnte oder wollte ich damals, dass das Ganze nur dem Zweck der Selbstverherrlichung und Selbstbereicherung des Gurus und seiner Frau gedient hat“, sagt Peter heute. „Denn wir mussten 18 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr arbeiten.“ Von seiner Familie und seinen Eltern entfremdet Peter sich immer mehr, bis zum kompletten Kontaktabbruch. „Der Guru hat das sehr geschickt verstanden, aus kleinen Schwierigkeiten große Dramen zu machen.“
Was ist eine Sekte?
Supernette Leute, extreme Hilfsbereitschaft, tolle Versprechungen – macht das aus einer Gruppe oder Gemeinschaft gleich eine Sekte? Nein, sagt Martin Felinger. Der Psychologe ist Geschäftsführer der Gesellschaft gegen Sekten- und Kultgefahren (GSK) und berät seit 25 Jahren Aussteiger:innen und Angehörige. Nicht nur beim Dating, auch bei Sekten gibt es das Phänomen des Love Bombings. Die Alarmglocken sollten also angehen, wenn etwas oder jemand übernatürlich positiv erscheint und dich mit Zuneigung überschüttet.
„Der Sektenbegriff ist nicht eindeutig definiert, es gibt aber gewissen Kriterien, die Gruppen ausmachen, die für die persönliche Entwicklung und für die psychische Gesundheit gefährlich werden können“, sagt Felinger zur WZ.
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Ein eindeutiges Schwarz-Weiß-Denken. Es gibt das absolut Richtige. Und alles, was nicht hineinfällt, ist automatisch komplett falsch. Etwas dazwischen, ein Graubereich, ist nicht vorgesehen. Darf ich eine andere Meinung haben? Wie weit geht man auf meine Argumente ein?
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Es gibt eine Heilslehre, also eine Lehre, nach der ein Idealziel erreicht wird, das immer funktioniert. Und wenn es nicht funktioniert, dann liegt der Fehler bei einem selbst. Nie an der Lehre, die ist nicht angreifbar. Was kann die Gruppe, die Methode tatsächlich bewirken? Liegt das weit über dem, was wir im wissenschaftlichen Bereich vermuten, wie etwa eine Heilung für alle Krankheiten?
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Es gibt ein Elitebewusstsein. Die Personen, die dazugehören, verstehen sich als besser und auserwählt. Sie haben Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen, die sie exklusiv machen.
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In vielen Gruppierungen gibt es eine zentrale Person, ein sogenannter Guru, dem oder der oftmals besondere Fähigkeiten zugeschrieben werden. Dass sie etwa mit einer anderen Welt kommunizieren kann oder dass sie Dinge weiß, die andere nicht wissen können.
Die Schmähs und Angebote
Die Sekten-Schmähs sind die Angebote, mit denen geworben wird. Felinger nennt es „einen Schlüssel, der in einem bestimmten Schloss sperrt“ und erklärt diesen Mechanismus mit dem Bedürfnismodell. In der Psychologie haben Menschen Bedürfnisse auf verschiedenen Ebenen, wie körperliche Gesundheit, die soziale Angebundenheit an Freunde und Familie, Geld oder den Sinn des Lebens. Solang diese Bedürfnisse subjektiv gesehen gut befriedigt sind, wird es kein großes Bedürfnis nach Veränderung geben. Wenn aber ein Bereich wenig oder gar nicht abgedeckt ist, entsteht ein Vakuum. Ich habe beispielsweise gesundheitliche Probleme und finde keine Hilfe oder mir fehlen Freund:innen. Wenn nun eine Gruppe ein Angebot hat, das genau zu diesem Bedürfnis passt, beginnt es, spannend zu werden. „Wenn der passende Schlüssel zu meinem Schloss bereitsteht, besteht die Gefahr, reinzukippen“, sagt Felinger. Deswegen kann es jeden treffen. Auch und gerade im Internet gibt es jede Menge Angebote an Lebensberatung, Selbstoptimierung, Meditationskurse. Diese werden zu Beginn gratis oder zu einem geringen Betrag angeboten, um möglichst attraktiv zu sein.
Wenn der Schlüssel zum Schloss passt, besteht die Gefahr, reinzukippen.
Psychologe Martin Felinger
Abgeschnitten von der Außenwelt
Irgendwann sind Peter und die Gruppe völlig von der Außenwelt abgeschnitten. „Wir haben keine Freunde gehabt, keine Beziehungen, keine Versicherung, keine Wohnung, nichts. Wir sind alle völlig abhängig gewesen von dieser Sekte“, sagt Peter. Die Gemeinschaft nimmt nach und nach alle Lebensbereiche ein. Je mehr Einschränkungen und Gebote es gibt, desto schlechter geht es dem jungen Mann. „Du sollst nicht handeln, nicht denken und nicht fühlen“, erzählt Peter. Spätestens beim Fühlen kommt es aber zu Problemen, es entsteht eine Abspaltung oder, wissenschaftlich, zu einer dissoziativen Trennung. „Wenn mir jemand sagt, ich darf das nicht fühlen, dass ich misshandelt oder gedemütigt werde, komme ich in einen psychischen Strudel hinein. Das funktioniert dann so, dass man einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit abspaltet, in irgendeine Schublade steckt und die Schublade zumacht. Und die Persönlichkeit, die von der Sekte gewünscht wird, stellt man in den Vordergrund.“
Das kann zu Krankheiten führen. Peter leidet unter ständigen Magenproblemen, Schlaflosigkeit, psychischen Belastungen und Ausfallserscheinungen. Ständig hat er Albträume mit Selbstmordgedanken.
„Ich habe langsam wieder angefangen zu fühlen“
Letztlich ist es ein Autounfall, der den Stein ins Rollen bringt. Peters Ausstieg aus der sektenähnlichen Gemeinschaft zieht sich über Jahre. Ein Schleudertrauma bringt ihn zu einer Physiotherapeutin, mit der er irgendwann auch über seine anderen Probleme redet. Die sagt ihm eines Tages: „Du bist doch in einer Sekte!“ Zunächst flippt Peter auf diese Bemerkung hin völlig aus. „Das verstehst du nicht, wir sind Künstler, das ist ein toller Verein!“, woraufhin die Therapeutin ihm rät, nach den Kennzeichen einer Sekte zu recherchieren. Peter setzt sich zuhause heimlich an den PC – und alle Kriterien treffen zu. Gegen Peters Kopfschmerzen und gegen seine psychischen Probleme empfiehlt sie ihm Craniosakraltherapie. Sie soll die Eigenschaft haben, emotionale Blockaden aufzulösen. „Ich war damals nicht mehr in der Lage, mich selbst fühlen zu können“, sagt Peter. Sein Selbstwertgefühl ist durch Demütigungen und Beleidigungen des Gurus am Boden. „Durch diese Therapie habe ich langsam wieder angefangen zu fühlen.“ Peter kann es sich wieder eingestehen, dass er in der Gemeinschaft schlecht behandelt wird und dass es nicht an ihm und seiner Minderwertigkeit liegt.
Bei seiner Suche nach Hilfe stößt Peter auf die GSK in Wien. Unter dem Vorwand, Zahnarzttermine wahrzunehmen, holt er sich dort Beratung, wie er sich etwa gegen manipulative Techniken wehren kann. Fast vier Jahre dauert es, bis er Klarheit hat, was mit ihm passiert ist und wie das System funktioniert. Dann packt er die wichtigsten Sachen, lässt Schlüssel, Kreditkarten und einen Abschiedsbrief zurück und fährt zu seinem Bruder nach Wien. „Ich habe alles dort zurückgelassen“, beschreibt Peter den schweren Schritt. „Ich habe mein Erbe dort eingebracht, eine Million Schilling, ich habe mein ganzes Geld verloren. Und ich habe auch meine Frau dort verloren. Die Wunden heilen nie.“
Peter muss mit Mitte 50 wieder komplett neu anfangen und leben lernen. Einen Job finden, mit Geld umgehen, eine Wohnung finden. Trotzdem ist er nicht verbittert. „Ich kann sagen, ich habe keinen Groll. Ich fühle mich nicht als Opfer. Ich war ja auch beteiligt. In dem Augenblick, wo man sich nicht mehr als Opfer fühlt, kann man damit umgehen.“ Er habe sehr bald begriffen, dass jede Schwäche, die er offen darlegt und zeigt, ihn stark macht, weil niemand ihn mehr angreifen kann. „Ich will, dass die Menschen über die Gefahren von solchen Rattenfängern und Heilsversprechungen erfahren. Sagen, wie das funktionieren kann, dass es jeden treffen kann und dass man sich nicht in Sicherheit wiegen soll.“
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Infos und Quellen
Gesprächspartner
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Peter Reischer studierte Architektur an der Technischen Universität Wien, dann Architektur an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Mit 22 Jahren schloss er sich einer sektenhaften Künstlergruppe an, die er 32 Jahre später verließ. Die Gruppe gibt es heute noch, auch wenn der Guru bereits verstorben ist. Peter will Namen nicht nennen, um keine Plattform für die Gruppe zu bieten.
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Martin Felinger ist klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe. Seit 1999 arbeitet er als Geschäftsführer der Gesellschaft gegen Sekten- und Kultgefahren (GSK), vor allem in der psychologischen Beratung und Behandlung von Aussteiger:innen aus destruktiven Kulten sowie in der Beratung von Angehörigen eines Mitglieds einer Sekte.
Daten und Fakten
Quellen
Tätigkeitsbericht der Bundesstelle für Sektenfragen 2022
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
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