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Mein Vater hat beide Weltkriege miterlebt

von Max

Mein Vater Franz Tempfer hat beide Weltkriege miterlebt – und kaum darüber gesprochen. Was er erzählt hat, waren unbeschwerte Alltagsgeschichten. Wollte er seine Familie nicht belasten? Das ist ihm nicht gelungen.

Mein Vater konnte nur einen einzigen Satz auf Französisch: „Où est le cochon?“ Wo ist das Schwein? Warum gerade diesen Satz und warum nur diesen einen, fragte ich ihn oft. Eine Antwort bekam ich nie. 1988, mein Vater war damals 86 Jahre alt und ich 16, ist er gestorben. Und mit ihm sind es die Antworten auf all meine Fragen, die ich hatte.

Hinter dem Satz stecke eine lustige Geschichte, erzählt mir meine Mutter, als ich sie beim Nachmittagskaffee frage. Sie ist 1938 geboren und 86 Jahre alt. Der Satz habe mit dem Zweiten Weltkrieg (1939 bis 1945) zu tun. Mein Vater war damals Verpflegungsoffizier bei der Luftwaffe und im Zuge dessen auch in Frankreich, das wusste ich schon. Das mit dem Schwein, das sei aber wirklich komisch gewesen, fährt meine Mutter lachend fort: Es sei vom Pritschenwagen meines Vaters gehüpft, der es zum Schlachter bringen hätte sollen, woraufhin er hinterherlief und sich von den französischen Bauern den einen essenziellen Satz übersetzen ließ, der ihm bei der Suche helfen sollte. „Où est le cochon?“ Wo ist das Schwein? Ob er das Schwein schließlich gefangen hat? Meine Mutter zuckt mit den Schultern und schüttelt den Kopf: Nein, das wisse sie leider auch nicht.

Doppeltes Essen und Fake-Dolmetsch

Es sind vor allem vermeintlich lustige Kurzgeschichten wie diese, die in meiner Familie vom Krieg erzählt werden. Erinnerungsfetzen an doppelte Essensrationen, weil mein Vater sich angeblich auch als Französisch-Dolmetsch ausgegeben haben soll, obwohl er bis auf besagten Satz kein Wort verstand und einfach irgendetwas übersetzte. Aufblitzende Bilder im Gedächtnis meiner Cousine, die meinen Vater in einem Militärauto vor sich sieht, als er die Familie aus Wien hinaus aufs Land bringen wollte. Fotos eines ernsten Soldaten in Uniform. Und immer die gleiche Antwort meiner Mutter auf die Frage, was ihr Mann im Krieg eigentlich genau gemacht hat: „Er hat vor allem Essenspakete vom Flugzeug abgeworfen. Selbst geflogen ist er aber nie.“

Viel mehr dürften meine Eltern, die jahrzehntelang verheiratet waren, nicht über den Krieg gesprochen haben. Und falls doch, haben sie einander offenbar nur harmlose Details und Anekdoten aus dieser Zeit erzählt.

Kollektive Schuldzuweisung

Worin wurzelt diese Kultur des Vergessens? Hatten die Menschen auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Angst, als Mitläufer:innen des nationalsozialistischen Regimes unter Adolf Hitler verurteilt zu werden? Als Täter:innen bestraft zu werden? „Ja, es gab eine kollektive Schuldzuweisung“, sagt dazu die deutsche Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Bettina Alberti, die bereits zwei Bücher zu diesem Thema geschrieben hat. „Sie war mit ein Grund, warum nicht über das selbst Erlebte, die Trauer und den Zorn gesprochen wurde. Denn wer schuldig ist, hat kein Recht zu klagen, war in den Köpfen verankert.“

Diese Schuldthematik habe sich jedoch weiterentwickelt. Indem man das, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist, die Judenverfolgung und den Holocaust anspricht und aufarbeitet, können sich nun auch die Menschen der Kriegsgeneration mehr öffnen, sagt Alberti. Sofern diese noch leben, können sie ihre eigenen Erfahrungen mehr und mehr benennen.

Wer schuldig ist, hat kein Recht zu klagen, war in den Köpfen verankert.

Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Bettina Alberti

Doppeltes Trauma und retraumatisiert

In jedem Fall sei es traumatisierend, einen Krieg oder – wie im Fall meines Vaters – sogar zwei Kriege miterlebt zu haben, ergänzt die Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin Dagmar Tutschek im Gespräch mit der WZ. „Während eines Kriegs fehlt die emotionale Leistung des Trosts, weil alle betroffen sind. Dadurch entsteht das Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins. Wenn das Erlebte nicht bewältigt werden kann, es keine Lösung für das Problem gibt, kann ein Trauma entstehen. Wer das durch beide Weltkriege zweimal durchlebt hat, wurde doppelt traumatisiert und durch den Zweiten Weltkrieg zudem retraumatisiert.“

Dass viele nicht oder nur sehr wenig über das Erlebte gesprochen haben oder sprechen, habe aber einen weiteren Grund: „Die Erziehung des Sprechens war damals eine ganz andere“, sagt Tutschek, „man hat nicht über Gefühle gesprochen. Das war so anerzogen.“

„Trauma ist vererbbar“

Die nachkommenden Generationen durch Nichterzählen vor den eigenen Traumata zu bewahren, funktioniere jedoch selten. Einerseits können auch durch den unerzählten Schrecken des Kriegs Bilder in deren Köpfen entstehen, die um nichts weniger bedrohlich als die Realität sind, sagt Tutschek. Andererseits sei ein Trauma vererbbar, meint sie – und zwar durch epigenetische Vorgänge.

Die Epigenetik gilt als das Bindeglied zwischen Genetik und Umwelteinflüssen wie Stress. Dabei geht es konkret darum, dass Letztere zwar nicht das Erbgut selbst verändern, allerdings mitbestimmen können, wann ein Gen und damit dessen Wirkung ein- oder ausgeschaltet wird. Das verändert das Verhalten. Da diese Verhaltensveränderung auch in den Keimzellen stattfindet, also in Eizellen und Spermien, zeigt der Nachwuchs eine ähnliche Reaktion. „Diese epigenetische Vererbung kann bei den Kindeskindern noch genauso stark wie bei den Kindern der Kriegsgeneration sein“, sagt Tutschek.

Eine erhöhte Ängstlichkeit sowie die Neigung zu Depressionen können die Folge sein. Ähnlich wie bei der Kriegsgeneration selbst müssen auch die Betroffenen der nachfolgenden Generationen Bewältigungsstrategien entwickeln. Erfolgreiche Strategien können etwa Wandern in der Natur oder Musizieren sein, sagt Tutschek, die Symptome selbst wie eine erhöhte Ängstlichkeit ließen sich im Zug einer Therapie behandeln.

Ich kann Essen nicht wegschmeißen

Ein anderes, offensichtlicheres Verhaltensmuster als Nachkomme der Kriegsgeneration wird mir bewusst: Ich kann Essen nicht wegschmeißen. Nicht einmal hartes Brot. Mindestens einmal pro Woche gibt es bei mir ein „Restlessen“ – ein Ausdruck meiner Mutter, die ebenfalls mindestens einmal pro Woche Reste verkocht. Das hat sie der Krieg gelehrt.

Ihre weiteren Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg zeichnen das Bild einer unbeschwerten Kindheit, wie es scheint: Spielen mit der Schwester im Hof. Freuen auf den Waschtag jeden Freitag, weil es da jedes Mal Palatschinken und Erdäpfelsuppe gab (das geht schnell neben dem Arbeiten in der Waschküche). Besuche beim einquartierten Russen, der zwar trank, aber dennoch immer freundlich zu ihr als Kind war.

Angst vor engen Räumen

Nur ein Geräusch, das hat auch meine Mutter gefürchtet: die Sirene des Bombenalarms. Denn dann musste die gesamte Familie in den Luftschutzkeller laufen. In einen Raum, in dem sie als kleines Kind eingezwängt zwischen all den anderen Menschen stand und deren Angst spürte, sie roch. Nicht wissend, ob ihr Haus nach dem Bombenangriff noch dastehen würde. Es stand jedes Mal noch da. Was geblieben ist, ist die Angst vor Menschenmassen und engen Räumen. Im Kino zum Beispiel setzt sich meine Mutter immer lieber an den Rand – um schnell wieder rauszukommen, sagt sie.

Und mein Vater? Mein Vater hätte eine solche Angst als Folge des Kriegs nie zugegeben. Vor uns nicht und vor sich selbst vermutlich auch nicht. An einen Satz erinnere ich mich allerdings noch sehr gut. Es war keine Frage nach einer Kriegserinnerung, die mein damals geschätzt sechsjähriges Ich ihm stellte. Es war die Frage: „Hattest du noch nie in deinem Leben Angst?“ „Doch“, antwortete mir mein Vater. „Einmal. Ich bin durch einen dunklen Wald gegangen, und bei jedem Baum habe ich mir gedacht, dass dahinter der Feind steht.“ Welcher Feind denn, dachte ich mir damals, und wunderte mich. Heute weiß ich, was mein Vater damit gemeint haben könnte.


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Infos und Quellen

Genese

Redakteur:innen der WZ haben es sich zur Aufgabe gemacht, in der persönlichen Familienhistorie zu graben. Konkret handelt es sich um die Jahre der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs. Eine Zeit, über die lang nicht gesprochen wurde und über die in den meisten Familien nicht viel bekannt ist. Es geht darum, eine Lücke, wie sie wohl in vielen österreichischen Familien besteht, anzusprechen und den Versuch zu unternehmen, sie ansatzweise zu schließen. Auch WZ-Redakteurin Petra Tempfer hat diese Lücke angesprochen und in ihrer Familienhistorie gegraben.

Gesprächsparter:innen

  • Mein Vater, Franz Josef Tempfer, hat beide Weltkriege miterlebt. Er wurde in Wien-Meidling geboren und hat von 1902 bis 1988 gelebt – als er gestorben ist, war ich 16 Jahre alt. Davor hatte ich ihn oft und immer wieder gebeten, etwas aus seiner Zeit im Zweiten Weltkrieg zu erzählen. Er hat es ungern und nur sehr selten getan. Antisemitisch geäußert hat er sich in meiner Gegenwart nie. Politisch hat mein Vater, so wie ich ihn erlebt habe, nach dem Krieg keiner einzigen Partei vertraut. Er war beruflich selbstständig und hat zuletzt ein kleines Hotel in Krems an der Donau in Niederösterreich geführt.

  • Meine Mutter, Liselotte Tempfer, hat zwar so gut wie gar nicht mit meinem Vater über den Zweiten Weltkrieg gesprochen – an ein paar seiner Geschichten konnte sie sich dann aber doch erinnern. Über ihre eigenen Erlebnisse erzählt sie gern: Meine Mutter wurde 1938 geboren und wuchs in einem Haus in Aspern in Wien-Donaustadt mit ihrer Schwester, Mutter, der Großmutter und Tante auf. Während der Kriegsjahre war es ein Frauenhaushalt, nach Kriegsende kehrte ihr Vater nachhause zurück.

  • Unterschiedliche Verwandte wie Cousinen und eine Groß-Tante versorgten mich ebenfalls mit einzelnen Erinnerungen an meinen Vater.

  • Bettina Alberti ist Diplom-Psychologin und psychologische Psychotherapeutin in Lübeck in Deutschland. 2005 erschien im Kösel-Verlag ihr Buch „Die Seele fühlt von Anfang an“, in dem eine Verbindung zwischen Pränataler Psychologie, Bindungsforschung und Traumatheorie geschaffen wird. 2010 erschien, ebenfalls im Kösel-Verlag, ihr zweites Buch „Seelische Trümmer. Geboren in den 50er und 60er Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas“.

  • Dagmar Tutschek ist Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin mit eigener Praxis in Wiener Neudorf in Niederösterreich und stellvertretende Leiterin der Fachsektion Traumapsychologie des Berufsverbands Österreichischer Psycholog:innen. Zu ihren Kompetenzbereichen zählen Belastungsreaktionen, Anpassungsstörungen und Trauma.

Daten und Fakten

  • Der Zweite Weltkrieg war der zweite global geführte Krieg sämtlicher Großmächte im 20. Jahrhundert. Der Krieg begann in Europa am 1. September 1939 mit dem Überfall Deutschlands auf Polen. In Ostasien befand sich das Kaiserreich Japan bereits seit Juli 1937 im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg mit der Republik China und ab Mitte 1938 in einem Grenzkrieg mit der Sowjetunion. Der japanische Angriff auf Pearl Harbor Anfang Dezember 1941 eröffnete den Pazifikkrieg. Die Kampfhandlungen in Europa endeten mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945; Japan kapitulierte am 2. September 1945 nach den beiden Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, womit der Zweite Weltkrieg endgültig endete (Wien Geschichte Wiki).

  • Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 wurden bis Kriegsende 1945 etwa 1,3 Millionen „Österreicher“ als Soldaten zur deutschen Wehrmacht eingezogen. Das waren rund 40 Prozent der damaligen männlichen Bevölkerung Österreichs, die in die Wehrmachtsteile Heer, Luftwaffe und Marine eingegliedert wurden (Haus der Geschichte Österreich).

  • Zu Beginn des Kriegs 1939 umfasste die 400.000 Mann starke Luftwaffe mehr als 4.000 Flugzeuge modernster Bauart. Der Bomber Heinkel He 111 verfügte wie der Stuka über eine maximale Bombenlast von 1.800 Kilogramm, gegenüber der Ju 87 lag seine Reichweite mit 1.200 Kilometern jedoch um das Doppelte höher. Der Jäger Me 109 und das Mehrzweckflugzeug Me 110 der Firma Messerschmitt sowie das von den Junker-Werken gebaute Transportflugzeug Ju 52 waren weitere Standardtypen der Luftwaffe, die 1939 in vier Luftflotten unterteilt für einen umfassenden Kriegseinsatz bestens gerüstet schien (Lebendiges Museum Online).

  • Vom Zeitpunkt der Befreiung Wiens im April 1945 bis zur Übernahme der Sektoren durch die anderen Besatzungsmächte am 1. September fiel die Verwaltung der Stadt Wien der sowjetischen Armee zu. In dieser Zeit waren primär die vor Ort befindlichen sowjetischen Soldaten mit Hilfs- und Unterstützungsleistungen sowie mit Wiederaufbauarbeiten betraut (Wien Geschichte Wiki).

  • Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 wurde Österreich von den Alliierten – der Sowjetunion, den USA, Großbritannien und Frankreich – bis 1955 besetzt. Währenddessen war das Land nach dem Zonenabkommen der Alliierten in vier Besatzungszonen geteilt, die Stadt Wien wurde in vier alliierte Sektoren und eine Interalliierte Zone gegliedert. Neben dem US-amerikanischen bestanden somit ein französischer, ein sowjetischer und ein britischer Sektor. Neben der Kontrolle und Verwaltung des eigenen Sektors war die US-amerikanische Besatzungsmacht weiters an der Kontrolle und Verwaltung der Interalliierten Zone beteiligt (Wien Geschichte Wiki).

  • Die Epigenetik erklärt den Einfluss von Umweltfaktoren auf die Zelleigenschaften und den Aktivitätszustand von Genen und beschreibt so mögliche Wirkmechanismen auf zellulärer Ebene (Umweltbundesamt).

Quellen

  • Das NS-Regime

  • Übersicht über die Dienstgrade der deutschen Wehrmacht, der Waffen-SS, der deutschen Polizei und der SA sowie der U.S. Army und der Royal Air Force und des österreichischen Bundesheeres zum Vergleich (Universität Innsbruck)

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