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Mit Abtreibungen ins Weiße Haus

von Max

Seit zwei Jahren haben Frauen in 22 US-Bundestaaten kaum oder keinen Zugang zu Abtreibungen. Das empört. Und hilft Kandidatin Kamala Harris. Das Tabuthema könnte sie am 5. November zur ersten Präsidentin der Vereinigten Staaten machen.

Joe Biden konnte das Wort „Abtreibung“ nicht einmal aussprechen. Als gläubiger Katholik wurde der amtierende US-Präsident nie warm mit dem Thema. Daher konnte er es auch nie politisch für seine Partei ausschlachten, als er noch im Rennen um eine zweite Amtszeit war. Seine Vizepräsidentin und demokratische Präsidentschaftskandidatin, Kamala Harris, schon – sie tut es auch. Mit Bravour. Kein Wahlkampfauftritt ohne den Hinweis, dass eine von drei Frauen in den USA keinen legalen Zugang zu Abtreibungen hat. Das empört in einem Land, in dem sich eine Mehrheit von 63 Prozent der Bevölkerung für eine Legalisierung ausspricht. Und es mobilisiert, insbesondere wenn der Verantwortliche für diesen Missstand niemand Geringeres ist als Harris‘ Konkurrent: Donald Trump. In seiner Amtszeit als Präsident hat er jene drei ultrakonservativen Richter:innen an den Supreme Court bestellt, die das Kräfteverhältnis im Obersten US-Gerichtshof zugunsten der Konservativen veränderten, und damit nach knapp 50 Jahren am 24. Juni 2022 das verfassungsrechtlich verankerte Recht jeder Frau in den USA auf Abtreibung kippten.

Wann ist es lebensbedrohlich genug?

Die Amerikanerinnen haben diesen Tag nicht vergessen. Als fünf von neun Richter:innen beschlossen haben, dass von nun an jeder Bundesstaat selbst entscheiden soll, ob und wann und wie Frauen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen können – oder nicht. In 22 von 50 Bundesstaaten ist es seither schwierig bis unmöglich, legal abzutreiben. Nicht nur die Frauen, sondern auch Helfende, die sie in Bundesstaaten transportieren, wo Abtreibungen noch erlaubt sind, sowie das medizinische Personal werden dabei kriminalisiert. In einigen Bundesstaaten wird die medizinische Hilfe so lang hinausgezögert, bis der Zustand der Patientinnen lebensbedrohlich ist, damit ein Eingreifen „legal“ gerechtfertigt werden kann. Doch wie lebensbedrohlich ist lebensbedrohlich genug? Wie nah müssen die Frauen am Tod vorbeischrammen, damit sich die Ärzt:innen ohne Angst vor strafrechtlicher Verfolgung erbarmen, einen lebensrettenden Eingriff einer Abtreibung vorzunehmen?

Der erste vermeidbare Todesfall

Im Fall von Amber Nicole Thurman kam die Hilfe sehenden Auges zu spät. Bei der 28-Jährigen war es im August 2022 nach der Einnahme einer Abtreibungspille zu Komplikationen gekommen. Die Ärzt:innen in ihrem Heimatbundesstaat Georgia haben 20 Stunden zugewartet, bis sich Thurmans Zustand verschlechterte, die Infektion sich ausbreitete, ihr Blutdruck sank und ihre Organe zu versagen begannen, bis sie endlich bereit waren, das nicht ausgestoßene Restgewebe aus der Gebärmutter auszuschaben. Thurman, alleinerziehende Mutter eines sechsjährigen Sohnes, starb an einer Sepsis. Ein vermeidbarer Tod, urteilte jüngst eine Untersuchungskommission, deren Ergebnisse nun der Rechercheplattform Propublica vorliegen. Es ist der erste offiziell vermeidbare Todesfall im Zusammenhang mit einer Abtreibung in den USA. Eine vermeidbare Tragödie, die Kamala Harris nur zu gut in den Wahlkampf passt.

Verblutende Frauen

Nicht umsonst stand die Demokratin wenige Tagen nach der Veröffentlichung der Propublica-Recherchen in der Stadt Atlanta, Georgia, und stellte klar, wer und wessen Partei für diesen „vermeidbaren“ Tod einer jungen Frau verantwortlich war. Und was dagegen am Wahltag unternommen werden kann. Anders als ihr Chef Joe Biden, scheut sich Harris nicht, das Wort Abtreibung in den Mund zu nehmen. Genauso wenig scheut sie sich davor, im Detail zu beschreiben, welche Tortur Frauen auf sich nehmen müssen, wenn ihnen diese Form der Gesundheitsversorgung verwehrt wird; wie 13-Jährige gezwungen werden, nach Vergewaltigungen Kinder auszutragen, die sie nicht wollen, und erwachsene Frauen in ihren Autos auf Parkplätzen verbluten, weil sie der Staat absichtlich im Stich lässt. Noch nie hat eine Politikerin auf diese Art und Weise über Abtreibung gesprochen, urteilt die Meinungsforscherin Tresa Undem in einem Interview mit dem Guardian. Das mobilisiert.

Übergriffiger Staat

Insbesondere auch deswegen, weil Kamala Harris ganz genau weiß, womit sie das Tabuthema Abtreibung für eine breite Masse verknüpfen muss, um Gehör und Zuspruch zu finden: ein übergriffiger Staat, der US-Bürger:innen ihrer Freiheitsrechte beraubt. Entlang des gesamten politischen Spektrums trifft sie damit einen Nerv, wenn sie bei Wahlkampfauftritten davon spricht, wie es die Regierung wagen kann, einer Frau vorzuschreiben, was sie mit ihrem Körper zu tun und zu lassen hat. Sogar Trumps Ehefrau Melania sieht das so. In ihrem Memoir „Melania“ und später auch in einem Videostatement auf X plädiert sie für die „individuelle Freiheit“ jeder Frau – und positioniert sich mit diesem klaren Ja zum Recht jeder Frau, eine Schwangerschaft abzubrechen, wenn sie das wünscht, gegen ihren Mann. Einige witzeln bereits, ob das Video als indirekte Unterstützungserklärung für Kamala Harris verstanden werden kann. So oder so: Das Thema kann der Demokratin zum Wahlsieg verhelfen, prognostizieren Kommentatorinnen. Ausgerechnet mit dem Tabuthema Abtreibung könnte Harris es schaffen, die gläserne Decke des Oval Office als erste Präsidentin der Vereinigten Staaten zu durchbrechen. Unrealistisch ist es nicht.

Die Macht der Frauen

Gerade für Frauen ist das Thema Abtreibung zentral in diesem US-Wahlkampf. Für Frauen unter 45 Jahren ist es laut New-York-Times-Umfrage sogar das Thema Nummer 1, noch vor der Wirtschaft. Schon in anderen Ländern haben Frauen progressiven Parteien mit dem Abtreibungsthema zum Wahlsieg verholfen. In Polen wurde die rechtsnationale PiS-Regierung, welche die ohnehin bereits restriktiven Abtreibungsgesetze in ihrer Amtszeit verschärft hatte, abgewählt – auch dank einer starken Mobilisierung der Frauen, die dem heutigen Premier Donald Tusk ihre Stimme gaben. Tusk hatte im Wahlkampf versprochen, Abtreibungen in Polen zu legalisieren. Im Amt ist er bescheidener geworden. Wollte die restriktive Gesetzgebung im Juli zumindest reformieren und Abtreibungen entkriminalisieren. Er ist an den eigenen konservativen Koalitionspartnern gescheitert. Tusks Regierung will nun zumindest Richtlinien für die Verfolgung der Beihilfe zur Abtreibung festschreiben, womit Ärzt:innen die Angst vor Strafen genommen werden soll.

Kann Madame President Wort halten?

Auch eine Präsidentin Harris kann nicht ohne Weiteres ein nationales Abtreibungsgesetz verabschieden, das den Zugang für alle Frauen zu einem Schwangerschaftsabbruch legalisieren würde. Dafür braucht sie die Zustimmung des Kongresses, der über eine knappe republikanische Mehrheit verfügt. Und selbst wenn das gelingen sollte, wäre noch der Supreme Court, der nach wie vor über sechs konservative Richter:innen verfügt, an deren Ethos Abtreibungsgegner:innen im Fall des Falles appellieren werden.


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Infos und Quellen

Daten und Fakten

  • Am 22. Jänner 1973 verkündete der Oberste Gerichtshof der USA ein folgenreiches Urteil. Im Fall „Roe vs. Wade“ räumte der Supreme Court Frauen das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche ein. 49 Jahre später, am 24. Juni, wurde das Urteil aufgehoben. In fast der Hälfte der 50 US-Bundesstaaten können Frauen seither nur mehr kaum oder sehr schwer abtreiben.

  • Donald Trump hat seinen Standpunkt bezüglich Abtreibungen immer wieder geändert. In den 1990er-Jahren war er noch „pro choice“. Das bedeutet, dass jede Frau selbst entscheiden soll. Ab 2011 sagte er, dass er „pro life“ sei, also gegen Abtreibungen. Mittlerweile rühmt er sich damit, dass er als Präsident das verfassungsrechtlich verankerte Recht auf Abtreibung „gekillt“ hat.

  • Die Mehrheit der US-Bevölkerung, rund 63 Prozent, findet laut Umfragen, dass Frauen das Recht auf Abtreibung haben sollten. Bei den Demokraten sehen das 85 Prozent so, bei den Republikanern sind es immerhin 41 Prozent.

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Abtreibung bleibt in Polen verboten

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