Als ich Thomas Hitzlsperger anlässlich seines „Coming-outs“ im Jänner 2014 Mut attestiert habe, wurde ich gefragt, inwiefern die Aktion des ehemaligen Profis denn überhaupt mutig gewesen sei. Das sieht Hitzlsperger wohl ähnlich. In seinem im März 2024 erschienenen Buch „Mutproben“ gibt er nämlich zu, dass er mit seinem öffentlichen Statement einst nicht viel riskiert hatte: In Deutschland habe ihn die Verfassung vor Diskriminierung geschützt; das Werturteil seiner Mitmenschen sei ihm nur bedingt wichtig gewesen. „Mutproben“ ist eine Art Biografie vervollständigt durch „Hitz“ Gedanken zur aktuellen Fußballwelt. Es ist kein schlechtes Buch; vielmehr das oberflächliche Psychogramm eines denkenden Menschen. Viel Innovatives enthält es aber nicht.
„Ich steh auf Männer.“
Thomas Hitzlsperger hat in seiner Karriere viel gesehen und viel erlebt: 1982 in München geboren zieht er noch als Nachwuchsspieler auf die Insel zu Aston Villa. Später lebt und spielt er in Stuttgart, London, Liverpool, Wolfsburg und Rom. Er trägt über 50-mal das Trikot des DFB-Teams, wird deutscher Meister, Pokalfinalist und WM-Dritter. Diese abwechslungsreiche Laufbahn gerät allerdings seit dem legendären Interview mit der Zeit in den Hintergrund; für die meisten Fußballkonsument:innen gilt Hitzlsperger seither nur mehr als „schwuler Ex-Profi“. Mit seinem „Coming-out“ wollte der gebürtige Münchner vor zehn Jahren eine Debatte anstoßen, jetzt zieht er in „Mutproben“ Bilanz. Was hat sich verändert? „Der Umgang mit Worten ist ein anderer geworden.“, schreibt Hitzlsperger, um später wiederholt zugeben zu müssen, dass der status quo der Fußballwelt Kompromisse notwendig macht.
Sein Outing lag zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon zweieinhalb Jahre in der Schublade, ursprüngliche wollte der Mittelfeldspieler noch als Aktiver mit seiner sexuellen Orientierung offen umgehen. Es dämmerte ihm, als er noch bei West Ham unter Vertrag stand und zur Reha am Tegernsee war: „Ich steh auf Männer.“ Dass er diese Erkenntnis eines fließenden Prozesses während seiner Zeit als Profi letztendlich trotzdem für sich behielt, will Hitzlsperger nicht (nur) auf die – oft gescholtenen – Fans schieben; „die Situation in der Kabine [ist] entscheidender. Es ist nun mal sehr intim in so einer Kabine, man duscht zusammen, man ist sich körperlich nah.“ Heimlich lebte er in seinem letzten Profijahr mit seinem ersten Freund aus San Francisco in Liverpool zusammen. Eindrücklich beschreibt er in „Mutproben“ wie ihn dieses Versteckspiel belastete: Thomas Körper blockierte schließlich, er beendete seine Karriere im September 2013 – ein halbes Jahr vor der Veröffentlichung des Zeit-Interviews.
Begonnen hat sein Leben in einem ähnlich konservativen Umfeld wie dem Männerfußball: Hitzlsperger wächst als jüngstes von sieben Kindern auf einem Bauernhof im idyllischen Forstinning in Bayern auf. Bevor er „Hitz – The Hammer“ wird, knallt er als „Hämmerchen“ den Putz vom Stall und perfektioniert seine Schusstechnik am Futtersilo. Bald chauffiert der Papa seinen hochbegabten Sohn dreimal die Woche zum Training der FCB-Knirpse, obwohl die Hitzlspergers allesamt Sechzger sind. In seiner Kinderwelt sei alles in Balance gewesen erinnert sich Thomas in „Mutproben“. Später – kurz vor seiner öffentlichen Beichte – lädt der Fußballpensionist seine Eltern zum Essen ein, um ihnen zu erzählen, was bald die ganze Welt wissen wird. Hitzlsperger senior ist nicht begeistert, er hat „ein paar Sätze losgelassen, die nicht so cool waren.“ Schließlich einigen sich die Eltern auf stummes Einverständnis.
In der Bayern-Jugend ist „Tom“ nicht der Beste, aber unter den Besten. Weil er trotzdem das Gefühl hat, dass er es nicht in die Kampfmannschaft des Rekordmeisters schaffen wird, trainiert er heimlich bei Aston Villa mit und wechselt im Sommer 2000 schließlich nach Birmingham. Eine Leihe zu Chesterfield ist seine Feuerprobe für die Premier League. „Es ging da schon wild zu, technisch eher anspruchslos. Aber ich hab’s geliebt.“, resümiert er seine fünf Jahre bei Villa. Er spielt meistens gegen den Abstieg und gewinnt nichts. Die Fans mögen ihn jedoch. Wegen seines scharfen Schusses kommt er zu seinem Spitznamen; von der Tribüne schallt es „Shooooot!“, egal, wo der „Hammer“ den Ball zugespielt bekommt. 2005 dann der Wechsel nach Stuttgart und der große Moment: Im Spiel gegen Energie Cottbus führt eine Direktabnahme Hitzlspergers mit Spann und Innenrist zum 2:1; das Tor zum Meistertitel. Der VfB bekommt die Schale und Thomas Champagner in die Augen. Er ist einer der Stuttgarter Helden; seine zweite Karriere bei den Schwaben wird in „Mutproben“ nur kurz angerissen: Selbstkritisch gibt der gebürtige Münchner zu, mit dem jetzigen Aufschwung des VfB nichts zu tun zu haben.
Kaepernick, Ali oder Smith
Neben einer (fast) chronologischen Erzählung seiner Laufbahn ist der rote Faden des Buches die sozialpolitische Seite des Profifußballs: Als Spieler bemerkt Hitzlsperger erstmals bei seinem Wechsel zu Lazio Rom, dass es im Fußball nicht immer nur um Sport gehen kann. Damals redet er sich seinen Transfer zu den umstrittenen Biancocelesti wegen der sportlichen Perspektive noch schön; heute weiß er: „Ich war damals noch nicht so weit, dass ich hätte sagen können: Wenn ich gegen Antisemitismus und Rassismus bin, kann ich nicht für Lazio spielen.“ Tatsächlich passt er nicht zu Romas Stadtrivalen; er ist kein „aggressive leader“ und fristet ein einsames Leben im Hotel. Während er sich mit Intervallläufen fitzuhalten versucht, kreisen seine Gedanken immer mehr um seine Sexualität: „Ich ertrug keine Gesellschaft mehr“. Das Intermezzo in Rom läutet den Abgesang von Hitzlspergers Karriere ein: Er bekommt unkontrollierbare Schwitzanfälle, wird nicht mehr ins Nationalteam einberufen. Wenig erfolgreich spielt er noch für West Ham, Wolfsburg und Everton; sein Körper streikt oft.
In „Mutproben“ rechnet Hitzlsperger mit dem Profifußball zwar nicht ab, bezeichnet ihn aber als extreme Variante der Leistungsgesellschaft. Er erzählt von seiner Angst auf dem Platz einen Fehler zu machen. Hass, der früher nur von den Tribünen kam, sei heute via Blaulichtbildschirm überall verfügbar und setze die Kicker noch mehr unter Druck. Dabei sei Mitgefühl für die Akteure flüchtig: „Wenn der Ball rollt, gilt Nachsicht nichts mehr.“ Hitzlsperger rät sich von Social Media fernzuhalten, er kritisiert den Fokus auf Profit und nennt das „Mund-zu-Gruppenfoto“ der deutschen Nationalmannschaft bei der WM-Endrunde in Katar „ein kommunikatives Desaster“. „Hitz“ weiß sich gut einzuschätzen und bleibt mit seinen Vorstellungen von Zivilcourage im Rahmen: Sportler wie US-Quarterback Kaepernick, Boxlegende Ali oder der afroamerikanische Sprinter Tommie Smith seien Ausnahmeerscheinungen, die ihre sportlichen Ambitionen hinter ihr sozialpolitisches Engagement einreihten. Das könne man nicht von jedem Profi erwarten. „Elf Muhammad Alis wird man nie haben, aber die Richtung muss klar sein. Wollen wir etwas tun, wollen wir es zusammentun?“, rät er in Bezug auf die Geste der DFB-Elf nach dem FIFA-Verbot der One-Love-Armbinde.
Das Fazit in „Mutproben“ ist eine Warnung: Der Fußball werde aktuell durch Öl-Multis vereinnahmt. Die erfolgreiche Endrunde in Katar würden andere autoritäre Staaten mit der Behauptung „Fußball habe mit Politik doch nichts zu tun“ gerne kopieren. Der ohnehin dekadente Profifußball werde durch den Aufkauf europäischer Spitzenverein durch arabische Milliardäre noch dekadenter. Zwar stößt sich Hitzlsperger nicht am Verhalten eines Cristiano Ronaldos, der mit seinem Wechsel nach Saudi-Arabien nur manifestieren wollte, weiterhin das meiste Geld abzukassieren; schmerzhaft empfand er dagegen, dass Jordan Henderson dem Ruf des schnöden Mammons folgte, dabei „hätte [er] überall hingehen können, England, Europa, USA.“ Für „Hitz“ ist es eine persönliche Enttäuschung: Jener „Hendo“ hatte ihn einst als Gegenspieler bei Sunderland mit seiner Energie verzaubert. Später sei Henderson bei Liverpool zum Führungsspieler gereift und habe aus eigener Initiative und öffentlichkeitswirksam das Thema „Diversity“ für sich entdeckt hatte, nur um letztendlich in ein Land zu wechseln, dass Homosexualität mit dem Tod bestraft. Das tat weh. „Ich möchte glauben, dass man auch im Fußballbetrieb ein Mensch bleiben kann, dem nicht alles egal ist.“, meint Hitzlsperger.
Seine persönlichen Helden sind dagegen der walisische Rugbyspieler Gareth Thomas oder Major League Soccer-Profi Robbie Rogers; an ihnen orientierte er sich, als er sein „Coming-out“ plante. Heute bemüht er sich wiederum ein Vorbild für andere zu sein; jeder noch so kleinen Anfrage will er nachkommen. So fährt er z.B. in den Religionsunterricht einer Salzburger Schule um mit den Burschen einer bestimmten Klasse ihr antiquiertes Menschenbild zu diskutieren. Kleine Schritte in die richtige Richtung.
„Mutproben“ von Thomas Hitzlsperger und Holger Gertz ist 2024 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet in Österreich € 24,50.