Davon, wie sich diese immer wieder neu erfindet, erzählt der Roman „Er war ein guter Junge“.
Autorin Simonetta Agnello Hornby, geboren 1945 in Palermo, lebt seit 1972 in London, wo sie als Richterin arbeitete. In ihren literarischen Werken beschäftigt sie sich mit der Insel ihrer Herkunft. Mit dem KURIER hat sie über das Übel ihrer Heimat, die noch immer mit der Mafia zu kämpfen hat, gesprochen.
KURIER: Sie leben seit 60 Jahren nicht mehr in Sizilien. Wie ist Ihr Verhältnis zur Insel?
Simonetta Agnello Hornby: Ich habe Sizilien nie wirklich verlassen. Physisch vielleicht, aber Sizilien ist mein Zuhause. Ich komme aus einer sehr sizilianischen Familie und lege Wert auf meine Wurzeln.
Die Verbindung Sizilien und Mafia klingt oft fast klischeehaft. Wie wird das dort wahrgenommen?
Ein Cousin meines Vaters wurde von der Mafia entführt, daher wurde ich mit den schlimmsten Seiten der Mafia innerhalb meiner eigenen Familie konfrontiert. Die Mafia entstand im 19. Jahrhundert. Sie war nicht immer Teil Siziliens, sondern entwickelte sich erst, als Garibaldi – den ich für eine verabscheuungswürdige Person halte – nach Sizilien kam. Er nutzte den richtigen Moment, um das Königreich der beiden Sizilien dem Königreich Piemont einzuverleiben, das später das Königreich Italien wurde. Die piemontesische Herrschaft war brutal und hat uns sehr geschadet. Damals sagten die einfachen Leute: „Wir müssen uns gegen diese neuen Herren schützen.“ So entstand die Mafia.
Hierzulande wird Garibaldi oft als Volksheld wahrgenommen.
Garibaldi war ein intelligenter Mann. Er wurde in Genua geboren, war in Amerika aktiv, wurde als „Held der zwei Welten“ bekannt. In einer Zeit, in der viele nach Freiheit und Handlungsspielraum strebten, wusste er, wie er das für sich nutzen konnte. Doch sein Eingreifen in Sizilien war für uns eine Katastrophe. Garibaldi war kein Patriot, sondern ein Mann, der kämpfen und erobern wollte – und das hat er getan.
Ist die Mafia mittlerweile einfach eine Tatsache in Sizilien, die man akzeptieren muss, oder sehen Sie eine Chance, dass sich etwas ändert?
Ich bin jemand, der von der Hoffnung lebt. Eine Organisation, die geboren wird, kann auch sterben. Die Mafia kann verschwinden, wenn die Menschen und die Politiker es wirklich wollen.
Gibt es diesen Willen denn? Ihr Roman zeigt, dass einige Mütter ihre Söhne zur Mafia schicken, weil sie darin eine Karrierechance sehen.
Das Problem ist, dass Mafiosi oft als Wohltäter auftreten. Die Mafia wächst, die Mafia wird respektiert, die Mafia ist reich, weil sie weiß, wie sie sich zu verhalten hat, wie sie dich zum Narren halten kann. Ich kenne keinen dummen Mafioso. Leider.
Warum wird so wenig über die Rolle der Frauen in der Mafia gesprochen?
Eine sizilianische Mutter würde alles für ihre Kinder tun – auch Dinge, die sie eigentlich für falsch hält. Wenn eine Frau erfährt, dass sie durch einen Gefallen an die Mafia ihrem Sohn eine bessere Zukunft ermöglichen kann, ist es für sie schwer, abzulehnen. Mafioso-Frauen sind sehr stark, weil sie zum Beispiel Kinder großziehen mussten, während ihre Männer verschwunden waren, und dabei ist die sizilianische Frau ihrem Mann gegenüber sehr loyal. Ehrlich gesagt denke ich, wenn es in Sizilien Gewalt oder Bosheit oder Güte oder Intelligenz gibt, dann sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen.
Haben Sie in England auch Mafiosi getroffen?
Immer wieder im Flugzeug, wenn ich von Palermo nach London flog oder umgekehrt. Ich saß oft neben einem alten Mann, und der alte Mann war kein alter Mann, er war ein Mafioso. Manchmal unterhielten wir uns, und er sagte, wenn du etwas brauchst, ich habe einen Sohn, der dir helfen kann. Und ich habe eine sehr gute Frau – wenn du Probleme mit den Kindern hast, ruf sie an.
Haben Sie sich je bedroht gefühlt? Roberto Saviano lebt unter Polizeischutz.
Ich bin Anwältin und war Richterin in England. Wenn ich etwas sage, übernehme ich Verantwortung dafür. Natürlich könnte ich schweigen und hätte ein ruhigeres Leben, aber das wäre nicht richtig, denn man kann die Wahrheit nicht leugnen. Natürlich könnte mir die Mafia schaden – ich hoffe, dass es nicht passiert. Gerechtigkeit erreicht man nicht durch Feigheit.