Startseite Kultur Nicolas Mathieu: Eine Liebe auf Instagram

Nicolas Mathieu: Eine Liebe auf Instagram

von Max

Es ging unter die Haut, man hat es Jahre später noch in Erinnerung: Dieses Gemälde einer bedrückenden Pubertät in der französischen Provinz, genauer gesagt in Lothringen, wo die Stilllegung eines Industriestandortes Aufstiegsversprechen gebrochen hatte und Jugendliche ihre Eltern mehr als notwendig verachten ließ. Dabei sagte einem doch bereits der Titel, dass auch den Kindern wenig Zukunft gelingen würde.

„Wie später ihre Kinder“, eine inhaltlich punktgenaue Übersetzung des französischen Originals „Leurs enfants après eux“, hieß der Roman, der Nicolas Mathieu 2018 den Prix Goncourt brachte und den heute 46-Jährigen als einen der genauesten Beobachter der verkorksten Paris-Provinz-Beziehung etablierte.

Anders als bei einem Édouard Louis wird das ländliche Prekariat bei Mathieu aber nie zum Selbstzweck. In „Wie später ihre Kinder“ konnte, wer wollte, natürlich eine politische Botschaft lesen und Mathieu, Sohn eines Arbeiters, äußerte sich sehr kritisch etwa zu den von vielen Franzosen verhassten Pensionsreform-Projekten der Regierung Macron. Doch sein Roman ist vor allem ein detailliertes, emotional fesselndes Porträt einer Generation. Denn Mathieu ist nicht nur ein genauer Analytiker, sondern auch ein wunderbarer Erzähler, wie er 2022 auch in seinem Vorstadt-Bourgeoisie-Porträt „Connemara“ unter Beweis stellte.

Nun hat Mathieu etwas scheinbar ganz anderes gemacht. Statt eines minutiös recherchierten Gesellschaftsporträts erzählt er in „Jede Sekunde“ zunächst eine Liebesgeschichte. Das allerdings so präzise und analytisch, wie er es auch in seinen Gesellschaftsromanen tut.

Ohne in das Genre der Gesellschaftsberichterstattung ausweichen zu wollen, sei Folgendes erwähnt: Nicolas Mathieu ist mit Charlotte Casiraghi liiert, der Tochter der Prinzessin von Monaco. Sie ist selbst Autorin und in Sachen Literatur angeblich sehr bewandert. Ob man dieses intime Buch angesichts dieses Wissens anders liest, ist schwer zu sagen. Inspiriert ist es von Mathieus echten Instagram-Beiträgen, er spricht von „versiegelten Briefen an eine Frau, die erst einmal nicht zu haben“ war. Ein Icherzähler, Schriftsteller, beschreibt intensive, atemlose Begegnungen mit seiner Geliebten, an der er alles vermisst, ihren Argwohn, ihren Hintern, ihre abgekauten Fingernägel und selbst ihre Zigarettenstummel. Nichts anderes als diese wohl zukunftslose Liebe scheint ihm wichtig, schon gar nicht die Literatur: „Ich würde Homer tilgen und alles nach ihm, um diesen goldenen Armreifen an deinem Handgelenk wiederzusehen.“

Doch so sehr diese Fragmente der Liebe stellenweise berühren, es bleibt nicht beim Persönlichen. Auch wenn er sie für die „Morgensonne“ seines Lebens hält, so kehrt er immer wieder auch zum Allgemeinen und Politischen zurück. Zu den „Angestellten mit tiefen Augenringen“, den „verlassenen Dörfern“, der „Last von dreißigstöckigen Hochhäusern“. Zu einem „in Zorn getränkten Land“. Ja, auch davon will er seiner Geliebten erzählen.

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