Lange Wartezeiten auf OPs, zu wenig Präventivmaßnahmen und mühsame Prozesse für innovative Medikamente: Österreichs Gesundheitssystem scheint schlecht aufgestellt zu sein. Doch wie steht es im europäischen Vergleich da? Die WZ hat sich das angesehen.
Magdalena leidet seit Jahren unter starken Knieschmerzen (die WZ berichtete). Die Wartezeit für die Knieprothese? Ein Jahr. Käme sie in einem anderen europäischen Land schneller dran? Die WZ geht der Frage nach, wo Österreichs Gesundheitssystem im Vergleich zu anderen EU-Ländern steht.
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Kosten und Finanzierung: Österreich im Mittelfeld?
Österreich investiert 10,4 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) in das Gesundheitssystem, was es zu einem der teuersten in Europa macht. Damit liegt es vor Ländern wie Italien (8,7 Prozent) und Spanien (9,1 Prozent), aber hinter Deutschland, das 11,7 Prozent seines BIP für Gesundheit ausgibt. Diese hohen Ausgaben in Österreich bedeuten jedoch nicht automatisch eine bessere Versorgung.
Thomas Czypionka, Leiter der Forschungsgruppe Gesundheitsökonomie und -politik am Institut für Höhere Studien, beschreibt die Situation so: „Die Bewertung eines Gesundheitssystems ist eine äußerst komplexe Angelegenheit, und es gibt keine einfache, universelle Methode, um dies zu tun. Grundsätzlich basiert die Bewertung auf mehreren Dimensionen, von denen einige objektiver, andere subjektiver Natur sind.“ Dies würde man etwa an chronischen Krankheiten wie Diabetes gut erkennen: „Österreich schneidet trotz hoher Ausgaben schlechter ab als Länder mit niedrigeren Gesundheitsausgaben.“
Wartezeiten: besser als Spanien, aber schlechter als Deutschland
Magdalenas Erfahrung mit den langen Wartezeiten auf eine Operation ist in Österreich keine Seltenheit. Die Dauer variiert hierzulande von unter vier Wochen bis zu einem Jahr. Die Median-Wartezeiten für Knieersatz-OPs reichen von unter 50 Tagen in Dänemark und Italien bis zu mehr als 150 Tagen in Portugal, Norwegen, Spanien und Polen. In Estland liegt die Median-Wartezeit bei 441 Tagen. „In Ländern wie Dänemark hat die Verkürzung von Wartezeiten eine hohe politische Priorität“, erklärt Czypionka. Die Wartezeiten würden in Österreich ein Symptom ineffizienter Ressourcenverteilung sein. Doch ein Vergleich gestaltet sich schwierig, denn viele Länder haben eine eigene Definition des Begriffs Wartezeit. So berechnen manche die Wartezeit ab dem Anruf beim Arzt bis zur OP, manche wiederum von der Diagnose des Arztes bis zur OP.
Die freie Arztwahl: Flexibilität versus Effizienz
Österreich wird in den Studien oft für seine freie Arzt- bzw. Ärztinnenwahl gelobt, in anderen wiederum kritisiert. Patient:innen wie Magdalena können direkt einen Facharzt oder eine Fachärztin aufsuchen, ohne vorher einen Hausarzt oder eine Hausärztin konsultieren zu müssen. Dies ist in vielen Ländern Europas nicht möglich: In den Niederlanden und Schweden etwa fungiert der Hausarzt oder die Hausärztin als „Gatekeeper“, der/die entscheidet, ob eine Überweisung an einen Facharzt oder eine Fachärztin notwendig ist. „Viele Patient:innen in Österreich gehen direkt zu Fachärzten oder in Ambulatorien, ohne dass dies medizinisch notwendig wäre“, sagt Czypionka. Dies führt zu einer Überlastung des Systems und verlängert die Wartezeiten. In den Niederlanden beträgt die Wartezeit für Termine bei einem Facharzt/einer Fachärztin durchschnittlich 25 Tage, in Schweden sind es 40 Tage. Im Vergleich dazu muss man in Österreich oft mehr als 60 Tage für einen Termin beim Facharzt oder bei einer Fachärztin in Kauf nehmen.
Die Verfügbarkeit von Ärzt:innen im europäischen Vergleich
Mit 5,4 Ärzt:innen pro 1.000 Einwohner:innen liegt Österreich aber bei der Arzt- bzw. Ärztinnendichte deutlich über dem EU-Durchschnitt von 3,6 Ärzt:innen. Im Vergleich dazu hat Deutschland 4,5 Ärzt:innen pro 1.000 Einwohner:innen, Italien kommt auf 4. Länder wie Schweden und Finnland, die als Vorbilder in der Gesundheitsversorgung gelten, haben ebenfalls geringere Ärzt:innendichten (4,3 bzw. 3,2 pro 1.000 Einwohner:innen). „Eine hohe Ärztedichte allein garantiert noch kein effizientes Gesundheitssystem“, stellt Czypionka fest.
Prävention: ein vernachlässigtes Thema in Österreich
„Eine der größten Schwachstellen des österreichischen Gesundheitssystems ist der Mangel an präventiven Maßnahmen“, erklärt Czypionka. Österreich gibt nur 2,8 Prozent seiner Gesundheitsausgaben für Prävention aus – weniger als der OECD-Durchschnitt von 3,2 Prozent. Finnland, das fast vier Prozent seines Gesundheitsbudgets in Prävention investiert, hat wesentlich bessere Gesundheitsergebnisse erzielt. „Es fehlt eine klare nationale Präventionsstrategie“, meint Czypionka. „Das zeigt sich besonders bei chronischen Krankheiten wie Diabetes. Rund 8,4 Prozent der österreichischen Bevölkerung leiden an Diabetes, während der Anteil in Finnland nur bei 6,2 Prozent liegt. Frühzeitige Präventionsmaßnahmen könnten langfristig nicht nur die Gesundheitsausgaben senken, sondern auch das Leiden der Betroffenen verringern.“
In Ländern wie Schweden und Norwegen wurden nationale Präventionsprogramme entwickelt, die auf gesunde Ernährung, regelmäßige Bewegung und die Vermeidung von Risikofaktoren abzielen. Diese Programme haben die Zahl der chronischen Erkrankungen signifikant reduziert. Österreich hingegen hat hier trotz einiger Angebote Nachholbedarf.
Zugang zu innovativen Medikamenten: wo Österreich hinterherhinkt
Während Österreich in der Akut- und Notfallmedizin stark ist, zeigt sich bei der Verfügbarkeit von innovativen Medikamenten eine Schwäche: Die mediane Wartezeit in Österreich beträgt 349 Tage, bis neue Medikamente nach ihrer Marktzulassung verfügbar sind. In Deutschland hingegen beträgt die Wartezeit nur 87 Tage, in Frankreich etwa 120 Tage. „Die langen Zulassungszeiten hängen vor allem mit dem aufwendigen Preisverhandlungsprozess zusammen“, erläutert Czypionka. Dieser Prozess sei darauf ausgelegt, die Kosten für das System zu kontrollieren. „Der Preis dafür ist, dass die Medikamentenkosten in Deutschland oft höher sind als in Österreich“, fügt der Experte hinzu. Man könne die lebenswichtigen neuen Medikamente schon vorab bekommen, wenn man der Krankenkasse die Notwendigkeit beweisen könne. In Österreich müssen Patient:innen durchschnittlich 32 Prozent der Kosten für Medikamente selbst tragen. In Deutschland liegt dieser Anteil bei 18 Prozent, während in Polen fast die Hälfte der Arzneimittelkosten selbst bezahlt werden muss.
Wobei die allgemeinen Kosten im EU-Vergleich eher gering ausfallen: Für den Besuch beim/bei der Haus- oder Facharzt/ärztin fallen keine Gebühren an, abgesehen von der jährlichen e-card-Gebühr von 13,35 Euro. Zum Vergleich: In Ländern wie Finnland zahlen Patient:innen für jeden Besuch beim Arzt oder bei der Ärztin etwa 20 Euro, in Frankreich beträgt die Zuzahlung 30 Prozent der Kosten plus eine zusätzliche Gebühr von einem Euro für jeden Besuch bzw. jegliche ärztlichen Maßnahmen sowie für Röntgen- und Laboruntersuchungen.
Stärken und Schwächen
„Eine der größten Stärken des österreichischen Gesundheitssystems ist seine Solidarität. Der Zugang zu medizinischen Leistungen ist für alle gewährleistet, unabhängig von Einkommen oder sozialem Status“, sagt Czypionka. Besonders in der Akut- und Notfallversorgung ist man in Österreich besonders gut gewappnet. „Da funktioniert das System schnell und effizient, und die Versorgung ist auf einem hohen Niveau.“
Eine der größten Schwächen hingegen liegt in der Fragmentierung des Systems, die Verbesserungen schwierig macht: „Es gibt zu viele Akteure mit Veto-Recht, die oft nicht ausreichend miteinander kooperieren.“ Andere europäische Länder, darunter Finnland, Schweden und die Niederlande, haben durch klare Strategien und Investitionen bessere Ergebnisse in den Studien als auch in der Zufriedenheit der Patient:innen erzielt. Österreich könnte von diesen Ansätzen profitieren – für Menschen wie Magdalena und viele andere.
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Infos und Quellen
Gesprächspartner
Thomas Czypionka ist Mediziner und Ökonom und leitet die Forschungsgruppe Gesundheits-ökonomie und -politik am Institut für Höhere Studien (IHS). Derzeit ist er außerdem Präsident der Austrian Health Economics Association (ATHEA).
Daten und Fakten
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Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zeigt an, wie viel in einem Land in einem bestimmten Zeitraum wirtschaftlich geleistet wurde. Es gibt den Gesamtwert aller Güter, also Waren und Dienstleistungen, an, die innerhalb eines Jahres als Endprodukte hergestellt wurden.
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Die Zuständigkeiten für die Verwaltung des Gesundheitssystems in Österreich sind zwischen Bund und Ländern aufgeteilt. Die Bundesregierung ist für die Regulierung der Sozialversicherungsträger und die meisten Aspekte der Gesundheitsversorgung zuständig. Die neun Bundesländer regeln und planen die Krankenhausversorgung in ihrem Zuständigkeitsbereich und sind für die Durchführung, Organisation und Finanzierung der stationären und ambulanten Gesundheitsversorgung in Krankenhäusern sowie für Krankenhausinvestitionen verantwortlich. Die Sozialversicherungsträger und Leistungserbringer spielen eine wichtige Rolle, da sie kollektive Verträge aushandeln, die die ambulante, die rehabilitative und die Arzneimittelversorgung regeln. Die Finanzierung des Gesundheitswesens ist gemischt: Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungsträger tragen zum Budget bei. Mit der Versicherungsreform 2020, mit der die bisherigen18 Sozialversicherungsträger auf fünf reduziert wurden (darunter die ÖGK, in der 7,2 Millionen Menschen oder 82 Prozent der Bevölkerung erfasst sind), sollten die Unterschiede in der Leistungsabdeckung verringert werden, und zwar sowohl regional – durch die Fusion der bisherigen neun Gebietskrankenkassen zur ÖGK – als auch zwischen den speziellen Sozialversicherungsträgern. (health.ec.europa.eu)
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Median-Wert versus Durchschnitt/Mittelwert: Der Durchschnitt wird berechnet, indem alle Werte summiert werden und durch die Summe der Anzahl der Werte dividiert wird. Der Median hingegen kann berechnet werden, indem alle Zahlen in aufsteigender Reihenfolge aufgelistet werden und dann die Zahl in der Mitte dieser Auflistung ausgewählt wird.