Startseite Wirtschaft Österreichs letztes Schachgeschäft in Wien: „Schach & Spiele“

Österreichs letztes Schachgeschäft in Wien: „Schach & Spiele“

von Max

Bei Touristen gilt „Schach & Spiele“ als Wiener Kuriosität. Während japanische Urlauber begeistert die Auslagen fotografieren, blättert ein Mathematik-Professor die aufgelegten Fachmagazine durch. „Ich komme immer hierher, wenn ich in Wien bin. Das ist ein Fixpunkt für mich“, erzählt der Oberösterreicher. 

Was er an Michael Ehn besonders schätzt: „Man muss nicht immer was kaufen, sondern kann ganz ohne Konsumzwang den ganzen Tag spielen“.

Vor einigen Jahren noch war in dem Laden in der Gumpendorfer Straße 60 viel los. Schachfreunde aller Alters-, Bildungs- und Einkommensgruppen trafen einander, spielten, fachsimpelten oder erhielten Unterricht. Auch der eine oder andere Weltmeister kam vorbei, Ehn zählt international zu den Top-Schachexperten.

Einziges Fachgeschäft für Schach

„Diese Unbefangenheit in der Kommunikation ist durch Corona verschwunden, die Leute haben sich verlaufen“, bedauert Ehn.

Als ob das Internet nicht schon genug wäre. Während das virtuelle Spiel rasant wächst und wächst, schrumpft das Schach zum Anfassen, viele Klubs verlieren Mitglieder. „Heute spielen viel mehr Leute als früher, aber man sieht sie nicht“, bedauert Ehn. Insgesamt dürften zwei Millionen Menschen in Österreich die Schachregeln kennen, sich 30.000 sehr damit beschäftigen und sich 8000 bei Vereinen in den diversen Ligen matchen, schätzt der Österreichische Schachbund (ÖSB).

Ein Betrieb nach dem anderen musste zusperren, sodass der charismatische Ehn heute das einzige Fachgeschäft für die Freunde des Königlichen Spiels betreibt. Hier verkauft er alles, was mit Schach zu tun hat. 

Ehn ist auch der einzige Schach-Historiker Österreichs und hat eine Bibliothek mit gut 23.000 Büchern, darunter Werke ab dem 16. Jahrhundert. Österreich hatte vor dem Ersten Weltkrieg eine große Schachgeschichte mit internationalen Spitzenspielern und war weltweit die Nummer eins. „Schach hängt sehr mit der österreichischen Geschichte zusammen, und auch mit der politischen Geschichte“, erzählt Ehn. Heute rangiert die Alpenrepublik in der Schachwelt weit abgeschlagen. 

Mehr als 23.000 Bücher umfasst das Archiv

„Wien hat ein lebendes Schachgedächtnis, 
und das ist der Historiker und Autor 
Michael Ehn“. 

 André Schulz
Chefredakteur chessbase.com 

Das Geschäft, das mit dem Verlag der „Wiener Schachzeitung“ zusammen hing, sperrte 1898 auf, damals im 4. Bezirk. Einer der Förderer war Anselm Rothschild, selbst ein eifriger Schachspieler. 1923 übernahm Akim Lewit, 1938 wurden Geschäft und Verlag arisiert, die Nazis deportierten den Besitzer ins KZ Buchenwald. Lewit überlebte das Grauen, scheiterte aber 1948 wirtschaftlich mit dem Versuch, wieder aufzusperren. Nach mehreren Eigentümerwechseln gingen Geschäft und Verlag an Herbert Huber.

1980 schneite dann der junge Michael Ehn bei der Türe herein, „das Geschäft hat mir sofort gut gefallen“, und half fortan als Mitarbeiter aus. In seiner Jugend im Burgenland war Ehn das erste („und wirklich schlechte“) Schachbuch in die Hände gefallen, er lernte mangels Schachkameraden nur aus Büchern. Seine erste Partie spielte er mit 19, während der Studiums in Wien. „Drei Jahre lang trainierte ich sehr ehrgeizig und wurde nach einem Turniersieg nach Ungarn geschickt, um mit den international besten Nachwuchstalenten zu trainieren“. Doch das war für Ehn der Grund, mit dem Turnierspiel aufzuhören. „Die waren so weit vorne, ich dachte, das kann ich nie aufholen. Seit damals spiele ich nur noch zum Spaß“.

Ehn verlegte sich auf Schachgeschichte und aufs Schreiben, das er brillant beherrscht. Bis heute publizierte er 15 Bücher, einige mit Co-Autoren. Im Standard verfasst er seit mehr als drei Jahrzehnten gemeinsam mit Ernst Strouhal, Professor für Kulturwissenschaften an der Angewandten in Wien, eine kurzweilige Schachkolumne (ruf & ehn) samt Rätseln. „Eine facettenreiche Sammlung mit Suchtfaktor, von geistreicher Unterhaltung bis präziser Information“ attestierte die Zeit.

1992 schließlich übernahm Ehn das Geschäft, das er zu einem Zentrum des Schachsports machte. Bis vor Kurzem förderte er in einer eigenen Betriebsmannschaft junge Talente. Das Team mit einigen Großmeistern spielte in der höchsten Klasse der Betriebsmannschaften. 

Das ist Österreichs letztes Schachgeschäft

Gefängnis und Staatsoper

Seine Diplomarbeit verfasste Ehn über die „Lebensgeschichte von sozial Devianten“, über Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft und das Leben von Stadtstreichern. Es war also kein Zufall, dass Ehn jahrelang Schach in Gefängnissen unterrichtete. „Das waren meine dankbarsten Schüler, sehr interessiert und mit viel Zeit. In der Haft braucht man eine sinnvolle Beschäftigung, da kann Schach sehr helfen“. Viele spielten nach ihrer Entlassung weiter.

Schach kennt keine Grenzen, auch keine gesellschaftlichen. Nachmittags im Gefängnis, vormittags im Schachklub der Wiener Staatsoper. Viele Musiker und Sänger spielen begeistert, auf Namedropping verzichtet der zurückhaltend auftretende Ehn jedoch.

Jetzt sei es allerdings an der Zeit, an einen Nachfolger zu übergeben, meint Ehn im Gespräch mit dem KURIER. Schließlich werde er heuer 65. Trotz Internet könne man vom Geschäft leben, Fleiß vorausgesetzt. Sowie wirtschaftliches Interesse und Basiswissen im Schach. Die Kunden, auch Großmeister, legen Wert auf Ehns Expertise. „Ein Buch kann für jemanden Gift sein und für jemand anderen sehr hilfreich. Das abzuschätzen, darin besteht mein Fachwissen“. So gebe es beispielsweise Hunderte Bücher über die „Sizilianische Verteidigung“, aber es kommt auf das Niveau des Spielers an. „Ich kann jemandem, der gerade begonnen hat, nicht dasselbe Buch verkaufen wie einem Großmeister“, erklärt Ehn. 

Leider passiere es halt auch, dass Kunden sich beraten lassen und dann doch im Internet kaufen, „weil sie sich ein paar Euro sparen“.

Das ist Österreichs letztes Schachgeschäft

Ein Syrer fertigt die Schachbretter in Handarbeit 

Schachgeschäft in Wien „würde sehr fehlen“

Chinesischer Ramsch aus leichtgewichtigem Kunststoff oder zusammen geklebten Holzresten, erhältlich bei Diskontern und im Internet, kommt dem qualitätsbewussten Ehn nicht ins Regal. Seit einiger Zeit arbeitet er mit einem Syrer zusammen, der in Handarbeit kunstvolle Bretter und Figuren herstellt, „für ein Brett braucht er eine Woche. Solche Bretter, echte Intarsien aus acht verschiedenen Hölzern, können die wenigsten Handwerker machen“. Wer ein Brett mit den 64 schwarzen und weißen Feldern kauft, sollte es vorher sehen und fühlen, empfiehlt Ehn. Qualitative Figuren sind mit einem Eisenkern im Sockel gewichtet und schwerer. 

„Das Geschäft würde sehr fehlen, es ist eine fantastische Bereicherung und im deutschsprachigen Raum einzigartig“, sagt Michael Stöttinger, Präsident des Schachbunds. Auch das Know-how von Ehn „ist einzigartig, er ist bei vielen Themen die maßgebliche Autorität“.

Das ist Österreichs letztes Schachgeschäft

Michael Ehn beim KURIER-Interview mit Andrea Hodoschek

Der ÖSB könne zwar kein Geschäft betreiben, doch man würde sich freuen, „wenn Michael Ehn mit seiner Nachfolge-Thematik auf uns zukommt. Wir sind gerne bereit, über jede mögliche Unterstützung für den Erhalt seines wertvollen Archivs zu sprechen“.

Ehn ist zuversichtlich. „Das Geschäft hat zwei Weltkriege überstanden und die Arisierung. Ich hoffe, es wird das Internet auch überleben“.

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