Christian Schmidt jedenfalls hat auf der Drehbühne ein wirklich spektakuläres, geradezu mondänes Landhaus im westlichen „Schöner Wohnen“-Stil errichtet. Da harmonieren die massiven Steinmauern samt eingelassenem Kamin im Salon mit den holzvertäfelten Wänden, da gibt es gediegene Messing-Kandelaber entlang der Treppe und einen Rundbogendurchgang zur Einbauküche.
Es gibt zudem ein Telefon mit Wählscheibe, ein Transistorradio und einen Plattenspieler. Denn zwischendurch legt man den Disco-Hammer „You Make Me Feel“ von Aids-Opfer Sylvester oder die Super-Schnulze „All by Myself“ von Eric Carmen auf. „Should I Stay or Should I Go“ von The Clash erklingt kurz – und als durchgehendes Motiv immer wieder „Love Will Tear Us Apart” von Joy Division (in mehreren Versionen).
Es wird auch wirklich gekocht – in Email-Reindln (vor der Pause riecht es aufdringlich nach Spiegeleiern, später nach Spaghetti carbonara). Man könnte fast meinen: Das Haus, alles andere als desolat, spielt die Hauptrolle – und nicht der leidgeprüfte Wanja, der, wie auch der Kassandrarufer Astrow, der schönen Jelena vollkommen verfallen ist.
Weil der andauernd rotierende Architekturmonolith mit dem Rückzugsort Badezimmer im Obergeschoss derart dominiert, gibt es kein Außen, daher auch keinen Garten (in dem der erste Akt eigentlich spielt). Und den Wald sieht man vor lauter Bäumen nur in Projektionen. So fließt nebenbei gehörig Kritik an der Denaturierung ein.
Der große Rest (die Premiere am Donnerstag dauerte inklusive Pause fast drei Stunden) sind Klamauk und Slapstick. Der alte Professor hat schließlich mit seiner neuen Frau das durchritualisierte Landleben gehörig durcheinandergebracht. Ob dieser ungebetenen Eindringlinge wünscht sich Wanja, der ausgenützte Schwager, in der Not eine Familienaufstellung.
Niermeyer dürfte sich von „Dėdė Vania“ – die grandiose Produktion des Kleinen Theaters Vilnius in der Regie von Tomi Janežič war bei den Wiener Festwochen 2023 zu sehen – inspiriert haben lassen. Denn auch sie lässt live musizieren – mit E-Gitarre, Bass und Keyboard. Und auch sie setzt Brechungen ein: Nacheinander tritt eine Figur aus dem Setting, um sich direkt ans Publikum zu wenden.
Im Gegensatz zu Tomi Janežič kostet Niermeyer aber nicht die süße Melancholie, die unendliche Traurigkeit aus. Das Schicksal des hässlichen Entleins – Sonja würde sich so gern den Arzt Astrow angeln, aber das falsche Luder Jelena schnappt sich ihn – berührt lange Zeit nicht wirklich. Der große Moment von Johanna Mahaffy, mit Brille und Vokuhila von Stefanie Seitz ziemlich unsexy hergerichtet, kommt erst mit dem Durchhalte-Schlussmonolog.
Aber trotz mancher Einwände: Das chaotische Treiben unterhält blendend. Joseph Lorenz brilliert als jammernder Professor – ein Störenfried im Smoking – mit Selbstmitleid und Überheblichkeit. Thomas Frank brabbelt als andauernd vorbeitrottender Telegin wunderbar Schwachsinn. Die reizende Oma der Marianne Nentwich kümmert sich rührend um alle, sie füttert verhaltensauffällig ihre Puppe, kapiert aber nichts. Und Alexander Absenger, an sich ein besonnener Astrow, macht sich vor Jelena strippend zum Kasperl. Alma Hasun schlägt als höhere Tochter tatsächlich in ihren Bann, auch wenn sie alle absnobt – und trotz unerträglicher Langeweile, ablesbar am fadisierten Gesichtsausdruck, nicht in der Küche mithelfen will.
Mit Fortgang demonstriert Raphael von Bargen hochartistisch, dass in „Onkel Wanja“ doch nicht das Bühnenbild die Hauptrolle hat: Er schenkt der Angebeteten in einer hinreißenden Pantomime seine Gefühle – und flippt mit wirren Haaren nachvollziehbar aus, als der Professor das Gut, das eigentlich seiner Tochter Sonja gehört, zum eigenen Vorteil verschachern will.
Und so dürfte die Josefstädter Produktion, eifrig akklamiert, wohl ein Renner werden. Obwohl von der Tschechow-Atmosphäre inklusive Samowar nicht mehr viel übriggeblieben ist.