Die Union von Friedrich Merz wurde bei der Wahl stimmenstärkste Partei, verpasst allerdings die 30-Prozent-Marke. Die SPD fährt ihr historisch schlechtestes Ergebnis ein, Kanzler Olaf Scholz wird sich von der Parteispitze zurückziehen. Die großen Gewinner: die teils rechtsextreme AfD und die Linke, die überraschend ein Comeback feiert. BSW und FDP fallen aus dem Bundestag. Was kann man aus den Ergebnissen mitnehmen?
Es gibt keine stabilen Verhältnisse mehr, die „Mitte“ schrumpft
Die Zeiten der großen Koalition sind vorbei, auch wenn vielleicht bald eine Union-SPD-Regierung den Ton angibt: Die SPD ist auf desaströse 16 Prozent geschrumpft, die Union unter 30 gefallen, das sind historisch schlechte Ergebnisse.
In Deutschland vollzieht sich langsam, was in nordischen Parlamenten längst Realität ist: eine Fragmentierung der Parteienlandschaft. Nur bildet sich das im Bundestag wegen der Fünf-Prozent-Hürde nicht ab, kleine Parteien wie das BSW und die FDP sind dadurch einfach inexistent. Hätte Sarah Wagenknecht ein paar Tausend Wähler mehr gehabt, müsste CDU-Chef Friedrich Merz jetzt mit SPD und Grünen reden.
Vielleicht muss Berlin darum etwas mehr in die Hauptstädte im Osten schauen: Dort wird schon länger auf Landesebene in ungewöhnlichen Allianzen regiert, auch in Minderheitsregierungen. Das wird wohl auch bundesweit die Zukunft sein.
Friedrich Merz bei der CDU-Wahlparty.
Man macht AfD nicht klein, wenn man sich von ihr leiten lässt
Pensionen, Klima – Themen, die im Wahlkampf kaum angesprochen wurden. Stattdessen ging es nach dem Messerattentat eines afghanischen Flüchtlings in Aschaffenburg ausschließlich um Asylpolitik. Eine Steilvorlage für die ausländerfeindliche AfD. Die Union, die den Wahlkampf mit dem Thema Wirtschaft bespielen wollte, nahm in einer umstritten Abstimmung über eine Verschärfung der Migrationspolitik die Zustimmungen der AfD in Kauf.
Zurückweisungen an der Grenze und Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien wurden von Union, AfD, SPD und FDP und teils den Grünen versprochen. Allerdings ohne auszuführen, wie das angesichts der fehlenden personellen Ressourcen und der langen Verfahrensdauer wirklich realistisch umsetzbar ist. Da ziehen die Versprechen der oppositionellen AfD mehr.
Sie profitierte vom einheitlichen Migrationskurs der Parteien – ebenso wie die Linke, die als einzige Partei für Zuwanderung plädierte. Sie zog damit, wenn auch nur aus einem kleinen, progressiven, städtischen Milieu, SPD und Grüne wichtige Stimmen ab – nämlich über 1,2 Millionen.
Radikal zu wählen, ist normal: Die AfD ist kein „Ostproblem“
Ein Fünftel der Wähler hat rechts bis rechtsextrem gewählt, doppelt so viel wie vor vier Jahren. Das ist nicht nur eine massive Verschiebung, sondern auch eine Normalisierung: Der Stempel „rechtsradikal“ hat lange abgeschreckt, mittlerweile ist er vielen Wählern egal – und die Extremsten der Partei wie Björn Höcke kokettieren sogar damit.
Zu denken geben sollte dem Rest der Parteien, dass die AfD zwar im Osten auf mehr als 38 Prozent gekommen ist, aber dass sie sich auch im Westen verfestigt – im Saarland hat sie 21,6 Prozent erreicht, selbst in Bayern fast 18 Prozent abgeräumt. Sie spricht zwar hauptsächlich Arbeiter, weniger Gebildete, Männer an; aber die Wähler ziehen sich mittlerweile durch alle Schichten. Nur bei den über 70-Jährigen verfängt die AfD nicht – vielleicht ist hier das größere Geschichtsbewusstsein der Grund.
Die Frage ist, wie groß das AfD-Potenzial. Diesen Wert mussten Experten in den letzten Jahren immer weiter nach oben korrigiert.
Kompromisslose Egopolitik funktioniert nicht (mehr)
Gleich zwei „Political Animals“ – nämlich BSW-Chefin Sahra Wagenknecht und FDP-Chef Christian Lindner – haben am Sonntag eine Niederlage eingefahren.
Wagenknecht, seit 1989 in der Politik und jahrelang eine Galionsfigur der Linkspartei, die das Abrutschen ihrer Ex-Partei in identitätspolitischen „Gender-Wahn“ brandmarkte, hat mit dem BSW eine linkskonservative Kraft ins Europaparlament und die Landtage im Osten geführt. Die Inhalte – nein zu Waffenlieferungen an die Ukraine, für russisches Gas und höhere Pensionen – sind nicht Grund für das Scheitern der Partei. Dafür gibt es, vor allem in ostdeutschen Bundesländern, Zustimmung. Eher lag es an der Person Wagenknecht selbst: Die Partei ist auf sie ausgerichtet, andere bundesweit bekannte Gesichter gibt es nicht. Neue Mitglieder nimmt das BSW nur auf, wenn die Bundesspitze sie abgesegnet hat. Bei den Regierungsverhandlungen in den ostdeutschen Bundesländern mischte sie aus Berlin mit. Abtreten will Wagenknecht, auch wenn sie vor der Wahl noch anderes angedeutet hatte, nicht.
Bei Christian Lindner ist es ähnlich. Die Partei hat er sehr streng geführt, sie zur Ein-Mann-Partei umfunktioniert, inhaltlich hat er sie dabei aber ausgehöhlt – neben Lindners Lieblingswort „Liberalismus“ konnte die FDP im Wahlkampf nicht viel anbieten, vor allem keine schlüssigen Konzepte. Dass er – auch wenn er es abstreitet – die Ampel absichtlich gesprengt hat, hat ihm auch nicht genützt: In politisch instabilen Zeiten wählen die Menschen offenbar keinen Hasardeur.
Sahra Wagenknecht am Montag nach der Niederlage.
Die Jungen wählen die Ränder
Wären nur die unter 25-Jährigen wahlberechtigt gewesen, wäre die Linke stimmenstärkste Partei geworden – mit 25 Prozent, gefolgt von der AfD mit 21 Prozent. Die Veränderung zur letzten Bundestagswahl 2021 ist enorm: Damals waren Grüne und FDP unter den Jungwählern die beliebtesten Parteien mit ähnlichen Werten. Die „alten“ Großparteien Union und SPD kommen bei ihnen nur auf 13 und 12 Prozent.
Der Trend zu den Rändern hatte sich schon bei der Wahl zum Europaparlament vor einem Jahr abgezeichnet. Das dürfte nicht nur an der Social-Media-Präsenz der Parteien liegen – auch wenn diese maßgeblich zum Erfolg beigetragen hat: Beide Parteien sind nicht nur während des Wahlkampfs mit glaubwürdigen Persönlichkeiten im Netz vertreten, können aus der Opposition und ohne Aussicht auf Regierungsbeteiligung mit emotionalen Videos gegen die Regierung schießen. Und Emotionen wie Wut und Empörung verbreiten sich im Netz bekanntlich schneller. Der Erfolg bei den Jungen ist aber auch der schwachen, personellen Ressourcen der Großparteien geschuldet: Ein überzeugender, jungen Nachwuchskandidat, der Jungwähler anspricht, fehlt diesen.
Die Deutschen haben wieder Interesse an Politik
82,5 Prozent der Wahlberechtigten sind am Sonntag zur Urne gegangen, so viele wie seit 1987 nicht mehr. Das ist ein wirklich gutes Zeichen – die Menschen sind wieder an Politik interessiert, sie wenden sich nicht mehr ab, und das trotz geopolitisch extrem schwierigen Zeiten. Mobilisiert hat die Nichtwähler allerdings hauptsächlich die AfD: Mehr als zwei Millionen Bis-dato-Nichtwähler haben die Rechtspopulisten gewählt.