Startseite TOP Selbstversuch: Unter Möchtegern-Dschihadisten und Neo-Nazis

Selbstversuch: Unter Möchtegern-Dschihadisten und Neo-Nazis

von Max

IS-Propaganda, Hitler-Kult, Aufrufe zu Gewalt: Auf TikTok und Telegram verbreiten sich extremistische Inhalte rasant – immer mehr Jugendliche radikalisieren sich dadurch. Unser Selbstversuch zeigt: Der Weg in radikale Bubbles ist erschreckend kurz.

„Es ist dir erlaubt, Ungläubige in Wien zu töten”, sagt uns A. während eines Videocalls auf Telegram. Eine Sturmmaske verdeckt sein Gesicht, in seinem Zimmer hängt eine IS-Flagge an der Wand. Aufgrund seiner Ideologie war er sogar im Gefängnis, meint er. Seine Stimme bleibt ruhig, fast stolz, als er davon erzählt. „Der Dschihad geht weiter. Ich kenne viele Brüder, die so denken wie ich.“ Offiziell gilt er als deradikalisiert – von den deutschen Behörden, wie er uns prahlerisch mitteilt. Wir haben A. auf TikTok kennengelernt – unsere echte Identität kennt er nicht, er denkt, er spricht mit einer 17-jährigen Konvertitin.

Vom ersten Klick bis zu unserem Gespräch mit A. vergehen keine vier Tage. Er will uns mit „Brüdern und Schwestern mit gleicher Gesinnung“ in Wien connecten – sie alle glauben an ein Wiedererstarken des sogenannten Islamischen Staats. A. schickt uns per Telegram IS-Propaganda-Videos, will wissen, wo wir sind, was wir machen und warum wir nicht sofort antworten. Schnell wird uns klar: Er spielt sich auf, will „cooler“ und stärker wirken, als er ist – wenig überraschend. Er gibt aber nicht auf. „Du bist so naiv und süß, das gefällt mir – wenn wir uns besser kennenlernen, können wir im Sommer heiraten“, schreibt er weiter. Da wird uns das Ganze doch zu unheimlich.

Das ging schnell. Zu schnell. Was, wenn hinter unserem Fake-Account wirklich eine 17-jährige, verunsicherte, manipulierbare junge Frau gesteckt hätte?

Rechtsextreme Taten nehmen zu

Seit 11. April sitzt ein 18-jähriger mutmaßlicher IS-Anhänger in U-Haft – er soll einen Anschlag auf die Israelische Botschaft sowie das Islamische Zentrum in Wien geplant haben. Im Februar tötet in Villach ein 23-jähriger Syrer einen erst 14-Jährigen im Namen des IS. Zuvor wird ein Anschlag am Wiener Westbahnhof, geplant von einem 14-jährigen Österreicher, vereitelt. Im März schockieren die „Hate Crime“-Razzien in der rechtsextremistischen Szene: 14- bis 26-jährige Männer und Frauen sollen Homosexuelle mit Fake-Accounts auf Social Media angelockt und daraufhin schwer misshandelt haben – bis hin zum Mordversuch. Bei den Hausdurchsuchungen werden Waffen und NS-Devotionalien gefunden.

Die rechtsextremen Straftaten in Österreich haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen (siehe Infos & Quellen). Im Jahr 2023 blieb die Zahl dschihadistisch motivierter Straftaten in Österreich auf einem niedrigen Niveau, aber laut dem Verfassungsschutzbericht der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) steigt vor allem die Online-Propaganda, was zu einer verstärkten Radikalisierung, auch an Schulen, führt. Was die islamistischen und rechtsextremen Gruppen verbindet: Die Täter:innen sind erschreckend jung. Und sie radikalisieren sich dort, wo sie sich ohnehin am meisten aufhalten – auf Social Media. Wir wollten wissen, wie das funktioniert und machen daher einen Selbstversuch: Wie schnell geraten wir in islamistische und rechtsextremistische Bubbles?

Die Nazi-Szene und ihre Codes

Nach unserem Videotelefonat mit A. schauen wir uns die rechtsradikale Online-Szene an. Diesmal nennen wir uns „Heimatmädel“. Die Inhalte auf TikTok und Telegram sind mindestens genauso verstörend. Innerhalb weniger Minuten stoßen wir auf Videos, die Adolf Hitler glorifizieren. Hitler als Baby, Hitler am Rednerpult. „Er ist süß“, „Ich vermisse unseren Führer“ steht in den Kommentaren. Auffällig oft bedienen sich die Nutzer:innen bestimmter Codes und Emojis. „88“ steht für den verbotenen Gruß „Heil Hitler“, da die Acht den achten Buchstaben im Alphabet, also das H, repräsentiert. Die „14“ verweist auf das rassistische „Fourteen Words“-Bekenntnis: „We must secure the existence of our people and a future for white children.“ Hinzu kommen Emojis wie winkende Personen (Hitlergruß), Blitze (SS-Zeichen), Hakenkreuze oder drei Kreise in Schwarz, Weiß und Rot – den Farben der Flagge des Deutschen Reichs. Auf Telegram nennen sich die Kanäle „Atomwaffen Division“ oder „National Socialist Brotherhood“: Hier werden Gewaltfantasien geteilt, es wird mit Waffen posiert. In Deutschland bilden sich immer neue Neonazikameradschaften. Sie vernetzen sich, wie könnte es auch anders sein, online.

Schnell ist unser Algorithmus gedrillt. Wir bekommen (Neo-)Nazi-Propaganda en masse ausgespielt: von Springerstiefeln und SS-Uniformen über romantisierte Hitler-Edits bis hin zu Eso-Natur-Heimatliebe-Content; die Bandbreite ist groß. Die Inhalte sind untermalt mit „Sieg Heil“-Rufen und Nazi-Liedern. Die Personen hinter den Profilen haben auch bei Fragen immer eine Antwort parat. Fragt jemand in den Kommentaren beispielsweise, was denn Mauthausen ist, bekommt man die Antwort: „Eine von den Juden ausgedachte Lüge.“ Wir schreiben eines der Profile an, das vorgibt, ein junger Mann aus Deutschland zu sein. Sein Profilbild ist ein Adler, er nennt sich H. „Coole Edits“, schreiben wir ihm mit unserem Fake-Account. Er bedankt sich, nach einem kurzen Smalltalk bekommen wir folgende Nachricht: „Hitler hat ein paar Juden übriggelassen, damit die Nachwelt sieht, was die alles anrichten. Wir müssen jetzt weitermachen, was er begonnen hat. Bist du dabei?“

Als wir fragen, was genau er damit meint, kommt keine Antwort mehr, am nächsten Tag ist sein Profil verschwunden – vermutlich von TikTok gesperrt, wie übrigens auch die meisten der rechtsextremen Inhalte. Wir kommen mit dem Speichern und Screenshoten kaum mehr nach, aber wenn ein Profil verschwindet, poppen direkt zehn neue auf.

Tatsache ist: Social-Media-Plattformen machen extremistische Inhalte leichter zugänglich. „Jugendliche finden online oft einfache Antworten auf komplexe Fragen. Bei manchen Themen dominieren radikale Sichtweisen“, erzählt uns Verena Fabris, Leiterin der Beratungsstelle Extremismus. Alternativer, progressiver Content sei als Gegenpol wichtig. Dafür sieht sie auch die Jugendarbeit gefordert, außerdem benötige es Maßnahmen zur Steigerung der Medienkompetenz.

Für tatsächliche Radikalisierung brauche es aber mehr als den bloßen Online-Konsum. „Es gibt fast immer eine Offline-Komponente, also reale Personen, die eine Rolle spielen“, erklärt Fabris. Die Beratungsstelle wurde 2024 von 720 Personen kontaktiert, etwa ein Viertel davon sind Angehörige. Die zweitgrößte Gruppe sind Sozialarbeiter:innen, gefolgt von Lehrer:innen. 43 Personen waren selbst in extremistischen Gruppierungen aktiv.

Einmal drin, schwer wieder raus

Zurück zu unserer Recherche im rechten Milieu: Innerhalb kürzester Zeit landen wir in Telegram-Kanälen, in denen Holocaustleugnung und Hitlerverherrlichung an der Tagesordnung stehen. Die anfängliche Verwunderung über die Inhalte weicht relativ schnell: Wir gewöhnen uns nach ein paar Tagen daran, können selbst nicht mehr differenzieren, welche Inhalte verboten oder in höchstem Maße problematisch sind – auch, weil sie eben unter dem Deckmantel der für TikTok typischen romantisierten Edits stattfinden.

Wie muss es dann erst Jugendlichen gehen, die zufällig in diese Bubbles geraten? Die sich wirklich nicht auskennen und auf den ersten oder auch zweiten Blick nicht verstehen, welche Propaganda diese Kanäle verbreiten? Immerhin: Unser „Heimatmädel“-Profil wird innerhalb weniger Tage von TikTok gesperrt – jetzt bekommen wir die Inhalte aber auf unseren eigenen TikTok-Accounts ausgespielt.


Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen, dir ist ein Fehler aufgefallen oder du hast Hinweise für uns – sag uns deine Meinung unter [email protected]. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.


Infos und Quellen

Genese

Immer mehr Jugendliche radikalisieren sich über TikTok. Wir wollten wissen: Wie schnell geht das? Wie leicht gerät man in extremistische Bubbles? Es ging erschreckend schnell.

Gesprächspartner:innen

Daten und Fakten

  • Der sogenannte Islamische Staat (IS) ist eine dschihadistische Terrororganisation, die 2014 ein selbsternanntes Kalifat in Teilen Syriens und des Iraks ausrief. Er entstand aus Al-Qaida im Irak und nutzte extreme Gewalt, um Gebiete zu kontrollieren und eine radikale Interpretation des Islam durchzusetzen. Der IS verübte Massenmorde, Anschläge auf der ganzen Welt und versklavte unzählige Menschen – diese Taten wurden als Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Durch internationale Militärinterventionen verlor er bis 2019 sein gesamtes Territorium, blieb aber als Untergrundbewegung aktiv. Heute agiert der IS vor allem durch Schläferzellen, Online-Propaganda und Ablegergruppen in verschiedenen Regionen der Welt.

  • In Österreich gebe es eine „niedrige dreistellige Zahl an Hochrisikogefährdern“, die potenziell bereit sind, Gewalt anzuwenden, sagt DSN-Chef Omar Haijawi-Pirchner in der ORF-Nachrichtensendung ZIB 2. Beobachtet würden etwa 650 Personen im islamistischen Bereich.

  • Die rechtsextremen Straftaten in Österreich haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Im Jahr 2024 wurden insgesamt 1.486 rechtsextreme Tathandlungen registriert, was einem Anstieg von fast 23 Prozent im Vergleich zu 2023 (1.208 Taten) entspricht. Hauptmotive waren Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, wobei etwa ein Fünftel der Straftaten online begangen wurde. Die Zunahme wird auch auf die Verschärfung des Verbotsgesetzes zurückgeführt.

  • Mit der Novelle des Verbotsgesetzes 2023 wurden die Strafen für nationalsozialistische Wiederbetätigung gestaffelt und deutlich verschärft. Jede Verharmlosung des Holocaust ist jetzt strafbar, unabhängig davon, wie „gröblich“ sie ist. Außerdem können künftig auch im Ausland begangene NS-Verherrlichungen strafrechtlich verfolgt werden. Neu ist auch, dass Beamt:innen bei einer Verurteilung automatisch ihren Job verlieren und NS-Propagandamaterial leichter eingezogen werden kann.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien

über uns

Wp logo2

Damit wir Ihnen möglichst schnell weiterhelfen können, bitten wir Sie, je nach Anliegen über die hier genannten Wege mit uns in Kontakt zu treten.

Aktuelle Nachrichten

Newsletter

2020-2022 – Wiener Presse. Alle Rechte vorbehalten