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Sexuelle Gewalt ist ein fixer Teil des russischen Besatzungsregimes.

von Max

In Halynas Haus und Garten ist nichts dem Zufall überlassen. Die Büsche sind gestutzt, die Rosen geschnitten, die Böden poliert. Halyna lebt in Irpin – eine Frau wie das Haus, in dem sie lebt: eine Dame in ihren frühen 60ern, gepflegt, die Haare modern kurz, hageres Gesicht, saubere, gediegene Garderobe, dezentes Makeup. Nach Kiew ist es eine halbe Autostunde. Irpin aber ist ein Ort zwischen Wald und Wiesen, in dem man die Vögel zwitschern und Menschen lachen hört, wenn sich die Sonne neigt. Seit dem Frühjahr 2022 aber ist Irpin vor allem auch eines: ein Tatort. Und so steht Halyna im Sand zwischen den Häusern, deutet auf den Feldweg in Richtung Wald: Da hatten die Russen ihre Gräben. Dort, das rosa Haus, das war der russische Kommandoposten. Und um Halynas Haus herum, da standen die Panzer. Den Weg mit den tiefen Spurrinnen, der heute am Gartenzaun entlang verläuft, den habe es nicht gegeben, erzählt sie. Den haben die Panzer hier vor ihrem Küchenfenster in den Boden gedrückt. Und seit diesen Tagen im Frühjahr 2022 gibt es auch dieses eine bestimmte Zimmer in ihrem Haus.

Spuren der Kämpfe sind beseitigt

Es wird gehämmert, es wird saniert in Irpin. Da sind noch die ausgebrannten Panzer entlang der Straße, die hierherführt. Da sind Reste der Gräben, da ist der Müll im Wald. Aber die Häuser, in die die Russen zum Spaß oder aus Langeweile hineingefahren sind mit den Panzern, wie Halyna erzählt, die sind wieder aufgebaut, die Spuren der Kämpfe sind beseitigt. Die Nachbarn sind wieder da. Aber es gibt Dinge, die lassen sich nicht reparieren wie ein Gebäude oder eine Straße. Das sind Dinge, die lassen sich auch nicht in ein Zimmer sperren. „Die Leute verstehen es nicht“, sagt Halyna. Manche würden sagen, sie solle doch aufhören, davon zu erzählen. Und da seien auch die, die ihr direkt ins Gesicht sagten, sie solle sich schämen.

Irpin ist zusammen mit Bucha, Hostomel und Borodjanka einer der Orte, in denen schon im Frühjahr 2022 klar geworden ist, welche Gewalt Russland bereit ist, in der Ukraine anzuwenden. Das sind die Orte, in denen nach der Befreiung die ersten Massengräber und Folterkeller aufgetaucht sind. Das sind die Orte, in denen nach der Befreiung die Leichen vergewaltigter Mädchen gefunden wurden, die ihre Peiniger wie Müll aus Fenstern in Hinterhöfe geschmissen hatten. Es waren auch die Orte, aus denen es kaum ein Entkommen gab, weil die Russen wahllos auf Zivilist:innen schossen. In Irpin, Bucha und Hostomel töteten die russischen Besatzer mindestens 700 Zivilist:innen. Und Halyna: Die war mittendrin in dem Ganzen, hat den Wahnsinn rundum durch einen Spalt in den Jalousien vor ihrem Küchenfenster verfolgt.

Folter, Verschleppungen, Vergewaltigungen

Bis zu diesem einen Tag. Da standen zwei Soldaten vor dem Haus, zwangen sie, sich nackt auszuziehen. Einer der Männer sei davongelaufen, erzählt sie. Der andere hat sie ins Haus, in dieses eine Zimmer gedrängt und auf das Sofa unter der Wand mit den Fotos ihrer Enkeltochter gezwungen.

Mehr als zwei Jahre sind seit der Befreiung der Gebiete vergangen. Und mit jedem neuen Gebiet, das die ukrainische Armee seither von russischer Okkupation befreien konnte, ist klar geworden: Was in Irpin, Buch, Hostomel und Boordjanka erstmal sichtbar geworden ist, hat System. Folter, Verschleppungen, Vergewaltigungen, Erschießungen – all das hat Methode, ist fixer Teil des russischen Besatzungsregimes. Hunderte ähnliche Fälle wie der Halynas sind seither angezeigt worden. Von Tausenden wird ausgegangen.

Die Psychologin Oksana Korolowych, die selbst mit Opfern sexueller Gewalt arbeitet, sagt: „Wo Okkupation ist, da ist sexuelle Gewalt. Das ist eine der Methoden, dir wir beobachten.“

Der jüngste Bericht der „Unabhängigen internationalen Untersuchungskommission zur Ukraine“ der UNO kommt zu dem Schluss, dass russische Behörden Folter und sexuelle Gewalt systematisch anwenden. Die Autor:innen des Berichts kamen wörtlich zu dem Schluss, dass anzunehmen sei, „dass es eine klare Politik und systematische Art und Weise gibt, in der Folter praktiziert wird“. Mittlerweile gebe es auch nähere Anhaltspunkte, welche Einheiten in solche Verbrechen besonders involviert sind. Die Folge ist eine noch nicht einmal im Ansatz auszumachende Anzahl an Opfern.

Oksana Korolowych steht in Kontakt mit Mediziner:innen in von Russland besetzten Gebieten. Sie sagt: „Es ist Alltag geworden.“ Ab einem gewissen Punkt seien Ärzt:innen in Spitälern dazu übergegangen, nur mehr die somatischen Folgen von Vergewaltigungen zu behandeln, weil es so viele geworden sind. Sie selbst arbeite mit Familien, die unter Okkupation gelebt haben. „All diese Familien haben Erfahrungen damit, haben erlebt, dass die Frauen in der Familie vergewaltigt worden sind oder die ganze Familie mitsamt Ehemännern und Kindern und all das zum Teil auch mehrmals.“

Spießrutenlauf für Opfer

Für die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden bedeutet das in Folge eine kaum zu bewältigende Anzahl an Fällen. Vor Gericht anhängig sind nur einige Hundert Vergewaltigungsfälle. Das sind allerdings lediglich jene, die medizinisch dokumentiert sind – und vor allem auch solche, in denen sich die Opfer solcher Verbrechen aus der Deckung gewagt haben. Denn da ist vor allem eine Hürde: Stigma, Scham und nicht zuletzt die Verfahrensprozedur in solchen Fällen.

Das ist der Punkt, an dem Halyna die Tränen kommen. Dagestanden sei sie, fiebernd, zitternd, das Blut aus ihrem Unterleib laufend. Und sie sei befragt worden, als gehe es um einen Hühnerdiebstahl.

Halyna hat Anzeige erstattet, hat ihren Fall geschildert. Nicht nur einmal. Rechtshilfe bekommt sie von der NGO „Eastern Ukrainian Center for Civic Initiatives (EUCCI), ehemals aus Luhansk, seit 2014 in Kiew ansässig und seit 2016 Partner des Zivilen Friedensdienstes in der Ukraine. EUCCI ist Teil eines größeren Zusammenschlusses von 17 Menschenrechtsorganisationen, die Dokumentations- und Aufklärungsarbeit leisten, aber auch Rechtshilfe stellen. Das Zentrum hat Aussagen von Opfern auch an den Internationalen Strafgerichtshof ICC weitergegeben.

Es gehe darum, Opfer solcher Verbrechen zu Subjekten zu machen, nicht zu Objekten, so Nadia Nesterenko von der EUCCI. Da geht es um ganz praktische Hilfe: Opfern steht zum Beispiel eine Entschädigung zu. Oft sind auch teure medizinische Behandlungen nötig. Viele Opfer von Vergewaltigungen haben wegen massiver physischer Gewalteinwirkung zum Beispiel keine Zähne mehr, was wiederum Folgen für das soziale sowie berufliche Leben hat. Um Behandlungen zu bekommen, muss ein Fall aber dokumentiert sein. Und die Handhabe solcher Fälle sei eben alles andere als opfer-zentriert gewesen, so Nadia Nesterenko. Eine Reform des Verfahrensweges gab es. Und einiges, so Nesterenko, funktioniere heute definitiv besser als zuvor.

Sprachlosigkeit

Sie habe irgendwann einmal gegenüber einem russischen Soldaten erwähnt, dass sie aus Kramatorsk in der Ostukraine komme, erzählt Halyna. 2014, als der Krieg losging, war sie von dort weggezogen mit ihren Töchtern. Die Reaktion des Soldaten war wütend. Wieso sie zu den Ukrainern und nicht zu den Russen gegangen sei? Sie hebt die Hände, erzählt, wie sie als Schulkind in Russland wegen ihres ukrainischen Akzents von der Lehrerin gemaßregelt und gezwungen wurde, sich Galyna und nicht Halyna zu nenne. Ihre Mitschüler:innen hätten sie als Chochol (russisches Schimpfwort für Ukrainer) beschimpft. Dem Soldaten habe sie gesagt: „Weil ich bin Ukrainerin.“

Dort, wo das Sofa stand, ist heute eine leere Wand. Die Decken, die sie über das Möbel geworfen hatte, hat sie weggeschmissen. Die Bilder ihrer Enkeltochter hängen nach wie vor da. Aufnahmen eines Kindes, wie es aufwächst: ein Baby, ein Kleinkind, ein Schulkind. Sie kennt Halynas Geschichte nicht. Und auch mit ihren Töchtern spricht sie nicht darüber, was geschehen ist. Und dann: Schweigen.


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Infos und Quellen

Genese

Halyna ist eine der wenigen Frauen, die sich getraut haben, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Denn die Probleme, auf die Opfer sexueller Gewalt stoßen, sind mannigfaltig: Da sind soziale Stigmata, da ist vor allem aber auch die eher wenig Opfer-zentrierte ukrainische Verfahrensordnung. Halyna erhält Hilfe in diesem Hürdenlauf vom „Eastern Ukrainian Center for Civic Initiatives“ (seit 2016 Partner des deutschen Zivilen Friedensdienstes), das den Kontakt hergestellt hat. Getroffen habe ich sie in ihrem Haus in Irpin.

Daten und Fakten

  • Die russische Führung hat in der Vergangenheit Straftäter aus Gefängnissen für den Einsatz in der Ukraine rekrutiert. Seit September ist es möglich, dass sich Angeklagte vor ihrer Verurteilung zur Armee melden. Es gibt Berichte, wonach sich unter den Freigelassenen auch Serienmörder und Vergewaltiger befinden.

  • Aus Mangel an Soldaten lässt auch die Ukraine Strafgefangene zum Militärdienst zu. Verurteilte Schwerverbrecher dürfen sich aber nicht melden, berichten ukrainische Medien.

  • Die finnische Bestsellerautorin Sofi Oksanen legt mit „Putins Krieg gegen die Frauen“ einen Essay vor, in dem sie zeigt, wie Gewalt gegen Frauen und sexualisierte Gewalt als Waffe eingesetzt wird.

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