Psst! Leise sein! Handy weg!
Es ist faszinierend, wie unmittelbar das kleine Marienbild, das einem schon durch die Tür des Sonderausstellungsraums der National Gallery in London entgegenleuchtet, Andächtigkeit erzeugt. Und zwar auch dann, wenn man selbst keine Religion praktiziert und von der Idee, in einem Bild könnte sich die spirituelle Anwesenheit der Dargestellten zeigen, erst recht weit entfernt ist.
Eindrücklich: „Siena: The Rise of Painting“
Dass die Exponate in der Ausstellung „Siena: The Rise of Painting“ eine solche Wirkung entfalten, hat zweierlei Gründe: Die Werke sprechen einerseits direkt an und fordern die innige Auseinandersetzung, für die sie ursprünglich bestimmt waren, heraus.
Sie sind aber auch, mittels Licht, Rahmung und der Platzierung inmitten eines tiefblauen Raums, auf eine Weise inszeniert, die mehr mit einem Theater zu tun hat als mit einer Kirche oder Kapelle. Es sind Bilder, die an einer Schwelle stehen – zwischen religiöser Praxis und dem, was wir „Kunst“ nennen.
Hoch gelobt: Von New York nach London
Die Ausstellung, die nach einer bejubelten Laufzeit im New Yorker Metropolitan Museum nun in der britischen Hauptstadt zu sehen ist, verfolgt mit ihrer hervorragenden Gestaltung zwei Ziele: Sie liefert ein Schaustück, wie eine Kunstepoche, die lange Zeit im Schatten berühmterer Stilentwicklungen stand, für ein neues Publikum attraktiv gemacht werden kann.
Und sie will die Kunstgeschichtsschreibung ein Stück weit zurechtrücken. Denn in der gängigen Vorstellung schlug die Geburtsstunde der Kunst, die über die religiösen Anforderungen hinaus auf Lebensnähe, virtuose Ausführung und individuelle Erfindungsgabe zielte, in Florenz und nicht im 65 km weiter südlich gelegenen Siena.
Siena first!
Doch der Stadtstaat, an einer wichtigen Pilgerroute nach Rom gelegen und im 13. Jahrhundert ein europäisches Finanzzentrum, war in vieler Hinsicht Vorreiter, wie die Kuratorinnen argumentieren.
Die Künstlerschaft profitierte von Aufträgen der Stadtverwaltung und von durchreisenden Pilgern und Klerikern, vor allem aber vom Bau des Doms, wo 1311 das größte Altarbild enthüllt wurde, das in Europa zu jener Zeit existierte: Die „Maestà“.
Duccio di Buoninsegna, der Schöpfer des Werks, hatte sich in einer ungewohnt selbstbewussten Art auf jenem Thron verewigt, auf der im Bild Maria mit dem Jesuskind sitzt: „Heilige Muttergottes, sei du der Grund des Friedens für Siena und für das Leben Duccios, der dich so gemalt hat“, heißt es da.
Das zentrale Marienbild ist nicht Teil der Schau, es verlässt das Dommuseum in Siena nicht mehr. Doch die acht Bildtafeln, die den Angelpunkt des Londoner Parcours bilden, verdeutlichen die grundsätzliche Weichenstellung: Einst in der untersten Zone (Predella) auf der Rückseite der „Maestà“ platziert, waren die Szenen aus dem Leben Jesu individuelle Begegnungspunkte für Gläubige, und sie waren und bleiben lebendig und lebensnah.
1777 wurde das Werk zersägt – 33 Teile sind heute, verteilt auf fünf Länder, erhalten. Die Tafeln der Predella werden nun erstmals wieder nebeneinander gezeigt. Ausgehend davon führen Wege zu anderen Highlights der sienesischen Kunst, wobei kaum ein Objekt in der Schau steht oder hängt, das nicht klar etwas zu erzählen hat: Eine Sektion mit einem Reliquiar, einem Teppich und einem Bischofsstab deutet auf den kultischen Zusammenhang und das Kunsthandwerk, mit dem sich die Maler messen mussten. Insbesondere die Goldschmiedekunst trieb sie zu detaillierten Vergoldungen und Prägungen ihrer Bilder.
Eine Reihe von fünf Heiligenbildern, die Simone Martini – Sienas „Malerstar“ in der Generation nach Duccio – 1327 im Auftrag der Stadtverwaltung schuf, deutet auf einen neuen Umgang mit Bildern: Nicht mehr in einem Ensemble fixiert, konnten die Tafeln je nach Bedürfnissen der Stadtregierungsmitglieder umarrangiert werden.
Malerei an der Spitze
Hier liegt auch die Kernaussage, auf die der Titel „The Rise of Painting“ – „der Aufstieg der Malerei“ – zielt: „Es ist der Moment, in dem die Malerei in den Vordergrund tritt und zur begehrtesten Kunstform unter den Eliten Europas wird“, wie es Kuratorin Laura Llewellyn ausdrückt.
Dass Europa im ausgehenden Mittelalter bestens vernetzt war, belegen viele Objektpaarungen – so wiederholt das Stundenbuch des Duc de Berry, ein Meisterwerk gotischer Buchkunst, eine Kreuzigungsszene von Simone Martini, der in seiner späteren Karriere am Papstsitz in Avignon tätig war.
Die Schau verschweigt aber nicht, dass wir aus Distanz auf diese Zeit blicken, sie nimmt die Bilder nicht für einen „europäischen Gedanken“ oder ähnliche zeitgenössische Projektionen in die Pflicht. Was ihr gelingt, ist, jahrhundertealte Objekte zum Strahlen zu bringen. Ungeachtet aller religiösen und politischen Bedeutungen besitzen sie nämlich auch eine Schönheit, die nicht vergeht.