Es begann, als sich der Vorhang hob, noch ehe der erste Ton aus dem Orchestergraben eingesetzt hatte, mit einem Ruf von der Galerie: „Schön“. Dass das zynisch gemeint war, wusste man, weil viele im Publikum lachten.
Es endete mit einem gegen den Regisseur Kirill Serebrennikow gerichteten Buhkonzert, das ihm nicht allzu viel auszumachen schien, hatte er wohl erwarten müssen aufgrund seiner Interpretation.
Und dazwischen, nach Ende des dritten Aktes, also unmittelbar vor der großen Arie der Elisabeth, „Tu che le vanita“, setzte ein derart heftiger Protest ein, dass Dirigent Philippe Jordan zu einer Geste griff, die es wohl noch nie in der Wiener Staatsoper gegeben hatte: Er nahm ein weißes Tuch, spießte es mit seinem Taktstock auf und schwenkte es wie ein Friedensangebot Richtung Zuschauerraum. Das weiße Tuch, das Symbol für den Ruf nach Kapitulation.
Was war passiert?
„Don Carlo“, für viele eines der größten Meisterwerke der Musikgeschichte, wird diesmal in einem von einem Originalschauplatz in Kyoto inspirierten Institut für Kostümkunde angesiedelt. Die Protagonisten sind Angestellte des hochkomplexen und sterilen Modemuseums, in dem -zigtausende Originalkleider aus allen Epochen aufbewahrt werden. Für diese Aufführung der Oper von Giuseppe Verdi werden nun die Originalkostüme aus dem 16. Jahrhundert ausgepackt. Die Staatsoper hat diese nachbauen lassen, sie sind traumhaft schön.
Tragen dürfen die Kostüme aber nicht die Sängerinnen und Sänger, sondern nur Models, die deren Doubles spielen. Diese werden immer wieder von Helfern an- und ausgezogen, man sieht, wie schwierig das damals gewesen sein muss, in den Kostümen können sie sich dann kaum bewegen und erstarren.
Die Idee hätte durchaus Potenzial, wenn auch wohl nicht für eine Operninszenierung. „Don Carlo“, jenes Werk, das symptomatisch steht für den Konflikt zwischen äußerer (politischer) und innerer Welt, zwischen Stärke und Zerbrechlichkeit, zwischen Macht und Ohnmacht, ist per se eine Oper mit zwei Ebenen. Serebrennikow kann dadurch die Figuren in ihrer ganzen Spießigkeit und Banalität zeigen, wenn sie in die Privatsphäre der Liebenden und Leidenden zurückgeworfen werden. Und er kann die simplen Gestalten mit den fast regungslosen Figuren, zu denen sie in der Ausübung ihrer historischen Rolle werden sollten, kontrastrieren.
Kleider machen Leute – ein spanischer König ist nur einer mit Halskrause, mit Anzug von der Stange und brauner Aktentasche bleibt wenig von ihm übrig. Und Macht macht bewegungslos, geistig wie physisch, am gestrengen spanischen Hof besonders. Wir haben es dann nicht mehr mit Menschen zu tun, sondern mit reinen Kunstfiguren, ja sogar mit Marionetten. Nicht der König herrscht, sondern seine Pluderhose.
Man kriegt den Gedanken des Regisseurs, den philosophischen Überbau, ganz gut. Und man versteht auch, dass Serebrennikow einen Schritt ins Heute geradezu machen muss. Der geht bei ihm in Richtung Fast Fashion, Überproduktion, Wegwerfmode – damit rechnet er heftig ab. Der Marquis von Posa kämpft diesfalls nicht für Flandern, sondern gegen Billigfetzen, die nur Müllberge verursachen. Und damit es dem Publikum recht schön weh tut, sieht man beim Autodafé auf der Bühne den Shoppingwahn der Choristen, der arme Posa muss sein „Libertà“-T-Shirt aus- und ein Sakko anziehen, für ihn die Höchststrafe wie die Inquisition. Fast schon logisch, dass die Letzte Generation auftaucht und somit diese Neuproduktion auch zeitlich klar verankert. Schade drum.
Wenn die Aufständischen dann am Ende des dritten Aktes das Gefängnis des Don Carlo stürmen, wird nach dem Tod seines Freundes Posa mit Billigmode geworfen und die Bühne übersäht. Die Folge: Siehe oben, ein Aufruf zum Frieden.
Alles durchdacht, was man sieht. Und passt manchmal gar nicht schlecht zusammen, wenn etwa beim Seelenstriptease der Sänger deren Alter Egos nackt ausgezogen werden.
Aber insgesamt funktioniert dieser Ansatz musiktheatralisch gar nicht. Dieser „Don Carlo“ ist szenisch der denkbar langweiligste. So langweilig wie das Warten im Stau, bis ein Klimakleber wieder losgelöst wurde. Mit wenig Interaktion, mit permanenter Ablenkung vom eigentlichen Fokus, mit einer Kälte und Gefühllosigkeit auf der Bühne, die Proteste geradezu herausfordert, zumeist im hässlichen Neon-Licht, sodass nie Atmosphäre aufkommt.
Wer „Don Carlo“ nicht kennt, wird hier nichts verstehen. Und wer „Don Carlo“ gut kennt, wird empört sein, dass dieses himmlische Stück so entstellt wird, dass die Musik so stark in den Hintergrund gedrängt wird. Völlig ideologiefrei sei festgehalten: Diese Inszenierung ist nicht zu modernistisch, sie ist einfach zu wenig gut. Wenn, dann hätte man für diesen Ansatz mehr psychologische Tiefe gebraucht. Serebrennikow, ein erstklassiger politischer Regisseur, ist mit diesem Irrläufer zum Scheitern verurteilt. Von ihm hätte man sich eine heftigere Abrechnung mit Macht und Diktatoren erwartet. Aber wahrscheinlich will er nicht immer in dieselbe Richtung gehen. Dann ist jedenfalls „Don Carlo“ das falsche Werk.
Philippe Jordan versucht am Pult des farbenprächtig, präzise, fein differenziert spielenden Staatsopernorchesters die auf der Bühne fehlende Emotion möglichst wettzumachen. Er ist ein fabelhafter Gestalter, der auf Sensibilität statt auf Kraftmeierei setzt, der mit den Sängern atmet und den Chor zumeist im Griff hat. Wie schon beim französischen „Don Carlos“ während seiner Tätigkeit als Musikdirektor der Pariser Oper, wo Jonas Kaufmann als Titelheld sowie Elina Garanča als Eboli debütiert hatten, ist sein Dirigat meisterhaft. Leider stehen ihm diesmal, bei der vieraktigen italienischen Fassung von 1884, nicht nur herausragende Sänger zur Verfügung.
Die mit Abstand Beste ist Asmik Grigorian als Elisabeth – auch wenn diese Partie bei ihrem Debüt noch nicht ihre beste sein kann. Sie ist als leidende Königin eine starke Persönlichkeit mit wunderschönem Timbre, guter Höhe und sowohl in den lyrischen Passagen, in den Duetten mit Don Carlo, als auch in den dramatischeren Ausbrüchen eine Topbesetzung.
Joshua Guerrero hat einen recht eindimensionalen Tenor als Don Carlo, eine gute Höhe, nicht die größte Präzision und wenig Power in den tieferen Lagen. Vor allem aber forciert er zu stark, ein jugendlicher Liebhaber halt.
Eve-Maud Hubeaux ist eine sehr schön und ausdrucksstark singende, nicht allzu dramatische Eboli. Étienne Dupuis ist ein solider Marquis von Posa, der bei seinem Ende etwas an seine Grenzen stößt. Roberto Tagliavini kommt als Philipp II. an große Vorbilder dieser Rolle nicht einmal annähernd heran, dafür fehlt es ihm an Kraft in der Tiefe und an Leidenschaft im Ausdruck. Von Dmitry Ulyanov als Großinquisitor geht viel zu wenig Bedrohung aus, sein Duett mit Philipp war das gemütlichste seit langem, man soll ja nicht so laut singen im Modemuseum. Die kleineren Rollen sind gut besetzt.
Ein neuer „Don Carlo“ kommt normalerweise alle paar Dekaden in die Staatsoper, der letzte (nicht sehr gute in der Regie von Daniele Abbado) wurde 2012 realisiert. Eine Prognose sei gewagt: Diesem dürfte keine jahrzehntelange Lebensdauer beschieden sein. Schade, wenn er sich doch so sehr gegen die Wegwerfgesellschaft richtet.