Trotz des offiziellen Demonstrationsverbots in Folge der Verhaftung und Amtsenthebung des Istanbuler Bürgermeisters und Erdogan-Rivalen, Ekrem İmamoğlu (53), gingen am Sonntag erneut Hundertausende in der Türkei auf die Straße. Die Opposition spricht von einer Million Teilnehmer allein in Istanbul. Sie protestieren gegen den offensichtlichen Versuch von Präsident Recip Tayyip Erdoğan, die Opposition im Lande kalt zu stellen.
Großteils dürften die Proteste friedlich verlaufen sein, doch es kam in der Nacht auch zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Sie setzte Tränengas und Pfefferspray ein. 1.133 Verdächtige wurden bei „illegalen Demonstrationen“ zwischen dem 19. März und dem 23. März 2025 festgenommen, schrieb Innenminister Ali Yerlikaya auf X (vormals Twitter). Nach Angaben der Journalistengewerkschaft wurden auch neun Berichterstatter festgenommen. Darunter sei auch ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP. Sie hatten über die nächtlichen Protesten in mehreren Städten gegen die Verhaftung des populären Oppositionellen berichtet.
Bis zu Generalstreik
Für Montag riefen Opposition und Gewerkschaft zu neuerlichen Protesten beziehungsweise zu einem Generalstreik auf. Wie heftig die Proteste noch werden, ist fraglich. Bereits jetzt gelten sie als die größten Unruhen seit den Gezi-Park-Protesten 2013. Und auch die Istanbuler Börse stürzte in Folge von Imamoglus Verhaftung am vergangenen Mittwoch so massiv ab wie seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr. Am Montag erholten sich die Kurse zwar wieder leicht, doch der Schaden ist angerichtet.
Das Internet ist die zentrale Kommunikationsdrehscheibe für Kritik an Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Insofern hat die Meldung für Aufregung gesorgt, wonach der Kurznachrichtendienst X (vormals Twitter) von Elon Musk regierungskritische türkische Accounts gesperrt haben soll.
Elon Musk behaupte zwar, „dass ‚X immer für die Meinungsfreiheit und das Recht der Menschen auf freie Meinungsäußerung kämpfen wird‘, doch dann zensiert X willkürlich Hunderte von Konten von Studenten und der Zivilgesellschaft“, warf der türkische Cyberrechts-Experte Yaman Akdeniz dem US-Tech-Milliardär und seiner Plattform vor. Die Statements von Imamoglu wurden nicht zensiert.
Drohung an Medien
Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu wurden bereits bis Samstag 56 Social-Media-Nutzer unter dem Vorwurf der Anstiftung zu Unruhen festgenommen. Und auch die türkische Medienbehörde RTÜK drohte den Medien des Landes im Fall von „unwahrer Berichterstattung“ mit Strafen und Lizenzentzug. Sie sollen sich nicht auf parteiische und unwahre Berichterstattung stützen, sondern „ausschließlich offizielle Informationen und Erklärungen der zuständigen Behörden veröffentlichen“, schrieb der Chef der Behörde, Ebubekir Sahin, auf X.
Über Imamoglu wurde am Sonntag die U-Haft verhängt, sein Bauunternehmen wurde beschlagnahmt und er wurde als Bürgermeister der Millionenmetropole abgesetzt. Zeitgleich wurde er von seiner Partei, der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, zu ihrem Präsidentschaftskandidaten für die nächste Wahl, die regulär 2028 stattfindet, gekürt. Gemutmaßt wird, dass Erdogan versuchen wird, die Wahl vorziehen, um erneut antreten zu können.
Für seinen aussichtsreichen Gegenspieler Imamoglu hätten sich 1,6 der 1,7 Millionen CHP-Mitglieder ausgesprochen. Er war aber auch der einzige Kandidat der größten Oppositionspartei in der Türkei. Zusätzlich wurden Solidaritätsboxen für Imamoglu im ganzen Land aufgestellt. Laut Angaben seiner Partei wurden dort 13 Millionen symbolische Stimmen für Imamoglu, der laut Staatsanwaltschaft unter Korruptions- und Terrorverdacht steht, abgegeben. In der Türkei leben rund 85 Millionen Menschen.
Offiziell anerkannter Kandidat ist Imamoglu freilich erst, wenn die als regierungsfreundlich geltende türkische Wahlbehörde YSK seine Kandidatur bestätigt. Sollten die Ermittlungen gegen ihn nicht eingestellt werden, ist die Annahme seiner Kandidatur unwahrscheinlich. Darüber hinaus war Imamoglu einen Tag vor seiner Festnahme sein Universitätsabschluss aberkannt worden. Auch dieses Verfahren läuft aber noch. Das Hochschuldiplom ist in der Türkei Voraussetzung für eine Kandidatur für das Präsidentenamt.
Die Bundesregierung in Berlin hat die Inhaftierung und Absetzung des Istanbuler Bürgermeisters als „absolut unakzeptabel“ kritisiert. „Das muss jetzt sehr schnell und sehr transparent aufgeklärt werden“, forderte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. „Politischer Wettbewerb darf nicht mit Gerichten und Gefängnissen geführt werden“, hieß es.
Und auch Frankreich hat scharfe Kritik am Vorgehen der türkischen Behörden geübt. Die Einhaltung der Rechte von gewählten Oppositionellen, die Demonstrationsfreiheit und die Freiheit der freien Meinungsäußerung seien Grundpfeiler des Rechtsstaates. Die Türkei habe auch als EU-Beitrittskandidat in diesen Punkten Engagement zugesagt.