Startseite Kultur „Tauriger Tiger“: Neige Sinnos literarische Traumabewältigung

„Tauriger Tiger“: Neige Sinnos literarische Traumabewältigung

von Max

Neige Sinno wurde als Kind ab dem Alter von ungefähr sechs Jahren von ihrem Stiefvater über Jahre hinweg sexuell missbraucht.

Wann genau es beginnt, weiß die Icherzählerin nicht mehr. Als sie 14 ist, ist es zu Ende. Sie ist die Einzige in der Familie, die dem Mann ausgeliefert ist. Er gilt als charismatisch, ein Bergführer, beliebt im Freundeskreis, den anderen Geschwistern ist er ein guter Vater.

Erst als sie zwanzig ist, gelingt es ihr, sich der Mutter anzuvertrauen. Die Mutter braucht eine Weile, um den Schock zu verarbeiten, dann trennt sie sich von ihm und erstattet Anzeige. Er gibt vor Gericht den Missbrauch zu, findet es allerdings „obszön“, dass man ständig auf die konkreten Details der jahrelangen Vergewaltigungen zurückkommt. Er spricht von „Liebe“. Statt des vollen Strafausmaßes von 20 Jahren bekommt er nur sieben. Nach seiner Entlassung lernt er auf dem Jakobsweg seine neue Frau kennen.

„Trauriger Tiger“ war ein Riesenerfolg in Frankreich, er wurde mehrfach ausgezeichnet und war 2023 für den Prix Goncourt nominiert, Frankreichs wichtigsten Literaturpreis. Gewonnen hat mit nur einer Stimme Vorsprung „Veiller sur elle“ („Über sie wachen“) von Jean-Baptiste Andrea.

Der Roman über die Beziehung zwischen einem Bildhauer aus der Arbeiterklasse und einer Aristokratin ist lupenreine Erzählliteratur. „Trauriger Tiger“ ist im Gegensatz dazu kein formal schön erzählter Roman, sondern ein authentisches und umso furchtbareres Buch.

Ist es auch große Literatur? Nein, und das weiß die Erzählerin. Sie kommt immer wieder auf das Erlebte zurück, reichert es mit Zeitungsartikeln an, bekennt sich zu ihrem erzählerischen Unvermögen. „Aber da es sich um ein Zeugnis handelt und nicht um große Literatur, muss es nicht allzu sehr geglättet werden, sonst würde es konstruiert wirken und gegen die Aufrichtigkeit verstoßen.“ Aus ihrer Geschichte Kunst zu machen, „widere“ sie an, es würde bedeuten, Gewalt zu ästhetisieren. Das Ringen um die richtige Form, diese Geschichte zu erzählen, bestimmt dieses Buch. Das ist glaubwürdig, aber auch redundant. Ist „Trauriger Tiger“ ein gutes Buch? Es ist ein bestürzendes Buch. .

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