Startseite Kultur „The Brotherhood“ bei den Festwochen: Überbordendes Wimmelbild von Gewalt

„The Brotherhood“ bei den Festwochen: Überbordendes Wimmelbild von Gewalt

von Max

Das erste Wort gehört Dante. Zeilen aus dem „Fegefeuer“ seiner „Göttlichen Komödie“ werden in weißen Lettern projiziert. Auf einem Video erscheint Carolina Bianchi, man erfährt, dass sie gerade erwacht sei. 

Die Verbindung zu „Die Braut und Goodnight Cinderella“, dem ersten Teil ihrer Trilogie „Cadela Força“, ist gelegt. Dafür hat sich die brasilianische Theatermacherin angeblich selbst mit K.O.-Tropfen betäubt und ihren Körper ihrer Truppe zur Verfügung gestellt. Die Produktion verschaffte ihr 2023 beim Festival in Avignon internationale Anerkennung. Im Vorjahr zeigte sie diese bei den Wiener Festwochen.

Die setzen nun mit Teil zwei fort. In „The Brotherhood“ thematisiert sie Gewalt an Frauen in der Kunst von Ovid bis Jan Fabre.

Vor der Pause übernimmt sie den aktiven Part, im zweiten lässt sie „die Bruderschaft“ zu Wort kommen. Die Brasilianerin hat eine Hand für starke Bilder und versteht es zu verblüffen. Sie beginnt ihre Szenen ganz harmlos und reißt immer tiefere Abgründe auf. 

Zu Beginn rezitiert ein Mann ein Gedicht von Roberto Bolaño und erklärt einem Säugling dessen künftige Welt. Der salbungsvolle Duktus seiner Rede täuscht über das Schreckliche, nämlich die Selbstverständlichkeit, mit der Männer Frauen vergewaltigen. Nach ähnlichem Muster ist auch die zentrale Szene gestaltet. Ein launiges Interview mit einem fiktiven Regisseur gerät zur Karikatur eines tyrannischen Theatermachers. 

Das Spiel mit Klischees unterhält. Das Zitat „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“, aus Walter Benjamins Essay „Über den Begriff der Geschichte“ zieht sich leitmotivisch durchs Geschehen. Zwischen Exkursen über Tschechows „Möwe“ kommen brisante Fragen zur Sprache. Sie will wissen, was ihr Gegenüber empfunden habe, als er eine18-jährige Schauspielerin auf der Bühne der Gewalt von Männern aussetzte. Der bekennt seine erotischen Fantasien. 

Dann die abrupte Wende, ob er sich auch mit ihr Sex vorstellen könne, will sie wissen. Gefragt getan. Offensiv hält ihm Bianchi ihre entblößte Vulva entgegen. Via Live-Kamera wird diese in Großaufnahme gezeigt. Auch das geschieht wie ein Exkurs, das Gespräch wird fortgesetzt, als wäre nichts gewesen. Am Ende erschießt sich der Regisseur – wie bei Tschechow. 

Im zweiten Teil übernimmt die Bruderschaft das Kommando, zerpflückt die 500 Seiten von Bianchis Recherchen, Missbrauchsfälle der vergangenen Jahrzehnte werden aufgelistet. Namen wie Polanski, Rammstein und Pelicot fallen, auch die Wiener Aktivisten, allen voran Otto Mühl werden als Täter angeführt. 

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Am Ende schafft Bianchi den Bogen zur britischen Literatur. Zunächst zu Sarah Kane, die mit 28 Jahren Selbstmord verübt hat. Vor ihrem Porträt stürzt sie auf die Knie und schneidet sich die Zunge heraus. 

Der Epilog, eine Hommage an Emily Brontë und ihren Roman „Wuthering Heights“, ist der letzte Mosaikstein zu einem überbordenden Wimmelbild von Gewaltexzessen. Der fast vierstündige, immer wieder starke, Abend wird zurecht bejubelt.

KURIER-Wertung: 4 Sterne

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