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TikTok Medizin | Wiener Zeitung

von Max

Auf Instagram, TikTok und Telegram nennen sie sich „Heiler“, „Vitamin-D-Experten“ oder „Health Coaches“: Influencer:innen und selbsternannte Gesundheitsgurus, die mit alternativen Krebs-Therapien Reichweite und vor allem viel Geld machen. Was ihre Follower:innen nicht wissen? Diese „Therapien“ sind teuer, wirkungslos, und können lebensgefährlich sein. Was wie harmloser „Naturheilkunde“-Content aussieht, ist eine toxische Mischung aus Verschwörungstheorien, Scharlatanerie und skrupellosem Geschäftemachen, oft durch geschicktes Multi-Level-Marketing.

„Mein Papa hat Kehlkopfkrebs – helfen da Marillenkerne?“ „Er hat recht! Kenne jemand (sic), der hat zweimal den Krebs bekämpft ohne Zucker – auch kein Fruchtzucker. Jeden Tag Natron, Knoblauch und Kurkuma! Findet ihr alles im Internet.“ „Warum gibt’s den Turbokrebs seit der Impfung?“ „Am besten einen guten Heilpraktiker suchen und mit Infusionen Metalle ausleiten und mit Vitaminen fleißig das Immunsystem wieder aufbauen!“ – das sind nur einige der Kommentare der User:innen unter den Videos der selbsternannten Heiler:innen. „Oft wenden sich sehr verzweifelte Menschen, die nach jedem Strohhalm greifen, an entsprechende Anbieter:innen“, so Felix Lippe von der Bundesstelle für Sektenfragen. „Das Perfide ist, dass es bei diesen Eso-Coachings oft vordergründig um Selbstermächtigung geht, durch Manipulationsstrategien jedoch Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen werden. So geben Kund:innen bisweilen enorme Beiträge für esoterische Angebote aus.“ Das Thema Esoterik ist eines der wichtigsten Beschäftigungsfelder der Bundesstelle. Viele Menschen suchen nach Alternativen, wenn sie eine schwere Diagnose erhalten haben, die erst mal aussichtslos scheint.

„Ich bin kein Arzt, aber …“

Das Feld der Esoterik ist laut Lippe vielfältig: „Während einige Ansätze spirituelle Bedürfnisse erfüllen und harmlos sein können, gibt es problematische Ausrichtungen. Kritisch wird es vor allem, wenn unhaltbare Heilsversprechen oder schädliche Methoden verzweifelten Menschen angeboten werden, die dadurch besonders manipulierbar sind.“

„Ich bin kein Arzt, aber …“ – dieser Satz ist das Einfallstor in diese Welt, die viele anzieht. Soziale Medien werden für immer mehr Menschen auch zur Quelle von medizinischem Rat. Das kann lebensgefährlich werden. Statt einer ausgewogenen Beratung zum Thema Gesundheit gibt es extreme Inhalte: Impfkritik, Verschwörungstheorien und teure „Wunderprodukte“.

Was uns bei der Recherche sofort auffällt: Während Ärzt:innen von Wahrscheinlichkeiten sprechen, sind sich die Internet-Gurus ganz sicher. Voller Überzeugung werden die Heilmethoden propagiert und die wissenschaftlichen Methoden der Schulmedizin abgelehnt. Der Weg zur Verschwörung ist dann oft nicht weit, bestätigt Lippe: „Die Esoterik kann als Einfallstor zu verschwörungstheoretischem Gedankengut fungieren. Das funktioniert deshalb so gut, da esoterische und verschwörungstheoretische Denksysteme auf dem gleichen Gut-gegen-Böse-Dualismus aufbauen.“

Undercover bei der Health-Coachin

Die Coaches versprechen: Gesund werden ohne die „böse Pharma“, nur durch die „Kraft der Natur“ – und verlangen für ihre „Wunder-Kuren“ Unsummen. Sie behaupten, Krebs mit Vitamin D, Schwarzkümmel oder Marillenkernen heilen zu können. Viele dieser sogenannten Gesundheitsberater:innen haben keine medizinische Ausbildung. Dabei ist die Eso-Szene gut vernetzt, sie folgen einander und pushen die Produkte ihrer Kolleg:innen.

Wir wollen es selbst erfahren und legen uns dafür eine versteckte Identität zurecht: WZ-Trainee Katharina gibt sich auf Instagram als Studentin Laura aus, und gibt vor, sich über alternative Heilmethoden für eine vermeintliche Brustkrebserkrankung einer Angehörigen erkundigen zu wollen.

Wir müssen nicht lang suchen. Eine Wasser-Expertin und selbsternannte Healing Coach will Laura helfen. Sie erzählt uns von ihrer eigenen Krebserkrankung, die mit einer Chemotherapie erfolgreich behandelt wurde. Sie „würde das aber heute so nicht mehr machen“, sagt sie. Stattdessen wettert sie gegen die Schulmedizin und propagiert alternative Mittel. Bei einem kostenlosen Termin fragt Katharina aka „Laura“ die Healing Coach nach ihrer Erfahrung mit Brustkrebs. „Ich hätte alle anderen Alternativ-Therapien zuerst ausprobiert, und dann hat man immer noch die Möglichkeit, eine Chemo zu machen“, erzählt sie. Auf die Frage, ob es dann nicht schon zu spät sein könnte, weil sich der Krebs ausbreite, weiß die Dame aus dem Internet eine Antwort: „Ärzte machen Druck, um schnellstmöglich eine Chemotherapie zu machen, weißt du warum? Weil sie damit Geld machen. Die Pharmaindustrie ist ein Milliardengeschäft.“

Dieses Argument sollten wir auf Social Media noch öfter hören und lesen. Michael Gnant, Präsident der Austrian Breast and Colorectal Cancer Study Group, bezieht dazu klar Stellung: „Ich habe in meinem Leben noch nie einen Cent mit Chemotherapie verdient. In unserem Gesundheitssystem werden Ärzte unabhängig davon bezahlt, was sie verschreiben, also das ist Unsinn“, betont der Arzt gegenüber der WZ.

Ich habe in meinem Leben noch nie einen Cent mit Chemotherapie verdient.

Univ.-Prof. Dr. Michael Gnant

Die Healing Coach empfiehlt alternative Krebs-Therapien wie „eine hochdosierte Vitamin-C-Infusion oder eine mit Vitamin D3 oder K2, die töten Krebszellen ab“, sagt sie. Klingt fundiert, ist aber Unsinn. Michael Gnant sagt dazu: „Nein, Vitamine töten keine Krebszellen. Das ist tausendfach bewiesen, sonst würde ich ja nur mehr Vitamine aufschreiben, wenn es so einfach wäre.“ Wissenschaftliche Studien beschreiben hingegen, dass regelmäßige Vitamin-D-Einnahme entzündungshemmende Effekte habe, welche die Sterblichkeitsrate bei Krebserkrankungen senken könnte. Die Sicherheit, mit der die Healing Coach zu Vitamin-Infusionen rät, kann sich der Mediziner nicht erklären. „Da gibt es auch keine Meinungen, da gibt es Fakten und die sagen klar: Nichts davon hilft gegen Krebs“, sagt Gnant.

Die Healing Coach verweist im Gespräch auch auf eine bekannte Theorie der Impfgegner:innenszene hin. „Man muss sich schon die Frage stellen, wieso es seit der Covid-Impfung so viele Fälle von Turbokrebs gibt. Weißt du eigentlich, was in Impfungen drinnen ist?“ Dabei ist „Turbokrebs“ kein medizinischer Begriff und auch kein wissenschaftlich anerkanntes Phänomen. Der Begriff beschreibt das Gefühl, dass sich manche Krebserkrankungen extrem schnell entwickeln. Auf Social Media wird der Begriff häufig in der Impfgegner:innenszene verwendet.

„Ich kann Krebspatienten nicht heilen, Ärzte aber auch nicht“, sagt die Healing Coach uns abschließend. Sie bietet an, bei einem Heilungsprozess alternativ zu unterstützen, gegen Geld natürlich. Wie genau das ablaufen würde, erfahren wir aber nicht – im Angebot der Dame findet sich ein kostenpflichtiges Programm für „ganzheitliche Entgiftung“. Auch ein beliebtes Schlagwort in dieser Szene.

Ganzheitliche Entgiftung empfiehlt auch ein weiterer Gesundheitsguru: Robert Franz. Auf Social Media gibt er sich als „Gesundheitsexperte“ aus, dabei ist er eigentlich Automechaniker. Er hält Vorträge und behauptet, dass er bei Krebs Vitamin D3 nehmen würde. Den Konjunktiv benutzt er, um sich vor rechtlichen Konsequenzen zu schützen. Der Gesundheitsguru mit den lila Haaren hatte in der Vergangenheit schon Ärger mit der Justiz, er wurde von der Ärztekammer wegen Kurpfuscherei angeklagt, außerdem soll er Ärzt:innen wiederholt als Drogendealer bezeichnet haben. Sein Wissen hat er sich aus Büchern angeeignet und behauptet, dass so gut wie jede Erkrankung mit Vitaminen heilbar wäre. Zum Ausleiten empfiehlt Robert Franz Nahrungsergänzungsmittel, die speziell darauf abzielen, die Entfernung von Giftstoffen aus einem Organismus zu unterstützen, wie es auf seiner Website heißt.

Für die Wirkung sogenannter Entgiftungs- oder Detox-Diäten fehlen laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) bisher wissenschaftliche Nachweise. Franz hat eine riesige Fanbase – unter seinem Content findet man unzählige Kommentare von Menschen, die lieber Robert Franz als Ärzt:innen vertrauen.

Auf Social Media lesen wir, dass mit der richtigen Ernährung, Schwarzkümmelöl und sauberem Wasser gut gegen Krebs angekämpft werden kann. Oder mit Marillenkernen. Dabei können solche Tipps ernsthaft schaden. Die Kerne können im Körper Blausäure freisetzen, das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) warnt ausdrücklich davor, mehr als zwei täglich zu verzehren.

Das „Geheimwissen“ für alle

Warum erlebt gerade Social Media diesen Eso-Boom? Felix Lippe hat darauf eine Antwort: „Wenn heute von einem Geheimwissen gesprochen wird, dann meistens in Form einer Verkaufsstrategie: Ich habe ein Geheimwissen, das ich gern mit euch – meinen Follower:innen – teile, wenn ihr dafür zahlt“, so Lippe. Den Abnehmer:innen wird so das Gefühl gegeben, durch den Erwerb z. B. eines Coachings zu den Auserwählten zu gehören.

In der Realität kann das mitunter fatale Auswirkungen haben: Im März starb in Kärnten ein 14-jähriges Mädchen, nachdem ihre Eltern den Krebs durch Pendeln „heilen“ lassen wollten. Sie hatten im Internet von der „Therapie“ gelesen.

Unsere TikTok-Algorithmen sind nach dieser extensiven Recherche jedenfalls ganz auf Esoterik gepolt. Immer und immer wieder bekommen wir neue Health Coaches ausgespielt, die mit denselben rhetorischen Mitteln und ähnlichen Heilungs-Tipps auf unseren for-you-Pages aufpoppen. Kritische Kommentare unter den Videos liest man eher wenige – der Großteil sind Menschen in schwierigen gesundheitlichen Situationen, die sich nach Lösungen sehnen. Mit dieser Verzweiflung wird das Geschäft gemacht.

Woran erkenne ich, ob die Informationen, die ich online finde, seriös sind?

  • Gesundheitsinformationen sollten von Fachleuten stammen, z. B. von Ärzt:innen oder seriösen Institutionen wie der WHO, der Österreichischen Krebshilfe oder anderen anerkannten Organisationen.

  • Wenn ein Inhalt dramatisch klingt („Geheimrezept, das die Pharmaindustrie versteckt!“), ist er meist nicht vertrauenswürdig.

  • Hinterfrage die Quellen: Wer steckt hinter den Behauptungen? Haben die Personen eine medizinische Ausbildung oder zitieren sie anerkannte Studien? Haben die Personen ein wirtschaftliches Interesse?

  • Vertraue Expert:innen: Wende dich bei Gesundheitsfragen an Ärzt:innen oder Onkolog:innen.

  • Melde falsche Inhalte: Plattformen wie Instagram und TikTok haben Funktionen, mit denen man irreführende oder schädliche Inhalte melden kann.


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Infos und Quellen

Genese

Schwere medizinische Diagnosen sind für Betroffene und Angehörige meist ein großer Schock. Der Wunsch, sich ausgiebig zu informieren, Rat und Hilfe zu suchen, ist nachvollziehbar. Dabei beginnt die Recherche oft im Internet, wo unzählige Influencer:innen mit vermeintlich medizinischen Ratschlägen warten. WZ-Redakteurin Aleksandra Tulej bekam in den vergangenen Monaten immer wieder fragwürdige Videos von selbsternannten Health Coaches auf TikTok ausgespielt. Sie wollte sich die Szene genauer anschauen und hat gemeinsam mit WZ-Trainee Katharina Zangerl recherchiert.

Gesprächspartner:innen

  • Felix Lippe, Bundesstelle für Sektenfragen

  • Health Coach und Wasserexpertin, deren Namen wir aus rechtlichen Gründen nicht nennen

  • Michael Gnant, Professor an der Medizinischen Universität Wien

Daten und Fakten

  • Esoterik ist ein Sammelbegriff für verschiedene Denkweisen, die sich mit spirituellen, religiösen und philosophischen Themen beschäftigen. Die Ideen der Esoterik entstanden vor allem im 19. Jahrhundert, als viele Menschen begannen, Religion und Wissenschaft miteinander zu verbinden. Damals fühlten sich viele von den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Kritik an der Religion verunsichert. So suchten sie nach neuen Antworten und entwickelten Lehren wie die Theosophie (gegründet von Helena Blavatsky) und die Anthroposophie (geprägt von Rudolf Steiner).

  • Das Wort „ Esoterik“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie „geheim“ oder „verborgen“. Früher war esoterisches Wissen nur für wenige Auserwählte zugänglich. Heute sieht das anders aus: Seit den 1980er-Jahren gibt es einen großen Esoterik-Markt“, auf dem Bücher, Kurse oder Produkte für alle Interessierten angeboten werden. In den letzten Jahren zeigt sich immer mehr Präsenz aus dieser Ecke auch auf Soc„ial Media. Laut Expert:innen hat esoterisches Denken oft eine Verbindung zu Verschwörungstheorien. Beide teilen eine ähnliche „Gut-gegen-Böse“-Sichtweise. Ein Begriff dafür ist Konspiritualität – eine Mischung aus „Verschwörung“ und „Spiritualität“.

  • Während der Covid-19-Pandemie wurde das besonders deutlich: Viele Menschen aus der „Esoterik-Szene“ nahmen an Protesten teil und verbreiteten auf Plattformen wie Telegram Verschwörungstheorien. In diesen Netzwerken findet man oft eine Mischung aus spirituellen Inhalten und Ideen, die an Verschwörungstheorien erinnern.

  • Der Begriff „Turbokrebs“ wird in einigen Kreisen verwendet, um zu behaupten, dass mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 extrem schnell wachsende, aggressive Krebserkrankungen auslösen könnten. Diese Behauptung ist jedoch wissenschaftlich nicht belegt. Expert:innen und wissenschaftliche Organisationen wie die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) betonen, dass es keinen Zusammenhang zwischen den Impfungen und einer Zunahme von Krebsfällen gibt.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Brett vom Kopf reißen

Das Thema in anderen Medien

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