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Unterrichten mit dem Blick von außen

von Max

Quereinsteiger:innen als Lehrkräfte bringen neue Perspektiven in den Schulalltag. Ihr Einstieg ist aber ein Sprung ins eiskalte Wasser.

Die Sommerferien sind vorbei, für knapp 1,2 Millionen Schüler:innen und rund 124.000 Lehrer:innen beginnt wieder der Schulalltag. Nicht nur viele Erstklässler:innen fiebern ihrem ersten Schultag entgegen, sondern auch rund 500 Lehrkräfte, die zum allerersten Mal ganz alleine in einer Klasse stehen werden. Es sind Quereinsteiger:innen, die aus anderen Jobs in die Schule geholt wurden, um dem eklatanten Lehrer:innenmangel in den Mittel- und Höheren Schulen entgegenzuwirken. Für sie ist es ein Sprung ins eiskalte Wasser, da sie zuvor keine fachdidaktische Ausbildung absolviert haben (die Grundlagen bekommen sie erst im Lauf ihres ersten Unterrichtsjahres in begleitenden Kursen, mehr dazu unter „Infos & Quellen“) und oft über gar keine pädagogische Erfahrung verfügen. Kann das funktionieren? Und sind sie tatsächlich die erhofften Retter:innen in der Personalnot oder doch eher Fremdkörper, die das Schulsystem durcheinanderbringen?

Diese Fragen hat die WZ verschiedenen Personen aus dem Schulbereich gestellt. Der allgemeine Tenor der Befragten, die meist anonym bleiben wollen, deckt sich ziemlich mit der Ansicht von Bildungspsychologin Christiane Spiel: Positiv findet sie den Blick von außen, den Quereinsteiger:innen mitbringen, während die meisten Lehrer:innen den Schulkosmos im weitesten Sinn nie so richtig verlassen haben. Auf zwölf Schulstufen bis zur Matura folgte ein Lehramtsstudium, das direkt zurück ins Klassenzimmer führte. Lediglich bei den Männern führt der Präsenz- oder Zivildienst hier zu einer kurzen Unterbrechung.

Es ist gut, dass die Welt in die Schule kommt.

Bildungspsychologin Christiane Spiel

Spiel findet es deshalb „gut, dass etwas mehr die Welt in die Schule kommt und die Schule etwas offener wird“. Dies ist von vielen Befragten zu hören. So erzählt etwa eine Quereinsteigerin in einer Berufsbildenden Höheren Schule (BHS), dass sie für ihren Unterricht auch öfter einmal ihr Netzwerk aus der Medienbranche anzapft, in der sie früher gearbeitet hat. „Grundsätzlich schadet keinem Fach ein gewisser Praxisbezug“, ist sie überzeugt. „Auch in Mathematik wäre es vielleicht gut, wenn den Schüler:innen einmal jemand glaubhaft vermitteln könnte, wofür sie den abstrakten Stoff später einmal brauchen werden.“

Kulturschock beim Umstieg

Allerdings hat gerade ihr Blick von außen samt dem Wissen, wie es andernorts läuft, für einen Kulturschock beim Umstieg gesorgt: Im alten Job hatte sie ein eigenes Büro mit einem vom Dienstgeber gestellten und servicierten Laptop samt Monitor, Internet und Drucker gehabt – „und plötzlich hat man im Lehrerzimmer weniger als einen Quadratmeter für sich, keine Ablagemöglichkeiten, zwanzig Lehrkräfte teilen sich vier alte Rechner, Büromaterial gibt es auch keines“, erzählt die Quereinsteigerin, die gerade ihren Computer auf eigene Kosten reparieren lässt. Nicht nur sie erlebt das System Schule als „völlig aus der Zeit gefallen mit einem sehr engen rechtlichen und finanziellen Korsett, das vielen das Schöne an der Arbeit, das Unterrichten, das Vermitteln, das Miteinandersein erschwert“. Umgekehrt, meint eine langjährige AHS-Lehrerin, die schon mit vielen Quereinsteiger:innen zu tun hatte, würden gerade ältere Neulinge manches im System schneller und besser verstehen als junge Kolleg:innen frisch von der Uni.

Von Anfang an auf sich allein gestellt

Der größte Kritikpunkt, der genannt wird, ist die fehlende Vorbereitung vor dem ersten Unterrichtstag. „Ich hatte keinerlei pädagogische Erfahrung, es war learning by doing“, erzählt eine Quereinsteigerin. „Ich habe mir an meinem allerersten Arbeitstag auf dem Weg ins Klassenzimmer gedacht: ‚Oh Gott, die lassen mich da jetzt wirklich rein und haben mich noch nie reden gehört.‘“ Während eine Kollegin von Quereinsteiger:innen berichtet, die nach ihrer ersten Unterrichtswoche völlig fertig waren, erinnert sich einer, der seine Premiere bereits im Jahr 2010 hatte, dass er „keinerlei Supervision hatte, offiziell hat sich niemand dafür interessiert, was ich hier ein Jahr lang gemacht habe“.

Hätte sie nicht viel Hilfe von einer befreundeten AHS-Lehrerin bekommen, wäre sie bei der Vorbereitung ihres ersten Unterrichtsjahres wahrscheinlich verzweifelt, meint eine angehende Kollegin. Sie bezweifelt, dass das theorielastige Onboarding, das in den letzten beiden Ferienwochen an einer Pädagogischen Hochschule stattgefunden hat, genug ist. Der Prozess für ihre Zertifizierung als Quereinsteigerin wiederum hat fünf Monate gedauert. „Ich hätte in dieser Zeit längst als Karenzvertretung wo anfangen können, aber die Bürokratie war zu langsam.“ Das bedeutete weitere fünf Monate AMS-Geld statt eines vollen Gehalts als Lehrerin. Irritiert hat sie zudem, wie wenig vernetzt und intransparent das Schulsystem ist. „Ich hätte mich in mehreren Bundesländern bewerben und genommen werden können, ohne dass die verschiedenen Bildungsdirektionen voneinander wissen. In der Privatwirtschaft gibt es all dies nicht.“

Ich hatte keinerlei pädagogische Erfahrung, es war learning by doing.

Eine Quereinsteigerin über ihr erstes Unterrichtsjahr

Genau das sei der Kardinalfehler, warnt eine ehemalige AHS-Lehrerin, die nun selbst Lehrer:innen ausbildet: „Man darf Quereinsteiger:innen nicht allein lassen, sie brauchen Buddys, eine gute Begleitung zu Beginn. Das sehe ich aber derzeit leider nicht.“ Bildungspsychologin Spiel hat dazu ein plakatives Beispiel parat: Ein Fünfzigjähriger, der als Physiker gearbeitet hat und in den Unterricht wechselt, „ist womöglich nicht gewappnet, plötzlich vor lauter Pubertierenden zu stehen, die das Fach Physik überhaupt nicht interessiert. Wenn dann vielleicht auch noch Aggressionen und Gewalt in der Klasse dazukommen, kann man leicht überfordert sein, wenn die entsprechende Ausbildung mit Fachdidaktik und Psychologie fehlt.“

Sind Lehramtsstudent:innen wirklich besser vorbereitet?

Am Anfang muss man also mit Niederlagen umgehen lernen. Das gilt freilich für vollwertig ausgebildete Lehrer:innen genauso. Die haben aber zumindest ein entsprechendes Rüstzeug in Form einer mehrjährigen Ausbildung. Es hänge aber wohl sehr stark davon ab, was Quereinsteiger:innen an sonstiger Erfahrung mitbringen, meint die Ausbildnerin. Den Stoff zu beherrschen und ihn gut zu vermitteln, seien zwei Paar Schuhe. Die Betreuungsaufgaben der Schule abdecken oder den Unterricht rudimentär aufrechterhalten könne man mit Quereinsteiger:innen auf jeden Fall. „Ich frage mich nur, ob auch der Bildungsauftrag erfüllt wird.“ Sie fürchtet, dass bald auch unerfahrene Quereinsteiger:innen in Volksschulklassen gestellt werden könnten. Dort werden schon jetzt Engpässe mit Studierenden gestopft, „die dann viel zu früh in der Klasse stehen und ausgebrannt sind, noch bevor sie überhaupt das Studium fertig haben. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass sie die Ressourcen aufbringen können, einen guten Unterricht zu gestalten. Leidtragende sind die Kinder.“ Ähnlich harte Worte findet ein AHS-Lehrer, dem junge Kolleg:innen zugetragen haben, dass die fachdidaktische Ausbildung „in Wahrheit zum Krenreiben“ sei. „Da lernt man genau nichts, was einem später in der Klasse hilft.“ Auch deshalb möchte er die berufliche Erfahrung, die er zuvor außerhalb der Schule gesammelt hat, nicht gegen ein reines Lehramtsstudium eintauschen.

„Eine üble Entprofessionalisierung“

Mit Blick auf die nichtvorhandene Vorbildung der Quereinsteiger:innen warnt Bildungspsychologin Spiel sogar von einer Entprofessionalisierung, „die bei einem Beruf, der für die gesamte Gesellschaft so wichtig ist, ganz übel ist. Das gilt allerdings auch für Lehramtsstudierende, die schon in den ersten Semestern unterrichten. Studien zeigen klar, dass Lehrpersonen eine gute und solide fachliche Ausbildung brauchen, und zwar wissenschaftlich und fachdidaktisch. Sehr wichtig ist auch eine gute diagnostische Kompetenz, um erkennen zu können, warum ein Kind Probleme beim Lernen hat.“ Insbesondere bei der Qualitätssicherung sieht sie noch sehr viel Luft nach oben. In der Realität würden viele Kolleg:innen zu sehr im eigenen Saft braten und wenig Neues zulassen, meint auch eine Pädagogin, die auch schon in der Slowakei und in Spanien unterrichtet und sich nun in einer wissenschaftlichen Arbeit intensiv mit dem Thema befasst hat. „Wir sollen den Kindern Offenheit beibringen, sind aber selbst verschlossen.“ Und selbst Lehrkräfte mit jahrzehntelanger Erfahrung würden sich zum Beispiel mit dem Schulgesetz nicht gut auskennen.

Zu Beginn war ich ein Fremdkörper.

Ein Quereinsteiger über seinen Start an einer AHS

Leicht haben es Quereinsteiger jedenfalls nicht immer. Zu Beginn sei er „unter lauter älteren Kolleg:innen ein Fremdkörper“ gewesen, erinnert sich ein nunmehriger AHS-Lehrer. Wahrscheinlich auch deshalb, weil er in manchen Dingen patschert gewesen sei. Er habe die Schule gewechselt und sei mit offenen Armen empfangen worden. Neid spüre sie keinen, sagt eine Kollegin, „aber irgendwie schwingt mit, dass traditionell ausgebildete Lehrkräfte Angst haben, dass Quereinsteiger:innen es leichter haben könnten.“ Eine andere AHS-Lehrerin hingegen erinnert sich an einen spätberufenen Mathematiker, „der viel bessere Ideen hatte als der eigentliche Mathematiklehrer, der nie in der Praxis war. Und eine Kollegin, die mit Anfang vierzig aus der chemischen Industrie zu uns gekommen ist, war wohl die beste Chemielehrerin, die ich kennengelernt habe. Sie hatte allerdings auf dem zweiten Bildungsweg das Lehramtsstudium gemacht. Da sind also Praxiserfahrung und Fachdidaktik Hand in Hand gegangen.“


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Infos und Quellen

Genese

WZ-Redakteur Mathias Ziegler hat insgesamt fünf ehemalige Lehrer:innen in der Familie, er kennt also das Schulsystem nicht nur aus der Perspektive als ehemaliger Schüler. Als ihm jüngst zwei Bekannte, die ihre Jobs verloren hatten, unabhängig voneinander erzählten, dass sie sich überlegten, sich als Quereinsteigerinnen zu versuchen, wollte er wissen: Was erwartet sie dort? Wie geht es Quereinsteiger:innen mit der Schule – und wie geht es der Schule mit Quereinsteiger:innen?

Gesprächspartner:innen

  • Christiane Spiel ist Professorin für Psychologie an der Universität Wien mit Schwerpunkt Bildung. Davor war sie unter anderem AHS-Lehrerin sowie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und an der Universität Graz tätig.

  • Ein Dutzend Mittelschul-, AHS- und BHS-Lehrer:innen, Quereinsteiger:innen, Direktor:innen sowie eine Ausbildnerin wollten lieber anonym bleiben.

Daten und Fakten

Quereinsteiger:innen in der Schule gibt es schon lange, insbesondere im berufsbildenden Bereich. Für die Allgemeinbildung gibt es seit kurzem ein strukturiertes Quereinstiegsmodell dem ein Pilotversuch im Schuljahr 2022/2023 vorausgegangen ist. Damals gab es österreichweit rund 200 Quereinsteiger:innen, im vergangenen Schuljahr waren es 700, im nun beginnenden sind es 500. Neu ist, dass die Quereinsteiger:innen ein dreistufiges Eignungs- und Auswahlverfahren durchlaufen.

Als Voraussetzung nennt das Bildungsministerium ein fachlich geeignetes oder facheinschlägiges Studium an einer Universität oder Fachhochschule im Umfang von mindestens 180 EC (European Credits), was Bachelor-Niveau entspricht (für Mathematik etwa wäre Betriebswirtschaft ein Beispiel für ein fachlich geeignetes Studium und das Diplomstudium Mathematik ein Beispiel für ein facheinschlägiges Studium), außerdem mindestens drei Jahre fachlich geeignete Berufspraxis sowie ein positiv abgeschlossenes Eignungsfeststellungsverfahren für den Quereinstieg Allgemeinbildung und eine Bestätigung der Eignung von der Zertifizierungskommission Quereinstieg. Wer dies erfüllt, kann sich für passende ausgeschriebene Stelle in der Sekundarstufe bewerben und dort unterrichten. Demzufolge gibt es derzeit keine Möglichkeit für den Quereinstieg in der Volks- oder Sonderschule. Im August gab es einen Onboarding-Prozess, der aus einer Woche Online-Übungen und einer Präsenzwoche an einer Pädagogischen Hochschule (PH) besteht. Darauf folgt parallel zum Unterrichten ein Hochschullehrgang. Nach einem Jahr bewertet die Direktion, ob ein:e Quereinsteiger:in für den Job geeignet ist. Ist dies der Fall, erfolgt die Einstufung ins normale Dienstrechtschema.

Quellen

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