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Vom KZ zum Gewerbepark – Österreichs Kultur des Vergessens

von Max

Der Fall Leobersdorf zeigt: Profit ist wichtiger als NS-Gedenken. Mit dem Verdrängen kennt man sich aus in Österreich.

Ein Parkplatz statt einem Mahnmal. Ein Designer-Outlet statt einer Gedenktafel. Ein Baumarkt statt Blumenkränze. In Leobersdorf will ein Unternehmer auf den Ruinen eines Konzentrationslagers einen Gewerbepark bauen. Der Bürgermeister hat ihm dafür die Gründe verkauft und einen Haufen Geld damit verdient. Klingt wie Satire. Ist bittere Realität.

Eine Realität, die viel über unseren Umgang mit der NS-Zeit erzählt. „Nie wieder“, die Parole gegen das Vergessen, verhallt zwischen Regalen voll Klopapier und Dosenfutter. Mit den letzten Zeitzeug:innen stirbt der Widerstand gegen das Vergessen. Profitinteressen stechen die Erinnerung aus. Sie stehen über allem. Über den Verbrechen der Nazis. Über Millionen Toten. Über unserer Verantwortung als Nachkommen der Täterinnen und Täter. Der Gewerbepark auf den KZ-Gründen ist die ungustiöse Spitze einer Kultur des Vergessen.

Vergessen wollte Österreich schnell. Nicht aus privat-finanziellen Gründen wie heute, sondern um Reparationszahlungen, Beschlagnahmungen, Demontagen – den Sanktionen der Alliierten –, dem Stigma zu entgehen.

Die Lüge als Identität

Schon am 27. April 1945, als im KZ Mauthausen noch gemordet wurde, wurde in Wien die Republik ausgerufen. Die Alliierten erkannten Österreich als eigenständigen – von Deutschland unabhängigen – Staat an. Und was tat dieser als erstes? Er distanzierte sich blitzartig von seiner unmittelbaren Vergangenheit. Das NS-Regime habe „das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinnlosen Eroberungskrieg geführt (…), den kein Österreicher jemals gewollt hat“, heißt es in der Gründungsurkunde der Zweiten Republik.

Verdrängung aus Reflex. Verleugnung, um zu einer Identität zu finden, die nicht auf der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, Homosexuellen, Kommunist:innen und Andersdenkenden fußt. Österreich machte sich zum Opfer, zum ersten von Hitler-Deutschland überrannten Land. Und alle schluckten die Lüge.

Wie weggeblasen die hysterischen Massen am Heldenplatz, die Hitler als Heilsbringer empfingen, die dem Führer mit ausgestreckten Armen hysterisch zujubelten, Hitler, dem Österreicher, der seinen beißenden Antisemitismus in Wien gelernt hatte, in der Stadt des Antisemiten Karl Lueger. Wie weggeblasen die zerschlagenen Scheiben der Pogromnacht 1938, die in Wien besonders niederträchtig war. Wie weggeblasen die 700.000 heimischen NSDAP-Mitglieder. Wie weggeblasen der oberösterreichische SS-Funktionär Ernst Kaltenbrunner. Wie weggeblasen der Linzer Adolf Eichmann. Wie weggeblasen der Holocaust, den er organisierte.

Kriegerdenkmal statt Mahnmal

Erinnern wollte sich niemand. Schon gar nicht an die Opfer des Holocaust. Österreich gedachte lieber seiner gefallenen Soldaten. Kriegsdenkmäler boomten in der Nachkriegszeit. Bis heute steht in fast jeder Gemeinde ein Stein mit den Namen der „Helden“, die für das „Vaterland“ gefallen sind.

Selbst im KZ Mauthausen, dem größten Konzentrationslager auf österreichischem Boden, erinnerte sich die junge Nation nicht an die vergasten Jüdinnen und Juden. Stattdessen verwischte sie die Spuren. Als die Panzer der US-Soldaten am 5. Mai 1945 ins Lager rollten und Mauthausen befreiten, begann die Demontage des KZs. Baracken wurden abgebaut und verkauft.

Während sich die ausländischen KZ-Überlebenden ihre erste Gedenkfeier im Jahr 1946 selbst organisierten, missbrauchte die Republik das KZ – und deutete es zu einem Ort des österreichischen Freiheitskampfes um. Ihre niedergelegten Kränze galten – ganz im Sinn der Opferlüge – den heimischen Gegner:innen des NS-Regimes.

Ein Jahr später musste die Sowjetunion Österreich zwingen, sich zu erinnern. Die Errichtung einer Gedenkstätte war Bedingung für die Übergabe der Lager-Gründe. Im Jahr 1949 wurde sie eröffnet. Der Boulevard hyperventilierte. „Was vorauszusehen war, ist nun geschehen. Mauthausen wird Schauplatz antiösterreichischer Exzesse“, schrieb etwa das ÖVP-nahe Kleine Volksblatt am 10. Mai.

Der Nestbeschmutzer Qualtinger

Für die neue Gedenkstätte interessierte sich erstmal niemand. Nach der Eröffnung – und den schäumenden Berichten der heimischen Medien – flaute die Aufmerksamkeit ab. „Es gab damals null Interesse, eine Denkmalkultur zu errichten“, sagt der Historiker Bertrand Perz zur WZ. Die Politik ignorierte den Tatort des Holocausts genauso wie das Gros der Bevölkerung. Nur die ausländischen Opfer und österreichische Kommunist:innen pilgerten jährlich zur Gedenkfeier nach Mauthausen. Das sollte sich über Jahrzehnte nicht ändern. Österreich blieb Opfer.

Als am 15. November 1961 das Fernsehstück „Herr Karl“ über die Bildschirme flimmerte, war die Nation entrüstet. Seine Autoren – die beiden Kabarettisten Helmut Qualtinger und Carl Merz – hatten gewagt, mit ihrem Protagonisten, dem Herrn Karl, einen typischen Wiener Opportunisten zu zeichnen. Es war offensichtlich: Der Herr Karl war Täter. Und das packten die Österreicher:innen nicht. Qualtinger wurde zum Nestbeschmutzer. „Die ganze Nation schrie Au!“, schrieb der Theaterkritiker Hans Weigl.

Die gekränkte Republik zog es vor, zu vergessen. Erst neun Jahre später kamen Bruchstücke der Erinnerung zurück. Im Jahr 1970 eröffnete Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ) eine Dauerausstellung im KZ Mauthausen. Sie war neben dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) die einzige zur NS-Geschichte in Österreich. Das KZ wurde zu einem Lern- und Bildungsort. Die jüngere Generation drängte. Die Kinder der Täter:innen wollten sich erinnern. Die Besucher:innenzahlen stiegen von Jahr zu Jahr. Das Bildungsministerium empfahl den Besuch Schulklassen. Das Gedenken wurde staatlich organisiert. Als Opfer sah sich Österreich noch immer.

Zum Erinnern gezwungen

1986 begann die Erzählung zu bröckeln. Acht Wochen vor der Bundespräsidenten-Wahl starteten Profil und New York Times eine Artikelserie. Ihr Thema: die Kriegsvergangenheit von Kurt Waldheim, dem Kandidaten der ÖVP. Die Öffentlichkeit diskutierte zum ersten Mal die Beteiligung Österreichs am Nazi-Regime. „Die Waldheim-Affäre war ein klarer Bruch mit der Opferthese. Die Republik konnte die Geschichtslüge nicht mehr aufrechterhalten“, sagt Ljiljana Radonić zur WZ. Die Politikwissenschaftlerin forscht zur Erinnerungskultur am Institut für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Die Waldheim-Affäre zwang Österreich zur Reflexion. Freiwillig kam nichts. Erst 1991 – 46 Jahre nach Kriegsende – stellte sich die Republik erstmals ihrer unrühmlichen Vergangenheit. „Wir bekennen uns zu allen Taten unserer Geschichten und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen“, sagte Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) am 8. Juli vor dem österreichischen Parlament. Die Opferthese war offiziell Geschichte.

Breiten Konsens fand das nicht. Noch im Jahr 2000 erklärte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) Österreich zum Opfer. „Die Nazis nahmen Österreich mit Gewalt. Die Österreicher waren das erste Opfer“, sagte er gegenüber der israelischen Zeitung Jerusalem Post.

Gedenk-Monopol Mauthausen

Die Ambivalenz spiegelte sich in der Erinnerungskultur wider. Das Gedenken an die NS-Opfer fand nicht flächendeckend statt. Es war in Mauthausen zentralisiert. Die Gräuel in den über 40 – oft nicht weniger grausamen – Außenlagern, die sich über ganz Österreich verteilten, war bis in die 90er kein Thema. Die Gemeinden versteckten ihre KZs.

Etwa in Ebensee. In der oberösterreichischen Gemeinde wurden 8.100 Menschen ermordet. Heute liegt ein Einfamilienhaus-Teppich auf dem Tatort des Holocausts. Gartenzwerge stehen hinter Thujen-Hecken. Unter Swimmingpool und Trampolin versteckte sich die Vergangenheit über Jahrzehnte. Einzig den Torbogen des Lagers konnte der KZ-Verband vor den Baggerschaufeln retten. Doch Ebensee hat die Kurve gekratzt. Trotz kompletter Verbauung des einstigen KZs gelten Gedenkstätte und Zeitgeschichtemuseum als Beispiele gelungener Erinnerungskultur. Mit Audio-Guides am Ohr spazieren Besucher:innen durch die Siedlung.

Ein Vorbild für Gusen? Im Vernichtungslager Gusen, wenige Kilometer von Mauthausen entfernt, waren 72.000 Menschen inhaftiert. Nur die Hälfte überlebte. Nach dem Krieg parzellierte die Republik das Areal und verscherbelte es als Bauland. Bis weit in die 90er wollte sie die Kosten für die Erhaltung der wenigen Überreste nicht übernehmen. 1993 wurde das Eingangsgebäude zum Wohnhaus samt Sonnenterasse. Mittlerweile hat die Republik Teile des Lagers zurückgekauft. 2025 soll mit der Realisierung einer Gedenkstätte begonnen werden.

Davon ist Leobersdorf weit entfernt. Die 2024 errichtete Stele steht am falschen Ort. Auf seinen KZ-Gründen wollte sie der Bürgermeister nicht. Wir wissen warum.


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Infos und Quellen

Gesprächspartner:innen

  • Ljiljana Radonić, stellvertretende Institutsdirektorin, Institut für Kulturwissenschaften, Österreichische Akademie der Wissenschaften

  • Ute Bauer-Wassmann, Architekturhistorikerin, Gedenkbüro Mauthausen Memorial

  • Bertrand Perz, Historiker, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

  • Andreas Baumgartner, Sozialwissenschaftler, ehemaliger Vorstand Mauthausen Komitee

  • Brigitte Halbmayr, Politologin und Soziologin, Institut für Konfliktforschung Wien

  • Gregor Holzinger, Historiker, Leitung Forschungsstelle KZ Gedenkstätte Mauthausen

  • Erich Strobl, lokale Gedenk-Initiative Hirtenberg

  • Didi Drobna, Schriftstellerin

Daten und Fakten

Quellen

Das Thema in der WZ

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