Hunderte Raketen wurden in einer Nacht auf Israel abgeschossen. Warum bleibt der angerichtete Scha- den trotzdem überschaubar?
Israel hat die besten Luftabwehrsysteme weltweit entwickelt. Hinzu kommt Unterstützung der US-Marine, französischer Kriegsschiffe und arabischer Nachbarstaaten, die keine Verletzung ihres Luftraums durch den Iran dulden. Beeindruckend ist aber vor allem das Verhalten der Zivilbevölkerung. Schon im Kindergarten lernen Kinder, wie sie bei Alarm Panik vermeiden und reagieren sollen. Seit 1992 müssen in jeden Neubau Schutzräume eingebaut werden. Die fehlen aber immer noch in vielen alten Gebäuden, es gibt keinen vollständigen Schutz. So kommt es doch zu Toten, Verwundeten und Zerstörungen. Die Betroffenen finden das dann nicht „überschaubar“.
Befürchtet wird jetzt der Ausbruch eines erweiterten Nahostkrieges. Israel wird aber schon seit Jahren von den mit Iran verbündeten islamistischen Milizen wie der Hisbollah beschossen. Wo läge da der Unterschied?
Ein Schlagabtausch kann intensiv und gefährlich werden. Jedem Schlag folgt der Gegenschlag, möglichst stärker und schneller. So geriet Israel in einen Abnutzungskrieg mit der Hamas im Gazastreifen, mit der Hisbollah im Libanon, mit den Houthis im Jemen und mit Schiitenmilizen in Irak und Syrien – alle unterstützt und gelenkt vom Iran. Die Mullah-Regierung zieht es vor, diese „Proxys“ schießen zu lassen statt selbst auf Israel zu schießen.
Ständiger Beschuss aus allen Richtungen, das zermürbt, nervt und stresst, schwächt wirtschaftlich und psychisch. Es ist Vernichtung auf Raten. In einem Krieg aber kämen alle Waffen zum Einsatz, ohne Abwarten eines Gegenschlags – es ginge nicht mehr um Verteidigung, sondern um Sieg.
Israel hat keine Grenze mit dem Iran. 2.000 Kilometer liegen dazwischen. Wie soll da ein Sieg aussehen?
Für den Iran ist die Antwort klar. „Israel muss vernichtet werden“, skandieren Massen jeden Freitag in Teheran. Und sie meinen, was sie rufen, aber ohne sichtbaren Erfolg. Für Israel ist die Antwort keineswegs klar: Premier Netanjahu spricht von der „Zerschlagung der Hamas“ und von der „Rückkehr aller Evakuierten in ihre Häuser“.
Fazit: Beide Seiten blieben demnach bislang erfolglos. Die Hamas ist militärisch kaum noch einsatzfähig. Sie herrscht aber weiter im Gazastreifen. Keine internationale Hilfe erreicht die Bevölkerung, ohne dass die Hamas daraus Profit schlägt. Israels Evakuierte im Süden kehren – wenn überhaupt – nur zögernd zurück. Im Norden bleiben die Grenzorte unter Beschuss und weiter geräumt.
Also Krieg auf ewig? Wie kann es weitergehen?
Krieg gilt weltweit als „eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Hier aber fehlt die Politik. Netanjahu vermied in seiner Amtszeit politische Vereinbarungen mit der palästinensischen Führung in Ramallah, das erschwert ein Abkommen mit der Hamas im Gazastreifen. Dabei sollte es um die Befreiung der 2023 entführten Israelis gehen, der eine langfristige Kampfeinstellung folgen soll. Für Hamas-Führer Jechije Sinwar wäre das nicht unbedingt wünschenswert. Er hat zwar kaum noch Kämpfer, Krieg gegen Israel ist für ihn aber Selbstzweck. Ein Krieg, der ganz Nahost umfasst, wäre daher keine Drohung, sondern Wunschtraum.
Netanjahu ist mitverantwortlich für das Versagen vor einem Jahr, als die Hamas 1.200 Menschen ermordete und 220 verschleppte. Müsste er nicht alles tun, um die Geiseln zu befreien?
Netanjahu argumentiert: Nur militärischer Druck kann die Hamas zu einem Abkommen zwingen. Darum lehnt er ein Abkommen mit Kampfeinstellung ab. Die Angehörigen der Geiseln werfen ihm aber vor, mehrfach aussichtsreiche Abkommensvorschläge verhindert zu haben – und somit letztlich auch den Austausch der Verschleppten mit Hamas-Strafgefangenen in israelischer Haft. Und: Militärischer Druck auf die Hamas kann auch die Tötung von Geiseln verursachen. Von 220 Verschleppten sollen nur noch 101 leben, wahrscheinlich weniger.
Zudem würde einem Ende der Kämpfe eine Untersuchung des politischen und militärischen Versagens vor dem 7. Oktober 2023 in Israel folgen. Ein Kampfende kann also für Benjamin Netanjahu das Amtsende bedeuten. Von daher kommt auch der Vorwurf der Geiselfamilien: Für Netanjahu ist die Befreiung der Geiseln einfach kein Ziel mehr.
Warum beharren die USA weiter auf Verhandlungen und einem Abkommen?
Ein Abkommen mit nachfolgender Beendigung der Kämpfe mit der Hamas im Gazastreifen könnte auch die Kämpfe im Südlibanon beenden. Nur nach einer Waffenruhe im Süden will die Hisbollah ihre Angriffe auf Israel einstellen. Was eine Mehrheit in Israel aber ablehnt. Ohne völlige Ausschaltung der Hisbollah und des Einflusses der Mullah-Regierung befürchtet sie ein Zurück in den Abnutzungskrieg – und in einen Alltag unter ständiger Bedrohung.
Was kann jetzt noch passieren?
Der Schlagabtausch geht weiter. Mit einem direkten Schlag Israels gegen den Iran. Nach dem letzten iranischen Raketenangriff im April zerstörte Israel modernste russische S-300 Luftabwehrstellungen neben der Anlage für Uran-Anreicherung in Natanz. Diesmal könnte es ein direkter Angriff auf Natanz sein. Bislang galt die unterirdische Anlage als unzerstörbar.
Möglich wären aber auch Angriffe gegen die das Mullah-Regime finanzierende Ölförderung. Attacken auf zivile Infrastruktur wie Stromwerke oder Wasserversorgung wurden von Israel bislang vermieden, wären aber möglich. Der Iran drohte noch vor dem Angriff in der Nacht zum Mittwoch „mit noch härteren Gegenangriffen“ – sollte Israel mit Gegenangriffen reagieren. Klingt verworren – im Klartext könnte es aber so verstanden werden: Der Schlagabtausch kann weitergehen. Krieg muss nicht unbedingt sein.