Die Besetzung von Bosnien-Herzegowina durch die Habsburgermonarchie kann als Versuch gesehen werden, das Gebiet zu kolonisieren. Es gibt aber auch Argumente, die dagegensprechen.
„Die Europäer nehmen die Welt in Besitz“, heißt das Kapitel über Kolonialismus im Schulbuch „Mehrfach Geschichte“. Österreich wird im Text nicht erwähnt und das Habsburgerreich nicht auf der Karte eingezeichnet. Die Rede ist von Seemächten, wie England, Spanien oder Portugal. Einige Seiten später wird behauptet, „Österreich-Ungarn hatte keine Kolonien in Außereuropa, sah aber den Balkan in Südosteuropa als sein Einflussgebiet an.“ Was da in einem nüchternen Halbsatz abgehandelt wird, war in Wirklichkeit aber die Besetzung eines Landes mit blutigem Widerstand und eine Ausbeutung von Bodenschätzen über Jahrzehnte hinweg. Aber kann man deshalb Bosnien-Herzegowina als österreichische Kolonie bezeichnen?
Im 19. Jahrhundert gelten Bosnien-Herzegowina und der gesamte Balkan als Unruheregion. Das führt 1878 dazu, dass die europäischen Großmächte (Deutsches Reich, Österreich, Russland, Frankreich, Großbritannien, Italien und das Osmanische Reich) in Berlin zusammenkommen und sich darauf einigen, dass Österreich-Ungarn das Gebiet zugesprochen wird. Die Habsburger besetzen das Land, das weiterhin staatsrechtlich und völkerrechtlich osmanisch bleibt.
Besetzung mit europäischem Mandat
„Das ist der große Unterschied zu anderen Besetzungen in der Geschichte“, sagt die Historikerin Tamara Scheer zur WZ. „Die Besetzung ging von einem europäischen Mandat aus. Das bedeutet, Österreich-Ungarn hat das Recht dazu, aber es wird auch von ihnen erwartet, dass sie das machen. Dass Wien möglichst viel Militär schickt, damit Ruhe ist.“ Scheer würde Bosnien-Herzegowina nicht als klassische Kolonie bezeichnen, trotzdem sprechen einige Argumente dafür. „Es gab durchaus private Interessensvereine, die gern gesehen hätten, dass auch Österreich-Ungarn Kolonien hat“, sagt die Historikerin. „Heute würde man sagen, NGOs aus Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft wollten damals, dass Bosnien-Herzegowina als Kolonie verwendet werden sollte“, zitiert Scheer die Quellen. Die hätten sich aber nicht durchgesetzt. „In der Staatsverwaltung ist das Wort ,Kolonie‘ nicht verwendet worden.“
Austausch der Verwaltung
Die Besetzung stößt auf Widerstand in der Bevölkerung. Vielerorts kommt es zu blutigen Auseinandersetzungen. In der Zeit der militärischen Besatzung wird jegliches osmanische Personal, das für die Verwaltung zuständig ist, ersetzt. Mit Ausnahme der untersten Ebene, den Bürgermeistern. Abertausende Beamte unterschiedlichster Nationalitäten aus dem Habsburgerreich kommen mit ihren Familien und werden Richter oder Marktamtaufseher. „Das passt zu einer Kolonie“, sagt Scheer. „Es war eine Mischkulanz aus Misstrauen und Rassismus.“
Das wandelt sich aber über die Jahrzehnte. Österreich-Ungarn pfropft Bosnien-Herzegowina sein Verwaltungs- und Rechtssystem auf. Amtssprache: neben der Landessprache auch Deutsch. Das Volksschulwesen, die Matura als Bedingung, um Beamter zu werden, und nur wenige Jahre nach der Besetzung wird die Wehrpflicht eingeführt, obwohl Bosnier und Herzegowiner noch osmanische Untertanen sind. Relativ rasch werden dann Einheimische zu Offizieren. „Das spricht wiederum gegen die Definition einer Kolonie“, sagt Scheer. „Die Bevölkerung wird innerhalb des Systems gleich behandelt. In Böhmen wie in Bosnien, Krakau oder Tirol.“
Es geht auch um Bosniens Bodenschätze
Dem Habsburgerreich ging es bei der Besetzung auch um Bodenschätze. Große Forstgesellschaften werden gegründet und viel Holz aus Bosnien exportiert oder Tabakplantagen bewirtschaftet. „Es wurde viel investiert, aber nicht uneigennützig“, sagt Scheer. Aus den Quellen gehe klar hervor, dass die Infrastruktur nicht zum Wohl der Bevölkerung verbessert wurde, sondern um selbst Gewinne zu erzielen, während man sich nach außen als Modernisierer des Landes gab.
Wer schreibt die Geschichte eines Landes?
Der wissenschaftliche Diskurs, ausgehend von den Kulturwissenschaften, die die Postcolonial Theory (Erklärung siehe Infos&Quellen) auch auf Bosnien-Herzegowina anwenden, bringt weitere Argumente, warum Bosnien eine österreichisch-ungarische Kolonie war. Wer hat die Geschichte dieser Länder, die Kolonien waren, geschrieben? Das waren hauptsächlich die Länder, die ihre Herrscher waren. Und das bis lang nach dem Zweiten Weltkrieg – bis heute. Die Geschichte, die über Bosnien-Herzegowina gelehrt wird, ist nicht eine von Bosnien-Herzegowina selbst geschrieben.
Das sieht man auch, wenn man die Geschichtsbücher in der Schule aufschlägt. Darin wird die Besetzung und Annexion Bosnien-Herzegowinas nicht als Form einer Kolonie dargestellt, sondern blumig umschrieben: „Österreich-Ungarn konnte sein Gebiet am Balkan ausweiten“ oder die Habsburgermonarchie war „besonders erfolgreich“, zur „Großmacht geworden“, konnte „große Gebietsgewinne erzielen“, „sah den Balkan als sein Einflussgebiet an“. Das klingt fast so, als hätte sich das natürlich ergeben, ohne Kämpfe, Blut und Ausbeutung.
Die Geschichtsbücher haben eine veraltete Brille auf. „Das Schulbuch hat eine stark deutsch-christlich zentrierte Sichtweise“, sagt Tamara Scheer. „Österreich war nie so homogen wie zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den 1970er-Jahren. Nur in dieser kurzen Zeitspanne war Österreich so deutschsprachig und katholisch“, argumentiert Scheer.
Eine Kolonie „light“
Die Literaturwissenschaften führen das Konzept des „Othering“ als Argument an, das Bosnien zu einer Kolonie macht. Das bedeutet, wenn etwa k.u.k.-Offiziere in andere Länder versetzt werden und in ihren Tagebüchern die Bevölkerung und die Kultur abwerten und als „anders“ und „fremd“ darstellen. Das war in Bosnien-Herzegowina der Fall. Die Historikerin Scheer gibt aber zu bedenken, dass in einem Vielvölkerreich das Othering schon innerhalb des Reiches stattfinde. „Wenn etwa ein böhmischer Offizier nach Galizien versetzt wird, schreibt der auch, wie schmutzig und rückständig es da ist“, sagt Scheer. „Nach der Lektüre von hunderten Tagebüchern kann ich sagen, dass Bosnien-Herzegowina besser wegkommt als Galizien.“
Wenn man aber vergleiche, wie etwa Deutsche über ihre Kolonien in Afrika schreiben, dann sei das Ausmaß der Abwertung nicht vergleichbar, sagt Scheer. Für die Historikerin sind viele Argumente der Postkolonial Theory schlüssig, „ich würde Bosnien-Herzegowina aber nicht in einem Atemzug mit den afrikanischen Kolonien nennen“, so die Historikerin.
Die Antwort der Wissenschaftlerin auf die Eingangsfrage lautet also „Jein“. Bosnien war im Vergleich zu den klassischen Kolonien dieser Zeit maximal eine „Kolonie light.“ Trotzdem sei es wichtig, diese Debatte österreichischen Schüler:innen zuzutrauen, sagt Scheer. Allein schon, weil es so in Schulklassen mit Schüler:innen mit österreichischen, bosnischen und türkischen Wurzeln mehr Anknüpfungspunkte an ihre gemeinsame Geschichte gebe.
Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen, dir ist ein Fehler aufgefallen oder du hast Hinweise für uns – sag uns deine Meinung unter [email protected]. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.
Infos und Quellen
Genese
WZ-Trainee Isabel Frahndl und WZ-Redakteurin Anja Stegmaier nahmen sich diverse Geschichtsbücher vor und suchten darin nach Österreichs Rolle im Kolonialismus. Ergebnis: nicht vorhanden oder falsch dargestellt. Diesem Missstand gingen sie mit Expertinnen nach und konfrontierten das Bildungsministerium damit. Anja Stegmaier nahm sich in Folge das Wording in den Geschichtsbüchern zum Thema „Ausweitung des Habsburgerreichs“ vor. Ergebnis: ziemlich veraltet und aus Sicht der Siegermacht dargestellt. Mit einer Historikerin rollte sie dieses Kapitel der Geschichte auf und suchte nach anderen Sichtweisen.
Gesprächspartnerin
Tamara Scheer ist Historikerin, lehrt und forscht an der Universität Wien mit Schwerpunkt Geschichte der Habsburgermonarchie und Zentraleuropas vom langen 19. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert. Sie ist aktuell auch Projektleiterin am Institut für Bibelwissenschaften und historische Theologie der Universität Innsbruck.
Daten und Fakten
-
Im 9. Jahrhundert bildeten sich die ersten Fürstentümer der Serben und Kroaten heraus, die Teile Bosniens einschlossen. Im 12. Jahrhundert entstand das erste weitgehend autonome Fürstentum in Bosnien.
-
Bosnien gerät 1463 unter Osmanische Oberherrschaft. Knapp zwei Jahrzehnte später wird auch die Herzegowina erobert. Innerhalb weniger Jahrzehnte nehmen große Teile der Bevölkerung, darunter viele Adelige, den Islam an. Im 16. und 17. Jahrhundert geben Muslime in Politik und Kultur den Ton an.
-
Die Habsburgermonarchie wird auch Habsburgerreich oder Donaumonarchie genannt. Sie war eine zusammengesetzte Monarchie und bestand aus einem Länderkomplex. Der Kaiser regierte von Wien aus. Die unterschiedlichen Territorien waren aber grundsätzlich unabhängig voneinander und nur durch den gemeinsamen Monarchen miteinander verbunden.
-
Das Herrschaftsgebiet wurde durch Erbschaft und Eroberungen zusammengebracht. Im Kern waren das die habsburgischen Erblanden, die Länder der böhmischen und der ungarischen Krone, ein Großteil der ehemals burgundischen Niederlande und Teile Italiens, wie die Herzogtümer Mailand und Toskana. Aus dem Kaisertum Österreich entstand nach dem so genannten Ausgleich von 1867 in Form einer Doppelmonarchie die österreichisch-ungarische Monarchie. Franz Joseph I. regierte den aus dem österreichischen und dem nunmehr gleichberechtigten ungarischen Reichsteil bestehenden Vielvölkerstaat in Realunion als Kaiser und König. Daher leitet sich für diese Zeit auch die Bezeichnung k. u. k. Monarchie ab.
-
Bosnien-Herzegowina war bis 1878 (Ermächtigung vom Berliner Kongress) Teil des Osmanischen Reichs und wurde daraufhin von der k.u.k. Monarchie besetzt, was vielerorts zu blutigen Auseinandersetzungen mit der Bevölkerung führte. Das Gebiet wurde vom gemeinsamen Finanzministerium verwaltet. 1908 annektierte die Donaumonarchie Bosnien-Herzegowina, was zur bosnischen Annexionskrise führte. Denn die Annexion richtete sich nicht nur gegen das Osmanische Reich, sondern auch gegen das unabhängige Fürstentum Serbien, das versuchte, alle Südslawen in einem Staat zu einen.
-
Die Annexion führte zu wütenden Protesten im Osmanischen Reich, in Serbien sowie in Russland. Infolge der akuten Kriegsgefahr im Zuge der Annexionskrise sahen Nationalisten aller Schattierungen die Chance auf Durchsetzung ihrer nationalstaatlichen Ideen näher rücken, während die deutschen Österreicher über die weitere Slawisierung Österreich-Ungarns klagten. Die Annexion hatte innenpolitisch also großen Unfrieden geschaffen und der Nationalismus der Völker war aggressiver statt schwächer geworden. Am 26. Februar 1909 einigten sich das Osmanische Reich und das Habsburgerreich darauf, dass die Österreicher 50 Millionen Kronen zahlten und ihre Truppen komplett aus dem Sandschak Novi Pazar zurückzogen. Das Osmanische Reich erkannte daraufhin die Annexion an.
-
Obwohl ein europäischer Krieg noch vermieden werden konnte, ist die Annexionskrise als wichtiger Schritt auf dem Weg zum Ersten Weltkrieg anzusehen. Beim Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 wurden der Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Frau bei ihrem Besuch in Sarajevo von Gavrilo Princip, einem Mitglied der serbisch-nationalistischen Bewegung Mlada Bosna (Junges Bosnien), ermordet. Das von der serbischen Geheimgesellschaft Schwarze Hand geplante Attentat in der bosnischen Hauptstadt löste die Julikrise aus, die schließlich zum Ersten Weltkrieg führte.
-
Nach der Niederlage Österreich-Ungarns und der mit ihm verbündeten Mittelmächte im Ersten Weltkrieg löste Franz Josephs Nachfolger, Kaiser Karl I. am 31. Oktober 1918 die Realunion auf. Die meisten nichtdeutschen und nichtmagyarischen Völker nutzten die absehbare Niederlage der k.u.k. Armee dazu, neue, unabhängige Staaten zu bilden. Kaiser Karl verzichtete am 11. November 1918 auf die Teilhabe an den Regierungsgeschäften. Am Tag darauf wurde in Deutschösterreich die Republik ausgerufen. Damit fand die über 640-jährige Herrschaft des Hauses Habsburg ihr Ende.
-
Zu den Zielen der neueren Kolonialgeschichte gehört es nicht nur, Gewalt, Zwangsarbeit und Rassismus in den ehemaligen Kolonien aufzuarbeiten, sondern auch das Wirken derer, die sich Kolonialherrschaft entgegenstellten. Die Postkoloniale Theorie verschärfte zudem den Blick für ihre Langzeitfolgen. Welche Gegenerzählungen zur westlichen Kolonialgeschichte gibt es, die im Kampf um „historische Wahrheiten“ häufig an den Rand gedrängt wurden? Was kennzeichnet die Grundbegriffe „Kolonialismus“ und „Postkolonialismus“? Wie wirkt das koloniale Zeitalter in ehemaligen Kolonialstaaten und anderen Gesellschaften nach?
-
Beim Konzept des „Othering“ hebt man sich selbst bzw. sein soziales Image positiv hervor, indem man Andere in bestimmter Hinsicht abwertet. In dieser Differenzierung liegt potenzielles hierarchisches und stereotypes Denken, um seine eigene Position zu verbessern und als richtig darzustellen. Je deutlicher die Abgrenzung hervorgehoben wird, desto einseitiger und unrealistischer werden „die Anderen“ wahrgenommen.
-
Bei einer Okkupation oder Besetzung wird in einem bevölkerten Gebiet die vorhandene Gebietshoheit durch einen externen Machthaber auf dessen Initiative durch die seinige ersetzt. Dies geschieht meist mit militärischen Mitteln wie zum Beispiel einer Invasion. Daneben wird im Völkerrecht auch die Besetzung eines herrenlosen Gebietes durch eine Staatsmacht als Okkupation bezeichnet. Bei Einsatz von militärischer Gewalt und einer dauerhaften Integration des betroffenen Territoriums in den eigenen Herrschaftsbereich wird eine Okkupation als Eroberung bezeichnet.
-
Annexion bezeichnet die gewaltsame, völkerrechtswidrige Aneignung eines Gebietes, das zuvor einem anderen Staat gehörte.
-
Das Osmanische Reich entstand Anfang des 14. Jahrhunderts als regionaler Herrschaftsbereich im nordwestlichen Kleinasien. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung im 17. Jahrhundert erstreckte es sich von seinen Kernlanden Kleinasien und Rumelien nordwärts bis in das Gebiet um das Schwarze und das Asowsche Meer, westwärts bis weit nach Südosteuropa hinein. Jahrhundertelang beanspruchte das Osmanische Reich politisch, militärisch und wirtschaftlich eine europäische Großmachtrolle neben dem Heiligen Römischen Reich, Frankreich und England. Im Laufe des 18. und vor allem im 19. und 20. Jahrhundert erlitt das Reich in Auseinandersetzungen mit den europäischen Mächten sowie durch nationale Unabhängigkeitsbestrebungen erhebliche Gebietsverluste. Der Erste Weltkrieg führte innerhalb weniger Jahre zum Ende der vier großen Monarchien der Hohenzollern, Habsburger, Romanows und Osmanen.
-
Galizien ist eine historische Landschaft im Süden Polens und Westen der heutigen Ukraine. 1772 fiel Galizien und andere Teile in der Region an die Habsburgermonarchie. 1804 wurde Galizien integraler Bestandteil des neuen Kaisertums Österreich. Infolge des Österreichisch-Ungarischen Ausgleichs 1867 wurde auch Galizien größere Autonomie eingeräumt. Die gesamte Bevölkerung besaß die einheitliche österreichische Staatsbürgerschaft mit gleichen Rechten und Pflichten, alle Ethnien und Religionen waren offiziell gleichberechtigt.
Quellen
-
Schulbuch: Mehrfach Geschichte, Veritas Verlag 2014, 7. Auflage 2023
-
Buch: Tamara Scheer und Clemens Ruthner: Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn 1878-1918, Annäherungen an eine Kolonie, Narr Verlag 2018