Nur 82 Prozent der Zwei- bis Vierjährigen in Österreich sind vollständig gegen die Kinderlähmung geimpft. Damit sich die Krankheit nie wieder ausbreiten kann, müssen es 95 Prozent sein. Sonst hat die Infektion auch hier wieder eine Chance.
Für den sechsjährigen Buben kam es wie ein Schlag: Plötzlich verlor er die Kraft in der rechten Hand. Herbert Winter konnte nichts halten, nichts heben, nicht spielen. Wenige Tage später bekam er zusätzlich kaum noch Luft. Er musste ins Krankenhaus. Dort besserten sich zwar die Atembeschwerden, die Gesamtlage aber keineswegs. „Auf einmal konnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich war vom Hals bis zur kleinen Zehe gelähmt“, beschreibt der Jurist seine Infektion mit der Kinderlähmung, die ihn als Bub ein halbes Jahr lang ans Bett fesselte. Nur langsam nahmen die Symptome ab. „Als die Ganzkörper-Lähmung endlich vorbei war, musste ich wieder gehen lernen“, sagt er zur WZ. Das war im Jahr 1953, als die Kinderlähmung sich verbreitete. Damals kannte nahezu jeder Mensch jemanden, der Kinderlähmung hatte oder gehabt hatte.
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Heute gilt die Krankheit als Schreckgespenst der Vergangenheit. Zu verdanken ist dies einem weltweiten Impfprogramm der Weltgesundheitsorganisation WHO, im Rahmen dessen die Schulkinder eine Schluckimpfung bekamen. In der westlichen Welt gilt die Infektion, die im Fachbegriff Polio oder Poliomyelitis heißt, mittlerweile als ausgerottet. Die schrecklichen Symptome sind den meisten Menschen nicht mehr präsent.
Doch ausgerottet ist die Kinderlähmung nicht überall auf der Welt. Polio existiert nach wie vor in Ländern mit schlechten hygienischen Bedingungen. In seinem jüngsten Epidemiologischen Bulletin vermeldet das deutsche Robert-Koch-Institut (RKI) für 2023 weltweit 596 Infektionen. Schuld ist ein immer noch niedriger Immunitätsstatus bei manchen Bevölkerungen. Als gefährdete Länder, in denen sich das Poliovirus wieder verbreiten könnte, nennt das RKI mit Stand Jänner 2024 Ägypten, Äthiopien, Dschibuti, Eritrea, Gambia, Ghana, Großbritannien und Nordirland, Kanada, Mauretanien, Senegal, Togo, Uganda, Ukraine – und die USA, wo das Virus 2022 eingeschleppt wurde und sich vom Bundesstaat New York bis nach New York City verbreitete.
Ein besonders heimtückisches Virus
„Polio ist noch nicht vollständig ausgerottet. Es fehlt leider noch der letzte Schritt zur weltweiten Eradikation“, sagt Birgit Prochazka, Leiterin der Nationalen Referenzzentrale für Polioviren der Agentur für Ernährungssicherheit (Ages), zur WZ. Erstens kursiert von den drei Wildtypen immer noch einer. Zweitens verbreiten sich nach wie vor zwei Stämme namens cVDPV1 und cVDPV2, die von der Schluckimpfung mit abgeschwächten, lebenden Impfviren abgeleitet sind. Da diese abgeschwächten Viren über Wochen im Körper verbleiben, können sie mutieren und unzureichend geimpfte Personen befallen.
„Dabei ist zu bedenken, dass symptomatische Poliomyelitis-Fälle nur einen Bruchteil des Infektionsgeschehens anzeigen, da nur eine von rund 200 Infektionen zu Lähmungen führt“, heißt es vonseiten des RKI. Das heißt, dass die restlichen 199 Infektionen symptomfrei verlaufen. Auf diese Weise bleibt das Poliovirus unsichtbar und verbreitet sich auf heimtückische Weise unbemerkt.
Jede Seuche nur eine Flugverbindung entfernt
Wie schnell eine Seuche sich ihren Weg um den Erdball bahnt, hat Corona vor Augen geführt. Ende 2019 wurde bekannt, dass sich eine neue Krankheit in der zentralchinesischen Stadt Wuhan verbreitete. Schon im Jänner 2020 hatte Covid-19 Europa erreicht, Mitte März folgten Lockdowns zur Pandemiebekämpfung.
Da heute jeder Fleck auf der Erde nur eine Flugverbindung entfernt ist, könnte auch die Kinderlähmung wieder in unsere Breiten eingeschleppt werden. „Europa ist seit der breiten Impfkampagne seit 2002 poliofrei. Allerdings zirkuliert in Pakistan und Afghanistan weiterhin das Wildvirus Typ 1, womit ein Risiko besteht, dass es auch hierher zurückgebracht wird“, sagt Piotr Kramarz, Forschungsleiter des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten: „Solange in Europa ungeimpfte oder nur teilgeimpfte Bevölkerungsgruppen existieren, besteht das Risiko, dass das Virus zurückkehrt. Um eine Wiedereinführung und nachhaltige Verbreitung dieser hochansteckenden Krankheit zu verhindern, ist es unabdingbar, eine hohe Impfquote in Europa aufrecht zu erhalten und in wenig immunisierten Bevölkerungen zu erreichen“, sagt Kramarz zur WZ.
In Österreich zu wenige Kinder geimpft
Ist Österreich vorbereitet? Die kurze Antwort ist nein.
Um eine Ausbreitung von Polio zu verhindern, müssen 95 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sein, also im Säuglings- und Kleinkindalter eine komplette Grundimmunisierung mit drei Impfdosen und dann im Alter von zehn bis elf Jahren mindestens eine Auffrischimpfung erhalten haben. Danach sollte noch eine zweite Auffrischimpfung bis zum Alter von 16 Jahren erfolgen.
Laut dem Kurzbericht Polio 2023 des Gesundheitsministeriums erreicht unser Land die nötigen 95 Prozent nicht. Im Gegenteil: 32 Prozent oder ein Drittel der 2022 geborenen Kinder hatten bis zum Ende ihres ersten Lebensjahres bloß zwei von drei Dosen bekommen. Weiters waren acht Prozent der Zwei- bis Vierjährigen überhaupt nicht gegen die Kinderlähmung geimpft und hatten zehn Prozent in dieser Altersgruppe bloß die erste Teilimpfung erhalten. Zusammengezählt „lag bei den Zwei- bis Vierjährigen die Durchimpfungsrate mit drei Dosen bei 82 Prozent“, heißt es im Kurzbericht Polio.
Allerdings handelt es sich bei den Zahlen nur um Hochrechnungen, die die Technische Universität Wien unter anderem auf der Basis von Daten der Pharmafirmen zu verkauften und nicht verbrauchten Impfdosen erstellt. Die echte Durchimpfungsrate bei Polio kennt das Gesundheitsministerium, ebenso wie bei Masern oder Keuchhusten, nicht. „Derzeit besteht nach den gesetzlichen Rahmenbedingungen eine Eintragungspflicht im e-Impfpass nur in Hinblick auf Impfungen gegen Covid-19, Influenza, Mpox und HPV“, heißt es aus dem Gesundheitsressort. Eine Erweiterung der Eintragungspflicht auf weitere Impfungen sei „schrittweise geplant“.
Lückenhafte Dokumentation der Impfquote
Eine vollständige Dokumentation dessen, wie gut Österreichs Bevölkerung gegen Infektionskrankheiten geimpft ist, wäre also nur dann zu haben, wenn alle Österreicher:innen auf ihren gelben Impfpass in der Schreibtischlade schauen und die Daten einer zentralen Stelle durchgeben würden. So aber kennt niemand die echte Quote.
Das Poliovirus befällt in erster Linie Kinder. Es gehört zur Gruppe der Enteroviren, die sich im menschlichen Darm vermehren und über den Stuhl und Körperflüssigkeiten ausgeschieden werden. Die Inkubationszeit beträgt bis zu 30 Tage. Wäre niemand geimpft, würde eine infizierte Person fünf bis sieben weitere anstecken.
Polio befällt Nervenzellen, kann eine Entzündung im Gehirn auslösen und zerstört Motoneuronen im Rückenmark, was zu den Lähmungen der Gliedmaßen und Atemwege führen kann. Früher mussten Patient:innen mit Atemwegslähmungen eine Eiserne Lunge benutzen − eines der ersten klinischen Geräte, das eine maschinelle Beatmung eines Menschen ermöglichte. Dabei liegt der Körper bis auf den Kopf komplett in einem Hohlzylinder. Das Gerät schließt am Hals luftdicht ab und erzeugt einen Unterdruck. Dadurch drückt der Umgebungsdruck Luft durch die Nase und den Mund in die Lungen. Die Ausatmung erfolgt durch den Aufbau eines Überdrucks in der Kammer. Viele Polio-Patient:innen benötigten die Eiserne Lunge in der Akutphase bis zum Wiedereinsetzen der Muskelfunktion. Andere Patient:innen benutzten sie nur über Nacht, andere ständig.
Folgeerscheinungen später im Leben
Herbert Winter blieb dieses Schicksal erspart. Nach dem Ende seiner Infektion lebte er ein normales Leben. Er nahm in der Schule am Turnen teil, studierte, heiratete, gründete eine Familie. Das Einzige, was ihn an die Kinderlähmung erinnerte, war seine schwächere rechte Hand. Jetzt aber, Jahrzehnte danach, laboriert er an Folgeerscheinungen. Postpolio-Syndrom nennen sich die Symptome von Müdigkeit, Muskel- und Gelenkschmerzen und Muskelschwächen. „Das Virus greift die Nervenverbindungen im Körper an und zerstört die Verbindungen vom Gehirn zur Muskulatur. Der Körper kann all dies ausgleichen, indem verbliebene gesunde Nervenverbindungen die Arbeit übernehmen, aber irgendwann sind auch sie erschöpft“, erklärt der Mitbegründer des Vereins Selbsthilfe Polio, der die Interessen ehemaliger Erkrankter vertritt, deren Zahl er österreichweit auf etwa 5.000 schätzt.
„Viele jüngere Menschen haben nicht die geringste Ahnung, was Polio ist“, sagt Winter. „Während früher die ganze Klasse zur Schluckimpfung angetreten ist, sehen heute immer mehr Eltern die Notwendigkeit nicht.“ Zur Erinnerung: Nur 82 Prozent der Zwei- bis Vierjährigen in Österreich sind mit drei Dosen vollständig gegen Polio grundimmunisiert. Damit sich die Kinderlähmung nie wieder ausbreiten kann, müssen es 95 Prozent sein. Ansonsten hat die scheußliche Infektion wieder eine Chance.
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Infos und Quellen
Genese
Im Sommer gab es im Kriegsgebiet Gaza Fälle von Polio. WZ-Redakteurin Eva Stanzl fragte sich, ob das auch in Österreich möglich wäre.
Gesprächspartner:innen
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Herbert Winter erkrankte als Kind im Alter von sechs Jahren an Polio. Der Jurist ist Mitbegründer der Selbsthilfegruppe Polio + Post Polio Syndrom in St. Pölten.
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Birgit Prochazka leitet die Nationale Referenzzentrale für Polio der Agentur für Ernährungssicherheit (Ages) in Wien.
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Piotr Kramarz ist stellvertretender leitender Wissenschaftler am Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC).
Daten und Fakten
Noch im Jahr 1955 erkrankten in Österreich 1.018 Personen an der Kinderlähmung, von denen 926 an der Infektion verstarben. Dank eines weltweiten Impfprogramms der Weltgesundheitsorganisation WHO zur Eradikation von Polio ab 1961 konnte die Viruserkrankung aber zurückgedrängt werden. In Österreich gab es den letzten Fall im Jahr 1980. Im Jahr 1982 erklärte die Weltgesundheitsorganisation WHO die Kinderlähmung für ausgerottet. Danach wurden Kinder zwar weiter geimpft, aber die Kampagne gestoppt.